Die Entschädigung der Opfer der “Faschismen” in Österreich, Frankreich, Deutschland und Italien

Die Entschädigung der Opfer der “Faschismen” in Österreich, Frankreich, Deutschland und Italien

Veranstalter
Deutsch-italienisches Zentrum "Villa Vigoni", Giovanna D'Amico
Veranstaltungsort
Villa Vigoni - via Giulio Vigoni 1 - 22017 Loveno di Menaggio (CO) -Italien
Ort
Loveno di Menaggio (CO)
Land
Italy
Vom - Bis
07.10.2010 - 10.10.2010
Website
Von
Giovanna D'Amico

Seit rund zehn Jahren erlebt das Thema der „Wiedergutmachung“ (it. riparazioni) eine Konjunktur in allen europäischen Ländern, die faschistische Regime erfahren und erlitten haben, sei es, dass diese autochthon waren, sei es, dass faschistische Diktaturen in Folge der militärischen Niederlage gegen die Achsenmächte errichtet wurden. Auch gilt, daß die Debatte sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der allgemeinen öffentlichen Meinung zunehmend international ausgeweitet wird und unter dem Stichwort vom „historischen Unrecht“, das in irgendeiner Weise wieder gut zu machen sei, in unterschiedlichsten Kontexten weltweit diskutiert wird.

In dem geplanten Arbeitsgespräch in der Villa Vigoni stehen vier Länder-Fallstudien im Fokus. Dabei ist zunächst allgemein festzuhalten, dass die Probleme, die sich bei der Definition von „Opfer“ (d.h. dem Adressaten von Wiedergutmachung) ergeben, zurückgehen auf die Kategorien, die die westlichen Alliierten (v.a. USA und Großbritannien) spätestens ab 1943 herausgearbeitet haben, als sie sich mit der Frage der Rehabilitierung und Entschädigung der durch den Nationalsozialismus und die anderen Faschismen Verfolgten auseinanderzusetzen begannen. Im Gebiet der späteren Bundesrepublik griffen sie unmittelbar selbst durch Gesetze ein; in den anderen Ländern übten sie mehr oder weniger starken Druck aus: Die Regierungen sollten Vorschriften zur Wiedergutmachung gegenüber den zuvor Verfolgten erlassen und die entsprechenden Gesetze sollten tunlichst den von den Alliierten vorgegebenen Direktiven folgen. Die „Opfer-Typologie“, die auf diese Weise zustande kam, reflektierte nachdrücklich die Tatsache, dass die „Täter“ auf Seiten der im Krieg geschlagenen gegnerischen Regimes ausgemacht wurden, jedoch nicht in den befreundeten Ländern oder bei solchen, die man, zumindest damals, zum eigenen Lager gehörig erachtete. Es ist evident und bekannt, dass es sich dabei um ein Problem von erheblicher Tragweite handelt: Nicht zuletzt die mühselige Debatte der UN über die juristische Definition des Begriffs „Völkermord“ macht dies deutlich. Der 1946 vereinbarte Text (Erlass UNO 96-I vom 11. Dezember) weicht in einem wichtigem Punkt von dem später verabschiedeten Text von 1948 (Erlass UNO 260-III vom 9.Dezember) ab: Auf ausdrücklichen Wunsch der polnischen Delegation, die allerdings realiter im Auftrag der ganzen Gruppe der östlichen Länder agierte (und zum erheblichen Leidwesen von Rafael Lemkin), wurden „politischen Gruppen“ als mögliche Opferkategorie der Vernichtungspolitik herausgenommen.

Aus der Gesetzgebung in den westlichen Besatzungszonen wird ersichtlich, wie die Alliierten die Kategorie „Opfer“ verstanden. Zunächst zielte man auf die Wiedergutmachung/Entschädigung gegenüber Juden, politischen Oppositionellen, Zigeunern und Personen, die aufgrund nationaler Zugehörigkeit verfolgt worden waren. Zu diesen Kategorien gehörten andere NS-Verfolgte nicht. Erst in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts begann man in Deutschland, über diese zunächst nicht beachteten Opfer zu sprechen (Homosexuelle, Zwangsarbeiter, Personen, die in den Konzentrationslagern für diverse Experimente missbraucht worden waren, usw.). Auch im Aufarbeitungs- und Wiedergutmachungsdiskurs bildet sich also so etwas wie eine „Opferhierarchie“ mit Opfern erster und zweiter Klasse ab. Der Druck seitens der Verbände, die die „II.-Klasse-Opfer“ vertreten, ein verändertes historisches Bewusstsein und auch eine neue Sensibilität in den Medien, wie sie sich im Laufe der Zeit herausgebildet hatten, haben dazu geführt, dass sich die ursprünglichen Konzepte und Kategorien erheblich gewandelt haben. Peu à peu sind weitere Personengruppen, die spezifischen Diskriminierungen ausgesetzt waren, in die Entschädigungsmaßnahmen aufgenommen worden. Gleichwohl waren die Regierungen der Ansicht, es sei nicht möglich, das von der Bundesrepublik bereit gestellte Budget unbegrenzt an die jeweils neuen Rehabilitationspolitiken anzupassen, weshalb man, im Zuge eines immer weiter gefaßten Opfer-Verständnisses, beschloss, die Verfolgten nicht länger unter Normen zu subsumieren, die jeweils immer neu den Umständen angepasst wurden, sondern ad hoc geschaffene Mittel-Fonds vorzusehen.

In einer komparatistischen Untersuchung der Problematiken der Wiedergutmachung ist der deutsche Fall unverzichtbar; nicht nur weil er, wie gesagt, von den Alliierten als Extremfall der Verantwortung für eine Verfolgungspolitik zu Lasten der eigenen Einwohner/Staatsbürger betrachtet wurde, sondern auch weil der deutsche Fall Anlass und Ausgangspunkt für eine Fülle von Untersuchungen und Betrachtungen war, deren Breite in anderen europäischen Ländern fehlt.

Gleichwohl lässt sich sagen, dass auch die österreichische Zeitgeschichte unter diesem Aspekt gut erforscht ist, sei es hinsichtlich der Verfolgungen, sei es hinsichtlich der Entschädigungen der Opfer nach dem Krieg. In Österreich wurde ja bekanntlich die Ansicht gepflegt, das Land sei selbst erstes „Opfer“ des Nationalsozialismus. Diese Deutung wurde erst gegen Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts überwunden ebenso wie die Überzeugung, selbst schuldlos an den nationalsozialistischen Verfolgungen nach dem „Anschluss“ zu sein. Für Österreich stellt sich damit ähnlich wie für Italien das Problem einer „doppelten faschistischen Vergangenheit“ auf zwei unterschiedlichen Zeitachsen. Zu untersuchen ist mithin, was es für das Verständnis von „Verfolgung“ bedeutet hat und noch bedeutet, dass beide Länder eigene diktatorische Regimes hervorgebracht haben und in einer zweiten Phase von NS-Deutschland besetzt wurden. Was für Folgen hat dies für den theoretischen und praktischen Umgang mit den Opfern? Gab es Unterschiede zwischen dem Engagement für die Entschädigung der Opfer des Austrofaschismus und der Opfer des Nationalsozialismus? Und zwischen den Opfern des autochtonen Faschismus und jenen des „exportierten“ Faschismus? Dieses Probem stellt sich mit Nachdruck auch für Italien. Hier haben die postfaschistischen Regierungen unterschieden zwischen den Verfolgten der Repubblica Sociale Italiana (in Konzentrationslager Deportierte und allgemein denjenigen, die auch auf italienischem Territorium nach dem 8. September 1943 verfolgt wurden) auf der einen Seite und den Verfolgten des monarchisch-faschistischen Regimes auf der anderen Seite, wobei die erste Kategorie in größerem Maße entschädigt wurde als die zweite.

Auch Frankreich hat sowohl die Besetzung durch NS-Deutschland (und durch das faschistische Italien im Südosten) erlebt als auch ein autochthones „faschistisches Regime“ (der Begriff ist bekanntlich hier umstritten!), und zwar beides gleichzeitig, aber nicht unbedingt im selben Gebiet, was den französischen Fall auch hinsichtlich der Definition der Kategorien vom österreichischen und vom italienischen Fall erheblich unterscheidet.

Das geplante Arbeitsgespräch vergleicht die eingeschlagenen Wege und die Erfahrungen dieser vier Länder hinsichtlich der Entschädigungspolitiken . Wir erwarten uns davon weitere Aufklärung bezüglich der Analogien zwischen den jeweiligen Entwicklungen und hinsichtlich der gemeinsamen Matrix bei der Definition der Opferkategorien sowie eine vertiefte Kenntnis von Theorie und Praxis der Rehabilitierungspolitiken zugunsten der Verfolgten. Es ist davon auszugehen, dass sich auch die Differenzen deutlicher abzeichnen, die den jeweiligen nationalen Kontext und die verschiedenen kulturellen Erwartungen prägten. Dazu liegt in unterschiedlichem Umfang die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung vor: Die deutsche und die österreichische Geschichtswissenschaft ist erheblich weiter als die italienische und die französische, die erst mit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ in den Ländern des Ostblocks (der die Frage der materiellen Rückgabe von Gütern an diejenigen Opfer virulent machte, die zuvor angesichts von Verstaatlichung und Kollektivierung nicht entschädigt worden waren) wirklich in Gang gekommen sind. In dieser Perspektive ist es wichtig, bei dem Arbeitsgespräch auch zu thematisieren, wie in der DDR die Kategorisierung der „Opfer“ und die Restitution problematisiert wurden: Schließlich lässt sich „Vergangenheitsbewältigung“ (oder „Vergangenheitspolitik“ gemäß der von Norbert Frei eingeführten Begrifflichkeit) nicht nur anhand der Rückgabe von Besitz an die Verfolgten bewerten. Wiedergutmachung und Rückgabe des Arbeitsplatzes wären hier bspw. ebenso zu untersuchen.

In den neunziger Jahren wurden, angestoßen durch die großen globalen Umbrüche, in Frankreich, in Italien und in Österreich (sowie in einem Großteil der anderen Länder, die auch mit diesem Problem konfrontiert sind), regierungsamtliche Kommissionen geschaffen, die das Ausmaß der Enteignungen untersuchen sollten, die die Opfer des Faschismus erlitten hatten, sowie den Umfang der Entschädigungsmaßnahmen seitens der jeweiligen Regierungen. Im Falle Österreichs wurden 160 Forscher einbezogen; 50 Bände wurden produziert , die die ungeheure Fülle der Aspekte sichtbar machen, die mit der Rehabilitierung der „Opfer“ verbunden sind.

Der komparatistische Zugriff scheint auch insofern sinnvoll, als die bisherigen entsprechenden Versuche (auch wenn sich ein aufsteigender Trend abzeichnet) eher einseitig ausfallen, sei es wegen des erwähnten unterschiedlichen Forschungsstandes zwischen den Ländern, sei es aufgrund des unterschiedlich ausgeprägten Interesses, das alles, was mit „Wiedergutmachung“ zu tun hat, in der Vergangenheit auf sich gezogen hat und auch heute auf sich zieht. Bisher weisen nur zwei Untersuchungen einen wirklich allgemeinen Zuschnitt auf und schließen Beispiele von Verfolgung und Wiedergutmachung in West- und Osteuropa ein: Constantin Goschler und Philip Ther (Hg.) Raub und Restitution, Frankfurt am Main, Fischer 2003 (eine englische und eine französische Übersetzung liegen vor) und Hans Günter Hockerts, Claudia Moisel, Tobias Winstel (Hg.), Grenzen der Wiedergutmachung, Göttingen, Wallstein, 2006.

Bei dem Arbeitsgespräch wird es schließlich auch darum gehen, sich mit der Frage nach der Vergleichbarkeit der methodischen Zugänge zum Thema „Wiedergutmachung“ und dessen soziokultureller Verortung in den einzelnen nationalen Geschichtskulturen auseinanderzusetzen, scheint es doch so, als legten Italien und Frankreich beim Umgang mit dem Thema „Wiedergutmachung“ den Schwerpunkt auf die Erinnerungspolitiken, während traditionell in Deutschland und Österreich methodisch zwischen Erinnerungskultur und Wiedergutmachung unterschieden wird.

Programm

Sonntag, 7. November 2010
Anreise am Nachmittag (Check-In ab 16.30 Uhr)
19.00 Uhr: Begrüßungsapéritif und gemeinsames Abendessen

Montag, 8. November 2010
8.00-9.00 Uhr: Frühstück

9.00 Uhr Der deutsche, der österreichische und der französische Fall
Vorsitz: Brunello Mantelli (Universität Turin)

JÖRG LUTHER (Universität Piemonte Orientale “Amedeo Avogadro”): Billig wiedergutmachen: wie Opfer Recht schreiben

10.30-11.00 Uhr: Kaffeepause

CONSTANTIN GOSCHLER (Ruhruniversität Bochum): Die Wiedergutmachung zugunsten von NS-Verfolgten im Nachkriegsdeutschland. Von den Besatzungszonen über die deutsche Teilung zum geeinten Deutschland (1945-2009)

13.00 Uhr: Mittagessen

15.00 Uhr:
BRIGITTE BAILER-GALANDA (Universität Wien): Austrofaschismus und Anschluß: eine “doppelte Vergangenheit” und eine “doppelte Wiedergutmachung”? Geschichtswissenschaft, amtliche Entscheidungen und Entschädigungspolitiken in Österreich

16.30-17.00 Uhr: Kaffeepause

ANNE GRYNBERG (Université Paris I “La Sorbonne”, INALCO, CNRS): Verfolgt unter der Besatzung durch NS-Deutschland und verfolgt durch Vichy. Die Adressaten von Entschädigung und Wiedergutmachung in Frankreich

19.30 Uhr: Abendessen

Dienstag, 9. November 2010
8.00-9.00 Uhr: Frühstück

9.00 Uhr Der italienische Fall
Vorsitz: Christof Dipper (TU Darmstadt)

GIOVANNA D’AMICO (Università di Torino): Gesetzliche Maßnahmen zur Restitution von Eigentum und Arbeit und zu weiteren Entschädigungen zugunsten von Personen, die a) durch das monarchisch-faschistische Regime, b) durch die Repubblica Sociale Fascista und c) durch die deutschen Besatzer verfolgt worden sind
GIUSEPPE SPECIALE (Università di Catania): Die gesetzlichen Vorgaben zur Restitution und ihre Anwendung: jüdische Italiener, Gericht und Verwaltung (1955-2010)

11.00-11.30 Uhr: Kaffeepause

PAOLA BERTILOTTI (Sciences-Po, Paris): Die Perspektive der “Opfer” und ihrer Verbände
LUTZ KLINKHAMMER (Deutsches Historisches Institut, Rom) und FILIPPO FOCARDI (Università di Padova): Das Problem der Entschädigungen der Opfer von Nationalsozialismus und Faschismus im Rahmen der Beziehungen zwischen den Staaten: Genese und Auswirkungen der deutsch-italienischen Abkommen der 60er Jahre

13.00 Uhr: Mittagessen

14.00 Uhr:
ROUND TABLE GESPRÄCH:
Forschungsperspektiven und gesellschaftliche Erwartungen im nationalen und europäischen Kontext; wie könnte ein europäisches Modell der „Wiedergutmachung“ aussehen?
Teilnehmer: WOLFGANG BENZ (Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin), TAL BRUTTMAN (employé de la ville de Grenoble), BRUNELLO MANTELLI (Università di Torino), JOHANNA LINSLER (doctorante en histoire à l’Université de Paris I, Panthéon Sorbonne), WOLFGANG SCHIEDER (Universität Köln)

16.30-17.00 Uhr: Kaffeepause

18.00 Uhr: Ende des Round Table-Gesprächs

19.30 Uhr: Abendessen

Mittwoch, 10. November 2010
Abreise nach dem Frühstück

Teilnehmer
1. Wolfgang Benz (Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU, Berlin)
2. Paola Bertilotti (Sciences-Po, Paris)
3. Giovanni Boggero (laureando in diritto internazionale presso l’Università di Torino- Gasthörer)
4. Tal Bruttman (employé de la ville de Grenoble)
5. Giovanna D’Amico (Università di Torino)
6. Christof Dipper (TU Darmstadt)
7. Filippo Focardi (Università di Padova)
8. Constantin Goschler (Ruhruniversität Bochum)
9. Anne Grynberg (Université Paris I “La Sorbonne”)
10. Lutz Klinkhammer (DHI, Rom)
11. Johanna Linsler (doctorante en histoire, Université Paris I “La Sorbonne”)
12. Jörg Luther (Universität Piemonte Orientale “Amedeo Avogadro”)
13. Brunello Mantelli (Università di Torino)
14. Wolfgang Schieder (Universität Köln)
15. Giuseppe Speciale (Università di Catania)
16. Brigitte Bailer-Galanda (Universität Wien)

Koordination:
Dr. Giovanna D’Amico
Dr. Lutz Klinkhammer

Kontakt

Giovanna D'Amico

Villa Vigoni - via Giulio Vigoni 1 - 22017 Loveno di Menaggio (CO) - Italien

+393383951265

giovanna.damico@unito.it


Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Französisch, Deutsch, Italienisch
Sprache der Ankündigung