Wissen und Berichten. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive

Wissen und Berichten. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive

Organizer
Christine Roll, Thomas Kirchner, Thomas Dorfner, RWTH Aachen, Historisches Institut
Venue
Location
Aachen
Country
Germany
From - Until
07.04.2016 - 08.04.2016
Deadline
18.10.2015
Website
By
Dorfner, Thomas

Zu den Kernaufgaben frühneuzeitlicher Gesandter zählte das Sammeln von Informationen sowie das Verfassen von Berichten, um so letztlich das Wissen ihrer Auftraggeber zu erweitern. Der ideale Gesandte, wie ihn die zeitgenössischen Theoretiker Callières und Wicquefort in ihren Traktaten skizzieren, ist zuvorderst ein aufmerksamer Beobachter: Er achtet sorgsam auf alle Geschehnisse – egal, ob er sich an einem fremden Hof, auf einem Kongress oder auf dem Weg dorthin befindet. Außerdem ergründet er auf informellen Wegen die Arcana seiner jeweiligen Verhandlungspartner. Die gewonnenen Informationen hält der ideale Gesandte sowohl in seinem Diarium als auch in den regelmäßigen Relationen an seinen Prinzipal bzw. dessen Räte fest.

Die Geschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie wird seit geraumer Zeit intensiv und sehr ertragreich erforscht, allerdings haben dabei die spezifischen Kulturen des Berichtens und die Berichte selbst nur wenig Beachtung erfahren. Die Diplomatiegeschichte richtet ihr Augenmerk einerseits weiterhin auf klassische Themen wie die Institutionalisierung des Systems diplomatischer Beziehungen oder die Friedensfähigkeit der Mächte. Andererseits wurden neue Themenfelder wie die interkulturelle Kommunikation und die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in den Außenbeziehungen erschlossen; auch die Verarbeitung von Wissen über fremde Gesellschaften sowie die Konstruktion von Selbst- und Fremdwahrnehmungen durch Diplomaten ist ein häufig aufgegriffenes Thema.

Die Kulturen des Berichtens in der frühneuzeitlichen Diplomatie stellen somit ein Forschungsdesiderat dar und sollen im Rahmen eines interdisziplinären Workshops von Historikerinnen und Sprach- sowie Literaturwissenschaftlerinnen analysiert und diskutiert werden. Ziel ist hierbei eine praxeologische Neuperspektivierung einer vermeintlich wohlbekannten Quellengattung: Der Blick soll heuristisch weg von den Berichtenden (den Gesandten, wie sie in Ermangelung eines treffenderen Begriffs einstweilen noch genannt werden müssen) hin zu den Berichten und auf die Praxis des Berichtens gelenkt werden.

Der Ertrag dürfte sowohl für die Diplomatiegeschichte als auch für die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit erheblich sein. Insbesondere wird sich zeigen, dass Gesandtenberichte, wenn man ihre Form, ihre Themen und ihre narrativen Strategien sowie den praktischen Umgang mit ihnen und ihre Verbreitung genauer untersucht, zwar spezifische Merkmale aufweisen; man wird jedoch ebenso auf zahlreiche Ähnlichkeiten und Auseinandersetzungen mit anderen narrativen Texten, vor allem mit Gelehrtenbriefen und den (teils ja fiktiven) Reise- und Entdeckungsberichten, vermutlich sogar mit den großen literarischen Erzählungen der Zeit stoßen. Gesandtenberichte – und nicht nur die vielgerühmten venezianischen Finalrelationen – dürften demnach im Gattungskontext frühneuzeitlicher Textsorten gar nicht so eindeutig zu erfassen sein, wie zumeist angenommen. Aus dieser Einsicht ergäben sich wiederum Konsequenzen u. a. für unsere Vorstellung von der Professionalisierungsgeschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie sowie für die Produktion, die Formulierung und die Ordnung von Wissen in den frühneuzeitlichen Kanzleien und darüber hinaus.

Folgende vier Themenkomplexe sollen im Mittelpunkt des Workshops stehen:

I. Sprachen, Texte und Medien des Berichtens
In welchem Verhältnis standen Relationen, Diarien und Abschlussberichte zueinander? Welche Gattungswurzeln bzw. Vorläufer lassen sich für frühneuzeitliche Gesandtenberichte nachweisen? Sind Parallelen zwischen frühneuzeitlichen Pilger-, Missions- und Gesandtenberichten belegbar? Welche formalen Erwartungen wurden an die Relationen bzw. Diarien gerichtet und wie veränderten sich diese Erwartungen im Verlauf der Frühen Neuzeit?

II. Die Gesellschaft der Gesandten – Berichten als soziale Praxis
Welche Formen der Soziabilität praktizierten Gesandte bzw. Gesandtschaftsmitglieder, um an fremden Höfen oder auf Kongressen Informationen zu gewinnen? Ergaben sich – je nach persönlichem Rang bzw. je nach Gesandtschaftsrang – unterschiedliche Wahrnehmungsmöglichkeiten? Welche Bedeutung hatte das persönliche Netzwerk eines Gesandten für seine Berichterstattung? Für welche unterschiedlichen Zwecke wurden ein und dieselben Gesandtenberichte genutzt? Welchen Stellenwert hatten chiffrierte Briefe oder separate Postskripte?

III. Bedeutung der Berichte für die Gesandten
Welche Relevanz hatten Relationen und Diarien für die Selbstdarstellung und damit letztlich die Karriere der Gesandten? Mit welchen narrativen Strategien, Leitbegriffen sowie Fiktionen präsentierten sich die Gesandten ihrem jeweiligen Prinzipal? In welcher Hinsicht veränderten sich die „Selbstdarstellungsgeschichten“ (N. Luhmann) der Gesandten im Verlauf der Frühen Neuzeit?

IV. Rezeption und Publikation der Berichte
Welche Praktiken des Verlesens bzw. der Zirkulation der Berichte bei Hof lassen sich nachweisen? Ab wann setzten Bemühungen zu einer systematischeren Archivierung der Gesandtenberichte ein, um eine spätere Operationalisierung zu ermöglichen? In welchem Verhältnis standen die außenpolitischen Informationsprozesse mit den vielfältigen innenpolitischen Informationsprozessen (Visitationen, Landeserfassungen aller Art etc.)? Wie häufig fanden Gesandtenberichte den Weg in Zeitungen? Lässt sich in bestimmten Fällen „the Life of a Story“ (J.-P. Ghobrial) rekonstruieren, beginnend mit einem Gesandtenbericht bis hin zur Veröffentlichung in einer Zeitung?

Bitte senden Sie Ihr Exposé (max. 300 Wörter, deutsch- oder englischsprachig) sowie Kurzangaben zu Ihrer Person bis zum 18. Oktober 2015 an: thomas.dorfner@rwth-aachen.de. Die jeweilige Vortragszeit wird 20 Minuten betragen. Beiträge in englischer Sprache sowie offene Vortragsformen unter Einbeziehung der Teilnehmer*innen sind willkommen. Eine Publikation der Beiträge als Sammelband ist angedacht.

Die Veranstalter bemühen sich um eine Finanzierung der Tagung, die die Reise- und Übernachtungskosten der Vortragenden abdeckt, können die Kostenübernahme zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch noch nicht definitiv zusichern.

Programm

Contact (announcement)

Thomas Dorfner, Thomas Kirchner
Historisches Institut
Theaterplatz 14
52062 Aachen

thomas.dorfner@rwth-aachen.de
thomas.kirchner@histinst.rwth-aachen.de


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German
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