Perzeption und Konzepte von Zeitgeschehen und Zeit in frühneuzeitlichen Zeitungen / Perception and Concepts of Current Events and Time in Early Modern Newspapers

Perzeption und Konzepte von Zeitgeschehen und Zeit in frühneuzeitlichen Zeitungen / Perception and Concepts of Current Events and Time in Early Modern Newspapers

Organizer
Andreas Golob; Ingrid Haberl-Scherk, FWF-Projekt "Participatory Journalism in Michael Hermann Ambros’ Periodical Media. Communicating Politics, Education, Entertainment, and Commerce in Central Europe at the End of the 18th Century"
Venue
Karl-Franzens-Universität Graz
Location
Graz
Country
Austria
From - Until
19.09.2019 - 20.09.2019
Deadline
19.04.2019
Website
By
Andreas Golob

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Die Dimension ‚Zeit‘ spielt für das Zeitungswesen eine basale Rolle und ist im Bewusstsein der zeitgenössischen Medienwissenschaft und der Mediengeschichte fest verankert. Die Zeitschrift „medien und zeit“ führt den Konnex prominent im Titel; Th. Birkner verstand seine „Geschichte des Journalismus in Deutschland“ unter dem Motto „Selbstgespräch der Zeit“ (Birkner 2012). Die Historiographie nutzt Zeitungen als (zusätzliche) Quellen, um sich der niederschwelligen Repräsentation des Tagesgeschehens oder zeitgenössischer Diskurse anzunähern. Dennoch ist die Koordinate ‚Zeit‘ in der Medienhistoriographie bisher selten explizit konzeptualisiert worden (Stöber 2008; Hömberg/Schmolke 1992, hier insbesondere Hemels, Hömberg, Wilke; Dooley 2010; vgl. auch Wald 2009). Die Verbindung zwischen Zeitungen als Chroniken ihrer Gegenwart einerseits und der ‚professionellen‘ Historiographie andererseits wurde erst in ihren Grundzügen adressiert (Pompe 2012, Wilke 2009; vgl. allgemein Erll 2017, Kap. 5). Die Erforschung intermedialer Austauschprozesse zwischen Zeitungen und anderen (periodischen) Medien hat ebenfalls jüngst wichtige Impulse erfahren (Bellingradt 2014; Detering 2017). Vor diesem Hintergrund wollen wir transdisziplinär über vier vorwiegend praxeologische Zusammenhänge nachdenken, diskutieren und schließlich schreiben:

Beschleunigung und Verlangsamung im Spiegel der Tages- und Wochenpresse
In dieser Sektion soll der mediale Blick auf den Nachrichtenfluss thematisiert werden. Beispielsweise können die folgenden Fragen adressiert werden:
- Wie reagierten die Redaktionen technisch auf die wahrgenommene Beschleunigung der eintreffenden Nachrichten, etwa in der Verkürzung von Intervallen zwischen den Ausgaben oder mit der Ausweitung einzelner Nummern?
- Welche textuellen oder paratextuellen Informationen finden sich zur ‚viralen‘ Geschwindigkeit von mündlich verbreiteten Gerüchten, über das zeitraubende Abwägen verschiedener geschriebener und gedruckter Neuigkeiten und schließlich über das Warten auf offizielle, durch die penible Zensur verlangsamte offizielle, ultimative, politisch approbierte ‚Wahrheiten‘ in den „Großmamas“ des Nachrichtenmarkts, wie M. F. Trenk von Tonder die Hofzeitungen nannte?
- Wie schätzten Zeitungsredaktionen die Postmodalitäten und ihre Geschwindigkeit ein, und wie versuchten sie, die Nachrichtenbeschaffung und auch die Distribution ihrer Presseprodukte zu beschleunigen?
- Wie wurde die Einrichtung des französischen (optischen) Telegraphennetzwerks als merkwürdige und wirkmächtige Leistung rezipiert?
- Wie reagierten die Redaktionen auf Schwankungen des Nachrichtenflusses (z.B. mit Kürzungen in Hochkonjunkturen beziehungsweise mit ‚Füllmaterial‘ in weniger versprechenden Flauten, vor allem zur Winterszeit)?
- Welche Ratschläge hinsichtlich der Zeitökonomie des Zeitungslesens wurden an das Publikum erteilt?

Philologische Parameter
Die Repräsentation des Zeitgeschehens verlangt spezifische (sachliche und literarische) Darstellungsweisen. In diesem Zusammenhang bitten wir um Überlegungen zu den Modalitäten des Berichtens und Erzählens und deren Implikationen:
- Wie steht es mit verschiedenen ‚Zeitebenen‘, die sich insbesondere in der Tagesberichterstattung von mehr oder weniger weit entfernten geographischen Ereignisräumen (in Zusammenhang mit ausgedehnten Kriegsschauplätzen oder mit der Reisediplomatie) ergeben und die einander direkt oder indirekt beeinflussten?
- Wie arbeiteten Autoren mit einer Art 'Zeitlupe' beziehungsweise 'Zeitraffer', um Ereignisse einerseits genau, unmittelbar, authentisch (z.B. mit Minuten-, Stunden- und Tagesangaben) einzufangen und um andererseits kurz-, mittel- und langfristige Prozesse zu erklären?
- Wie wurden überhaupt Zeit beziehungsweise der Zeitstrang erzählerisch (etwa in P. Ricoeurs Sinn) geformt?
- Wechselten Autoren zwischen verschiedenen Zeitformen, insbesondere aus Artikulationen der Vergangenheitsform ins Präsens oder Futur (II)?
- Wie beeinflussten die Notwendigkeiten von Serialität sowie Periodizität den Text (etwa in der Verwendung von Cliffhangern)?
- Welche typographischen Mittel (wie Gedankenstriche, Strichpunkte, Fragezeichen) trugen zu Verlangsamung oder Beschleunigung des Lesens bei?

Intermediale Perspektiven
Unter diesem Stichwort möchten wir herausarbeiten, wie Tages- und Wochenzeitungen, Monats- oder Quartals-Zeitschriften sowie Almanache und Kalender oder auch ephemere Neujahrsbillets das Zeitgeschehen, Entwicklungen und Diskurse in spezifischer Weise repräsentierten. In diesem Zusammenhang können die folgenden Fragen behandelt werden:
- Wie wurden Ereignisse oder Prozesse in verschiedenen periodischen Medien durch einen Autor, innerhalb eines Verlags oder in einem regionalen oder überregionalen Medienverbund repräsentiert und quasi wiederverwertet?
- Welche Inhalte und Textgattungen (wie Briefe, Anekdoten, Originaldokumente) in der umfassenden und facettenreichen Tagesberichterstattung wurden in Zeitschriften und schließlich in Kalender übernommen, und wie gestalteten sich 'Destillate'?
- Welches zusätzliche, zeitaufwändigere, textuelle und bildliche Material wird andererseits in Zeitungen nachgereicht, um Ereignisse zu erklären oder um in ereignisarmen Zeiten die Zeitungsausgaben zu füllen?
- Welche Gedanken drückten Redakteure aus, wenn es um die Tradierung von zeithistorischen Informationen und Quellenbeständen jenseits des Bedürfnisses der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ging?

Populäre Analysen von Zeitströmungen
Politische und moralische Räsonnements zum Jahreswechsel in Prosa und Versform waren ein wiederkehrendes Element in der frühneuzeitlichen periodischen Presse, und eröffnen Perspektiven auf die Konzeptualisierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Stellungnahmen zu den folgenden Fragen sind willkommen:
- Welche sachlichen, satirischen, dystopischen und utopischen Entwürfe lassen sich finden?
- Welche Rolle spielten (religiöse) Ewigkeit und Unendlichkeit in einer vorwiegend weltlichen medialen Ausrichtung?
- Wie wurden neue, konzeptuell aufgeladene Zeitrechnungssysteme wie der französische Revolutionskalender hinterfragt?
- Wie kann die Wahrnehmung von ‚Zeitgenossenschaft‘, die anhand von Beispielen aus dem 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert entwickelt wurde, für eine Betrachtung der Gemeinschaftsbildung im späten, ‚frühnationalen‘ 18. Jahrhundert adaptiert werden?

Die erwähnten Zusammenhänge sind als Impulse zu verstehen, die auch weitergedacht und ergänzt werden können.

Bitte senden Sie Ihren Vorschlag (ca. 300 Worte) in deutscher oder englischer Sprache bis 19. April 2019 an an.golob@uni-graz.at . Die angenommenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden bis Ende Mai informiert. Ein Sammelband mit ausgewählten Beiträgen ist angedacht, der Abgabetermin für die ausgearbeiteten Beiträge wird Ende Dezember 2019 sein. Reise- und Aufenthaltskosten können leider nicht übernommen werden, für Speis und Trank wird gesorgt werden.

Literaturauswahl

D. Bellingradt, Forschungsbericht: Periodische Presse im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 69 (2014).
Th. Birkner, Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605 – 1914 (Köln 2012).
N. Detering, Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit (Köln/Weimar/Wien 2017).
B. Dooley (Hg.), The Dissemination of News and the Emergence of Contemporaneity in Early Modern Europe (Farnham 2010).
A. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung (Stuttgart 2017).
W. Hömberg/M. Schmolke (Hgg.), Zeit. Raum. Kommunikation (München 1992).
H. Pompe, Famas Medium. Zur Theorie der Zeitung in Deutschland zwischen dem 17. und dem mittleren 19. Jahrhundert (Berlin/Boston 2012).
P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, 2 Bde (München 1988f.).
R. Stöber, Medien und Zeit. Was machen die Medien mit der Zeit – was macht die Zeit mit den Medien? In: K. Arnold/M. Behmer/B. Semrad (Hgg.), Kommunikationsgeschichte. Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch (Berlin 2008).
R. Stöber, Mediengeschichte. Die Evolution „neuer“ Medien von Gutenberg bis Gates. Eine Einführung (Wiesbaden 2003).
J. Wald, Periodicals and Periodicity. In: S. Eliot und J. Rose (Hgg.), A Companion to the History of the Book (Chichester 2009).
J. Wilke, Journalismus und Geschichtsschreibung. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 11 (2009).
Perception and Concepts of Current Events and Time in Early Modern Newspapers
University of Graz, 19 and 20 September 2019

The dimension ‘time’ plays a basic role for the daily press and is firmly established in the consciousness of media studies and media history. The journal „medien und zeit“ (“media and time”) prominently places special emphasis on this connexion in its title; Th. Birkner conceived his “History of Journalism in Germany” under the motto “Soliloquy of Time” (Birkner 2012). Historians use newspapers as (additional) sources to approach easily accessible representations of current affairs or discourses. Nevertheless, the coordinate ‘time’ has been rarely explicitly conceptualised in media historiography (Stöber 2008; Hömberg/Schmolke 1992, here in particular Hemels, Hömberg, Wilke; Dooley 2010; cf. also Wald 2009). The connection between newspapers as chronicles of their present on the one hand and ‘professional’ historiography on the other has only been addressed in its outlines (Pompe 2012, Wilke 2009; cf. in general Erll 2017, ch. 5). Research on intermedial exchange processes between newspapers and other (periodical) media has recently profited from important impulses, as well (Bellingradt 2014; Detering 2017). Against this background, we want to transdisciplinarily think, discuss and finally write about four foremost praxeological connections:

Acceleration and retardation as reflected in the daily and weekly press
In this section the glance of media on the current of news shall be thematised. For instance, the following questions can be addressed:
- How did editors technically respond to the perceived acceleration of incoming news, for example by reducing the intervals between issues or expanding single copies?
- Which textual and paratextual information can be found on the ‘viral’ velocity of rumours which spread from mouth to mouth, on the time-consuming evaluation of written and printed news and finally on the waiting time for official, ultimate, politically approved ‘truths’, slowed down by meticulous censorship and included in the “grannies” (“Gromamas”) of the news trade, as M. F. Trenk von Tonder termed court newspapers?
- How did newspaper offices assess post facilities and their speed, and how did they try to accelerate the acquisition of news and also the distribution of their press products?
- How was the establishment of the French (optical) telegraph network received as a noteworthy and powerful innovation?
- How did editors react to fluctuations of the flow of news (e.g. with abbreviations in boom periods or ‘filling material’ in less promising slack seasons, especially during winter time)?
- Which advice was offered to the audience on the economy of time in newspaper reading?

Philological parameters
The representation of current news needs specific (functional and literary) modes of presentation. In this respect we ask for deliberations on the modalities of reports and narratives and their implications:
- What about different ‘levels of time’, particularly resulting from daily reports from more or less distant geographical spaces of events (connected with vast war theatres or with traveling diplomacy) which influenced each other directly or indirectly?
- How did authors work with some sort of ‘slow motion’ or ‘time lapse’, respectively, to capture events precisely, immediately, authentically (e.g. indicating minutes, hours or days) on the one hand, and to explain short-, mid- and long-term processes on the other?
- How was time, or the stream of time, respectively, narratively morphed (for example in P. Ricoeur’s sense)?
- Did authors switch between different modes of tense, especially from articulations of past tense to present tense or future (perfect)?
- How did the necessities of seriality as well as periodicity influence the text (perhaps in the usage of cliffhangers)?
- Which typographic means (such as dashes, semicolons, interrogation marks) contributed to the retardation or acceleration of reading newspaper texts?

Intermedial perspectives
Under this heading we want to elaborate how daily and weekly newspapers, monthly or quarterly magazines and almanacs as well as calendars or even ephemeral new-year cards represented current events, developments and discourses in a specific way. In this context, the following answers can be dealt with:
- How were events and processes represented and recycled in different periodical media by a single author, within a publishing house and in regional or supra-regional media clusters?
- Which contents and text genres (such as letters, anecdotes, original documents) of the encompassing and multifaceted texts in the daily press were absorbed into magazines and eventually in calendars, and which shape did ‘distillates’ take?
- Which additional, more time-devouring textual and pictorial material was supplied in newspapers on the other hand, to explain events or to fill up the newspaper copies in uneventful times?
- Which ideas did editors express when it came to passing on contemporary information and sources beyond the needs of contemporaries?

Popular analyses of contemporary issues
Political and moralistic reasoning in prose and verse at the turn of the year was a recurrent element in early modern periodical media and provides perspectives on the conceptualisation of past, present and future. Comments on the following questions are welcome:
- Which sober, satirical, dystopic and utopic drafts can be found?
- Which role did (religious) eternity and infinity play in a predominantly worldly media setting?
- How were new, conceptually connoted calendars like the French Republican Calendar questioned?
- How can the perception of ‘contemporaneity’ which was developed with examples from the 16th to the early 18th centuries, be adopted to look at community building in the late, ‘early-national’ 18th century?

The mentioned connections should be understood as impulses which can be further developed and supplemented.

Please send your proposal (approx. 300 words) in German or English to an.golob@uni-graz.at until 19 April 2019. Accepted participants will be informed by the end of May. An edited volume with a selection of papers is envisaged, extended papers will be due by the end of December 2019. Unfortunately, we are not able to support travel or accommodation, however, catering will be provided.

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D. Bellingradt, Forschungsbericht: Periodische Presse im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 69 (2014).
Th. Birkner, Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605 – 1914 (Köln 2012).
N. Detering, Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit (Köln/Weimar/Wien 2017).
B. Dooley (Hg.), The Dissemination of News and the Emergence of Contemporaneity in Early Modern Europe (Farnham 2010).
A. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung (Stuttgart 2017).
W. Hömberg/M. Schmolke (Hgg.), Zeit. Raum. Kommunikation (München 1992).
H. Pompe, Famas Medium. Zur Theorie der Zeitung in Deutschland zwischen dem 17. und dem mittleren 19. Jahrhundert (Berlin/Boston 2012).
P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, 2 Bde (München 1988f.).
R. Stöber, Medien und Zeit. Was machen die Medien mit der Zeit – was macht die Zeit mit den Medien? In: K. Arnold/M. Behmer/B. Semrad (Hgg.), Kommunikationsgeschichte. Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch (Berlin 2008).
R. Stöber, Mediengeschichte. Die Evolution „neuer“ Medien von Gutenberg bis Gates. Eine Einführung (Wiesbaden 2003).
J. Wald, Periodicals and Periodicity. In: S. Eliot und J. Rose (Hgg.), A Companion to the History of the Book (Chichester 2009).
J. Wilke, Journalismus und Geschichtsschreibung. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 11 (2009).

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Andreas Golob

Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Geschichte, Geschichte der Frühen Neuzeit

an.golob@uni-graz.at


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