Genealogie der Autorität

Genealogie der Autorität

Organizer
Dr. Oliver Kohns, Attract-Projekt »Ästhetische Figurationen des Politischen«, Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst- und Erziehungswissenschaften, Université du Luxembourg; Dr. Martin Roussel, Internationales Kolleg Morphomata, Universität zu Köln; Prof. Dr. Till van Rahden, Canada Research Chair in German and European Studies and Associate Professor of German Studies, Centre canadien d’études allemandes et européennes, Université de Montréal
Venue
Université du Luxembourg, Campus Walferdange
Location
Luxembourg
Country
Luxembourg
From - Until
07.10.2013 - 08.10.2013
Deadline
15.04.2013
By
Oliver Kohns, Martin Roussel und Till van Rahden

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts steht Autorität unter dem Verdacht ein Schlüsselbegriff des konservativen Denkens zu sein. Dass hierin auch ein »Missverständnis« (Dolf Sternberger) liegen könnte, zeigt auch das jüngere Interesse innerhalb der politischen Theorie an einer genuin demokratischen Autorität. Vor diesem Hintergrund lädt der Workshop dazu ein, die Frage der Autorität neu zu stellen, ohne die Kontroversen und Reflexe fortzuführen, in denen der Gegensatz zwischen antiautoritären und konservativen Strömungen fortlebt.

Autorität ist eine relationale und figurative Kategorie. Theodor Mommsens Bestimmung, Autorität sei »mehr als ein Ratschlag und weniger als ein Befehl«, bringt die Verlegenheit einer Definition auf den Punkt. Seit der römischen Antike gibt es Versuche, eine »reine« auctoritas von ihrer Vermischung mit der potestas zu unterscheiden: Die Geschichte der Autorität und des Autoritätsverlustes, ihre Korruption in Selbstbehauptungen der Mächtigen, gehören zusammen, wie historische Abrisse zum Begriff von Theodor Eschenburg bis Leonard Krieger zeigen.

Da Autorität weder eingefordert noch durch Überzeugung hervorgerufen werden kann, berufen sich historisch-genealogische Autoritätsverständnisse auf »natürliche«, das heißt überzeitliche und kulturell übergreifende Modelle: Seit »eh und je« hat – wie Hannah Arendt 1956 betont – die »natürliche« Beziehung zwischen Eltern und Kindern das bestimmende »Modell« für politische Autorität und die Autorität politischer Institutionen und Instanzen abgegeben; Grundfiguren wie die Relation Hirte/Herde, Steuermann/Passagiere, Arzt/Patient sowie Herr/Sklave ergänzen das genealogische Spektrum. Einen Vorschlag zur Systematisierung von Autorität hat 1942 Alexandre Kojève entfaltet. Er unterscheidet vier diskursive Typen der figurativen Dimension von Autorität: die Figur des Vaters (des Erzeugers) mit der Autorität des Ursprungs und der Vergangenheit, des Meisters (der entscheidet und handelt) mit der Autorität des Wissens, des Anführers (der voraus schaut) mit der Autorität des Kundigen oder praktischen Wissens und des Richters (der objektiv ist) mit der Autorität des Gesetzes oder Unvergänglichen.

Viele Schwierigkeiten, Autorität zu fassen, lassen sich von der ursprünglich figurativen Dimension und ihrer Erhebung zum Prinzip für (politisches) Handeln her ableiten: Autorität wird zunehmend als eine Eigenschaft der Macht thematisiert. In den gegenwärtigen Diskussionen der analytischen Philosophie bis jüngst zu Michael Huemers Vorschlag, Autorität prinzipiell nicht gouvernemental, sondern mit Blick auf faktische Machtverhältnisse im postnationalen Zeitalter zu denken, wird das vorausgesetzt.

Doch ist diese Einsicht nicht neu. Eine Geschichte des Autoritätsverlustes bezieht sich genau auf diese Korruption der Autorität in der Verquickung mit irdischer Macht: Autorität, aber keine Handlungsmacht, kommt den römischen Göttern zu. Indem Autorität Asymmetrien im Handeln auf situative Figurationen (Vater/Sohn, Meister/Schüler usf.) bezieht, entzieht sie sich einer allgemeinen Rationalität, einer Logik der Überzeugung, der Orientierung an der Sache oder überhaupt der Rückfrage: Autorität nach ihrem Grund zu befragen, heißt sie in Frage zu stellen. Ansätze, die darauf zielen, Autorität in der Spannung von Autorität und Autoritätsverlust zu restituieren, beziehen ihre Evidenz deshalb aus einer Rückrechnung aus der Sphäre des Politischen auf kleine modellhafte Grundszenen. Weniger als Gegendiskurs, sondern vielmehr als eine Art Nullpunkt der Autorität stellen Fiktionalitäts- und Experimentalräume der Literatur solche Szenen her. Während der philosophische und kulturtheoretische (bzw. kulturkritische) Diskurs über Autorität spätestens seit der Spätantike zentral ein Diskurs über den Autoritätsverlust ist, kann Autorität in der Literatur bis in die Moderne hinein in einem anschaulichen Rahmen, einer mitunter aufs Kammerspielartige begrenzten Szene als konkrete Handlungsdimension gezeigt werden. Das Modell familiärer Autorität dominiert hier: Ob in Shakespeares »Hamlet«, »King Lear« oder in Schillers »Don Karlos« – die politische Legitimation des Herrschers ist gebunden an die familiäre Autorität des Vaters.

Der Schluss, dass Literatur deshalb ein »ursprünglicheres« Autoritätsverständnis kritisch in Stellung bringen würde, trügt jedoch: In der Regel sind die Figurationen des Autoritativen in der Literatur bezogen auf politische Autorität und Fragen der Staatsraison und verstehen sich als Rückrechnungen des Großen aufs Kleine, der Verhandlung des Politischen im Privaten, des Kategorischen am Beispiel. Interessant ist deshalb nicht allein, dass in den Familientribunalen der Literatur, den Konflikten um »Verkommene Söhne, missratene Töchter«, die Peter von Matt 1997 als Literaturgeschichte der »Familiendesaster in der Literatur« nachgezeichnet hat, Grundlinien politischer Konflikte nach- wie vorgezeichnet werden, sondern dass die genealogische Rückführung Autorität erst wieder lesbar macht: Von der Restituierung des Vaters über die Vision von Brüderlichkeit satteln hierauf Entwürfe einer Re-Auratisierung des Politischen im Zeichen der Autorität genauso auf wie eine restlose Destruktion.

Die Vielzahl heterogener Figuren der Autorität verweist auf eine Entkopplung von Autorität und Tradition, die – neben Luthers Lösung der Bindungen von Religion und weltlicher Macht – für die Literatur ebenso wie für die politische Philosophie und Praxis der Moderne zentral wird. Laut Hannah Arendt bringt diese Entkopplung für die Politik eine Logik revolutionärer Neuerung hervor, die seit Machiavelli denkbar geworden ist: Neuzeitliche Revolutionen stehen, anders als in der römischen Antike, nicht mehr im Zeichen einer Rückkehr oder Wiederherstellung des Alten (Gründung der Republik), sondern im Zeichen eines Neuen, dessen totalitäre Logik zwar nicht zwingend aus dem Traditionsverlust der Autorität abzuleiten ist, hierdurch aber gleichwohl bedingt wird. Die Frage, wie die Demokratien der Moderne Autorität durch »Vertrauen« (das im Sinne von John Locke jedes »government by consent« voraussetzt) oder in einer »Repräsentanz« (die indirekt eben doch an Rousseaus »volonté générale« rückgebunden bleibt) zu restituieren oder einzuschränken suchen, betrifft die Umsetzung der Grundidee der Gleichheit, mithin ihre Figuration (»Brüderlichkeit«).

Weil Autorität nur relational und figurativ verstehbar ist, können »kleine Modelle« der Literatur als projektive Vorlage für eine Ableitung politischer Autorität dienen; solche genealogischen Perspektiven liefern als Begründungsfiguren von Autorität zwar Plausibilisierung oder Evidenz, stehen aber einer Idee natürlich vererbter oder dogmatisch gesetzter Autorität entgegen. Bevorzugter Ort einer literarischen Thematisierung von Autorität ist die Familie, aber sicher nicht der einzige. Die Literatur inszeniert das gesamte Spektrum der Figurationen von Autorität: immer wieder Lehrerfiguren (im Schul- bzw. Campusroman), die dämonische Autorität eines verrückten Kapitäns (»Moby Dick«) oder die perverse Autorität des Mafiabosses (»Der Pate«).

Was also folgt aus Figuren der Autorität für eine Idee des Politischen? In Verfahren der Evidenzierung von Autorität stellt Literatur diese Frage mehr als dass sie übergreifende Antworten bieten könnte. Von der Restituierung des Herrschers als Vater – ob als autoritärer oder liebender »Landesvater« – bis zu den »Loser Sons« (Avital Ronell) etwa bei Kafka reicht das Spektrum. Wenn Autorität, zumal vor dem Hintergrund von Diskussionen um »vaterlose Gesellschaften« (Mitscherlich), nicht mehr als offene Leitkategorie politischen Handelns dient, fragt sich nach den Bedingungen, unter denen im Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, das die heutige Öffentlichkeit kennzeichnet, Autoritäten – von Expertenkulturen bis zu Vorbildern oder dem Ex-Kanzler Helmut Schmidt – Funktionen erhalten und Einfluss gewinnen können.

Der Workshop »Genealogie der Autorität« widmet sich folgenden Fragekomplexen:
- Wie wird Autorität in der Literatur inszeniert und evident gemacht? Welche Figurationen der Autorität zeigen sich in welchen literarischen (bzw. filmischen) Genres?
- Welche politischen Modelle werden in der literarischen Szene der Autorität vorgeführt und durchgespielt? Wie ist hier der Konnex von Literatur und Politik strukturiert?
- Welche Bedeutung kommt angesichts einer Umstellung von hierarchischen Semantiken auf eine »Semantik der Gleichheit« (Luhmann) in der Moderne Autoritätsmodellen in feministischen Diskursen oder den Queer Studies zu?
- Sind die modernen Demokratien als »vaterlose Gesellschaften« (Mitscherlich) zu verstehen? Inwiefern kann eine Semantik der »Gleichheit« ein neues Verständnis von Autorität hervorbringen? Gibt es literarische Modelle der Vaterlosigkeit?

Falls Sie an dem Workshop interessiert sind, schicken Sie bitte ein Abstract von 250–300 Wörtern und ein kurzes CV bis zum 15. April 2013 an info@figurationen.lu. Die Vorschläge können auf Deutsch und Englisch eingereicht werden. Reise- und Übernachtungskosten können aller Voraussicht nach übernommen werden.

Zitierte Literatur:
Hannah Arendt: Was ist Autorität? [1957]. In: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper 1994, S. 159–200; Theodor Eschenburg: Über Autorität [1965]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976; Michael Huemer: The Problem of Political Authority. An Examination of the Right to Coerce and the Duty to Obey. Houndmills u.a.: Palgrave Macmillan 2013; Alexandre Kojève: La notion de l’autorité [1942]. Paris: Gallimard 2004; Leonard Krieger: The Idea of Authority in the West. In: The American Historical Review 82/2 (1977), S. 249–270; Niklas Luhmann: Frauen, Männer und George Spencer Brown. In: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), H. 1, S. 47–71; Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur (1997). München: Dtv 2007; Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft – Ideen zur Sozial-Psychologie. München: Piper 1963; Avital Ronell: Loser Sons. Politics and Authority. Urbana, Chicago, Springfield: University of Illinois Press 2012; Dolf Sternberger: Autorität, Freiheit und Befehlsgewalt. Tübingen: Mohr Siebeck 1959.

Programm

Contact (announcement)

Dr. Oliver Kohns
Université du Luxembourg
Route de Diekirch
L-7220 Walferdange
oliver.kohns@uni.lu

Dr. Martin Roussel
Universität zu Köln
Internationales Kolleg Morphomata
50923 Köln
martin.roussel@uni-koeln.de

Prof. Dr. Till van Rahden
Canada Research Chair in German and European Studies and Associate Professor of German Studies
Centre canadien d’études allemandes et européennes
Université de Montréal
Montréal (Québec) Canada H3T 1P1
till.van.rahden@umontreal.ca

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