Sucht, Rausch und Genuss. Medizin-, sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven

Sucht, Rausch und Genuss. Medizin-, sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven

Veranstalter
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Veranstaltungsort
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.04.2017 - 28.04.2017
Deadline
31.12.2016
Website
Von
Pierre Pfütsch

Smartphones erobern seit einigen Jahren die Welt. In Deutschland besitzen über 49 Millionen Bundesbürger solch ein Gerät. Telefonieren, E-Mails schreiben, fotografieren, im Internet surfen, Musik hören, spielen – die Nutzungsmöglichkeiten dieser Geräte sind nahezu unerschöpflich. Fast zeitgleich mit der rasanten Verbreitung der Geräte wurden auch die ersten Warnungen vor einer exzessiven Nutzung laut und schnell war von einer „Smartphonesucht“ die Rede. Eltern, Lehrer, Psychologen und Ärzte sind besorgt. Schließlich ist eine Sucht ein krankhafter Zustand. Diese Formen der Warnung sind dabei keineswegs ein Phänomen der jüngeren Gegenwart. Ausprägungen der „Mediensucht“ tauchen in der Geschichte immer wieder auf. So wurde bereits im 18. Jahrhundert vor einer „Lesesucht“ gewarnt. Und in den 1950er Jahren beschränkte man sich aus Angst vor einer „Fernsehsucht“ auf das Übertragen eines allabendlichen Zwei-Stunden-Programms, obwohl längeres Senden technisch möglich war.
Gleichwohl verdeutlicht ein Blick in das „Jahrbuch Sucht 2016“, dass neben diesen neuen Formen von Sucht nach wie vor die stoffgebundenen Süchte nach Alkohol, Nikotin und anderen Drogen die größte Rolle spielen. So trinkt jeder Deutsche statistisch gesehen pro Jahr 14 Liter reinen Alkohol und raucht ca. 1.000 Zigaretten. Gerade die Geschichte des Alkoholkonsums verweist auf die historische Kontingenz der prekären Grenzziehung zwischen „normalem“ Genuss und pathologischer Sucht.
Allein diese Beispiele verdeutlichen bereits, dass Sucht, Rausch und Genuss nicht nur Phänomene sind, mit denen fast jeder tagtäglich konfrontiert ist, sondern auch, dass diese im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder neu verhandelt werden.
Im 36. Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung soll Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern die Gelegenheit gegeben werden, diese Themen im Kontext von Gesundheit und Krankheit in historischer Perspektive zu diskutieren und ihre eigenen Forschungsprojekte vorzustellen. Eine interdisziplinäre Fokussierung wird angestrebt, wobei medizin-, sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven besonders erwünscht sind.

Folgende Themenstellungen sind vorstellbar:

1) Der Rausch als Störung des Rationalen
Der Rausch ist in seinem Erleben und in den mit ihm verbundenen Empfindungen nicht objektivierbar. Er ist, wie Robert Feustel es formuliert, „the unspoken thing“, an dem jede Übersetzung in eine zwangsläufig intersubjektive Sprache letztlich scheitere. Andererseits, so Feustel weiter, verrieten die verschiedenen Versuche, Rauscherfahrungen zu rationalisieren, einiges über Selbst- und Gesellschaftskonzepte, über das Denken, über politische Verhältnisse, über die diskursiven Grenzziehungen zwischen Rationalität und Unvernunft, zwischen Natur und Kultur, sowie über Sinnkonstruktionen und Sinnzusammenbrüche.
Im medizinischen Kontext werden lediglich die physiologischen Vorgänge und das damit verbundene körperliche Rauschverhalten beschrieben. Es ist eine Beobachtung von außen, die sich am normativen Rahmen einer Gesellschaft orientiert. So kann nur über, aber nicht vom Rausch gesprochen werden.
Unser heutiges Verständnis von Rausch wird vorwiegend anhand medizinischer Wissensbestände verhandelt und in erster Linie als Gefahr, nicht nur für den Einzelnen (Sucht), sondern auch für die Gesellschaft (Störung der Ordnung) begriffen. Der Rausch besitzt als ein rational nicht fassbares Erleben keine oder nur eine geringe gesellschaftliche Legitimität, die sich dabei nicht zuletzt an der Frage der Legalität der Rauschsubstanzen oder der Häufigkeit des Konsums bemisst. Oder daran, ob sich Rausch in einem Kontext mit Sinnzusammenhängen verknüpfen lässt. Letzteres könnten gesellschaftliche Erfahrungen, der Rausch als experimentelle Selbsttechnik oder als kreatives Element in der Kunst sein.
Die gesellschaftliche Legitimation des Rausches muss aber genauer betrachtet werden. Erwähnt sei, dass bspw. bestimmte Formen des ritualisierten Rausches, seien diese religiöser oder spiritueller Natur, durchaus Akzeptanz erfahren können. Im Alten Ägypten wurde zu bestimmten Festen mehr Wein getrunken als im ganzen Jahr. Doch auch in der Antike kannte man, wie man z. B. aus Homers Schilderungen weiß, bereits die negativen Begleiterscheinungen des Rausches.
So galt und gilt Trinkfestigkeit in bestimmten Kreisen als ein Zeichen von Stehvermögen und damit auch von Männlichkeit. Wer viel Alkohol trinken kann, ohne dabei vollständig die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, gilt als ‚echter Mann‘ und wird bspw. am Stammtisch oder in der Studentenverbindung als solcher hochgeachtet. Die exzessive Form des Alkoholkonsums, die in diesen Kontexten wesentlich zur Identitätsstiftung beiträgt, wurde und wird Frauen weitaus weniger zugestanden. Hier zeigt sich zudem, dass eine gesellschaftliche Akzeptanz von Rausch nicht nur mit dessen Kontrollierbarkeit, sondern zugleich mit geschlechterspezifischen Zuschreibungen einhergeht. Ebenso denkbar sind Untersuchungen zu den kompensatorischen Funktionen des Rausches bspw. die Berauschung zur Stressbewältigung.

2) Sucht als gesellschaftliches Problem
Auch in heutiger Sicht sind bestimmte Vorstellungen von Sucht und Abhängigkeit allgegenwärtig und prägen unser Verständnis von Drogen. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass das medizinische Konzept von Sucht eine vergleichsweise kurze Geschichte hat. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es noch nahezu unbekannt. Erst dann entstand ein problemorientierter Diskurs zur Sucht, welcher verdeutlicht, wie das medizinische Wissen über Drogen an neue Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit, aber auch von Körper und Subjekt anschloss und sich in den Kontext einer Medikalisierung des Lebens einschrieb. Die Pathologisierung des Abhängigkeitszustandes hatte weitgehende Folgen für den Umgang mit ‚Süchtigen‘ innerhalb der Gesellschaft. So galt die Sucht als ein Zeichen von geistiger und körperlicher Schwäche, da der Süchtige nicht mehr in der Lage war, selbstbestimmt den Konsum des Suchtstoffes einzustellen. An Michel Foucaults Ausführungen zur Gouvernementalität anknüpfend, kann hier von einer nicht funktionierenden Selbstregierung gesprochen werden. Fruchtbar erscheint es, aus intersektionaler Perspektive danach zu fragen, wie das süchtige Subjekt jeweils konzeptualisiert wurde und welche soziokulturellen und politischen Effekte dies hatte. In diesem Kontext könnte man die Positionen verschiedener Akteure innerhalb dieses Prozesses diskutieren. Welche gesellschaftlichen Suchtkategorien gibt es, und wie werden diese von „Nicht-Süchtigen“ bewertet?
Zentral erscheinen aus gesundheitspolitischer Perspektive hier die Maßnahmen zur Suchtprävention. Wie verhielt sich in diesem Zusammenhang bspw. die staatliche Gesundheitspolitik? Welche Gesetze, Normen und Richtlinien wurden von ihr eingeführt und wie gelang es, diese umzusetzen? Wie verhielt sich die Kirche dazu? Darüber hinaus kann auch nach Formen und Mechanismen der Ausgrenzung von Süchtigen gefragt werden: Von wem und in welcher Weise wurden Süchtige stigmatisiert? Mit welchen anderen biopolitisch bedeutsamen Themen verbanden sich medizinische Diskurse zum Drogenkonsum? Man denke bspw. an die Figur des Alkoholikers im Rahmen von Erbbiologie und Eugenik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch ist es lohnend, aus einer patientengeschichtlichen Perspektive das Selbstkonzept von Süchtigen näher zu betrachten: Wie wirkt sich Sucht auf das Selbstverständnis und die Identitätskonstruktion von Süchtigen aus? Empfinden sich diese überhaupt als Süchtige? Oder werden stoffgebundene Süchte anders bewertet als stoffungebundene? Konkret könnte bspw. danach gefragt werden, welche Wechselwirkungen zwischen Sucht und dem Verständnis von Geschlecht bestehen.

3) Funktionen des Genusses
Während Sucht weitgehend negativ konnotiert wird, gilt dies für den Genuss in unserer heutigen Gesellschaft kaum. Im Gegenteil, Genuss wird vorrangig als etwas Positives und Erstrebenswertes angesehen. Damit ist Genuss ein Konzept, welches stark sozialen Ungleichheiten unterliegt, denn bestimmte Formen des Genusses werden den oberen sozialen Schichten in größerem Umfang zugestanden. Gleichzeitig sind diese Formen des Genusses für diese Schichten auch ein Mittel zur Abgrenzung. Denkt man Genuss in Verbindung mit Geschmack, kann man mit Pierre Bourdieu auch von einer Distinktionsfunktion des Genuss-Konzeptes sprechen. Um hier die notwendige soziale Differenzierung genauer bestimmen zu können, könnte man die historischen Subjekte, deren Selbstzuschreibungen und das damit verbundene Verständnis von Genuss näher untersuchen.
Daneben existierten aber auch ‚genussfeindliche‘ Gesellschaftskreise, wie z. B. die Pietisten. In England ließ z. B. der puritanische Parlamentsführer Oliver Cromwell 1652 per Dekret das Weihnachtsfest verbieten, da die damit verbundenen Feierlichkeiten, das üppige Festessen, der Alkoholkonsum und das Tanzvergnügen den religiösen Vorstellungen widersprachen. Und auch der christliche Todsündendiskurs problematisierte bereits einen übermäßigen Genuss. Hier könnte das Gesundheits- und Krankheitsverständnis, aber auch die gesellschaftlichen und moralischen Dimensionen solcher genusskritischen Konzepte näher analysiert werden.
Es eignen sich zudem körpergeschichtliche Perspektiven für eine Untersuchung von Genuss. Wann und wie wird der Körper in medizinischen und biopolitischen Debatten als „Genusskörper“, der durch ganz unterschiedliche Genüsse, Lüste und Gelüste affiziert werden kann, konzipiert? Welche Institutionen und Praktiken werden entwickelt und mobilisiert, um diese Kräfte zu regulieren, zu disziplinieren oder eben auch anzuregen? So könnte z. B. danach gefragt werden, welche Formen sexueller Genüsse und Lüste pathologisiert wurden, welche nicht und warum?
Die hier vorgestellten Themen und Fragestellungen sind nur als Anregung zu verstehen und dienen einer ersten Orientierung. Gerne können auch andere Themen im Kontext von Sucht, Rausch und Genuss vorgeschlagen werden.

Organisatorisches
Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat sich in den nunmehr 36 Jahren seines Bestehens zu einem interdisziplinären Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelt, das sich deutlich von klassischen Fachtagungen unterscheidet. Zentrales Anliegen des Forums ist der Austausch und die Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und nicht auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. Aus diesem Grund sind die Titel der Literaturliste nur als Leseanregung zu verstehen, nicht als Pflichtlektüre.
Vor Beginn der Tagung werden die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Unbedingt erforderlich ist die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Seminarzeit, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen.
Das Seminar findet vom 26.-28. April 2017 in Stuttgart statt. Die Anreise erfolgt obligatorisch bereits am 25. April für das abendliche Kennenlernen.
Anmelden können sich Einzelpersonen und Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen). Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf 15 Personen begrenzt.

Auswahl und Moderation
Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe, die am Ende jedes Fortbildungsseminars für das jeweils nächste Jahr gewählt wird. Für das 36. Fortbildungsseminar haben sich Oliver Falk (Berlin), Stefan Offermann (Leipzig) und Aaron Pfaff (Stuttgart) bereit erklärt. Die Auswahl der Teilnehmenden nehmen die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe anhand der anonymisierten Vorschläge vor.

Vorträge, Diskussion und Kostenerstattung
Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei max. 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen erhöht sich die zur Verfügung stehende Zeit auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, die einzelnen Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung finanziert, das schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung
Ein Exposé von max. einer Seite, aus dem Titel, Fragestellung, Methoden und verwendete Quellen sowie mögliche Thesen/Ergebnisse hervorgehen, senden Sie bitte bis zum 31. Dezember 2016 per Post oder E-Mail (gerne als Word-Datei) an Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart respektive pierre.pfuetsch@igm-bosch.de.
Darüber hinaus soll dem Exposé eine Kurzvita beigefügt werden.

Auswahlbibliographie

Engelhardt, Dietrich; Wild, Rainer (Hg.): Geschmackskulturen. Vom Dialog der Sinne beim Essen und Trinken. Frankfurt/Main 2005.
Feustel, Robert: Grenzgänge. Kulturen des Rauschs seit der Renaissance. München 2013.
Hirschfelder, Gunther: Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700 – 1850). Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Bd. 1: Die Region Manchester. Köln 2003.
Hirschfelder, Gunther: Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700 – 1850). Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Bd. 2: Die Region Aachen. Köln 2004.
Hochmuth, Christian: Globale Güter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden. Konstanz 2008.
Hoffmann, Annika: Drogenrepublik Weimar? Betäubungsmittelgesetz – Konsum und Kontrolle in Bremen – Medizinische Debatten. Münster 2005.
Kaiser, Reinhold: Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter. Köln 2002.
Kochan, Thomas: Blauer Würger. So trank die DDR. Berlin 2011.
Kupfer, Alexander: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Ein Handbuch. Sonderausgabe Stuttgart 2006.
Menninger, Annerose: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16. – 19. Jahrhundert). Stuttgart 2004.
Mold, Alex; Berridge, Virginia: Voluntary Action and Illegal Drugs. Health and Society in Britain since the 1960s. Houndmills 2010.
North, Michael: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung. Köln 2003.
Sandgruber, Roman: Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte der Genußmittel. Wien, Köln, Graz 1986.
Spode, Hasso: Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Opladen 1993.
Völger, Gisela; Welck, Karin (Hg.): Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. Reinbek bei Hamburg 1982.
Welskopp, Thomas: Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition. Paderborn 2010.

Programm

Kontakt

Pierre Pfütsch

Straußweg 17
70184 Stuttgart
0711/46084163
0711/46084181
pierre.pfuetsch@igm-bosch.de