Die Spuren von Marx und Engels in Lateinamerika sind weitverzweigt und verworren zugleich. Zum einen sind die Bezugspunkte auf das Gedankengut der beiden sozialistischen Vordenker unübersehbar – was in Gesellschaften mit großer sozialer Ungleichheit, oligarchischen Herrschaftsverhältnissen und autoritären Staaten, Aufstandsbewegungen und Revolutionen sowie der imperialen Nähe der USA nicht überraschend erscheinen mag –, zum anderen ist jedoch deren Gedankengut erst relativ spät in Lateinamerika rezipiert worden und zudem nie als fertiges Passepartout der Gesellschaftsveränderung verstanden worden – was wiederum an den vielfältigen Formen einer sozialistischen Praxis ablesbar ist. Umso interessanter ist es, einmal nach den verschlungenen Pfaden des Marxismus / Engelsismus in Lateinamerika zu fragen und den Wirkungen des Denkens der beiden Autoren – hier vor allem von Engels – nachzugehen.
Am ersten Konferenztag stehen dabei die Wirkung sozialistischer Ideen, die Rolle des Marxismus und dessen gesellschaftliche Rezeptionsbedingungen in Lateinamerika im Mittelpunkt. Welche Rolle spielten Marx und Engels in Lateinamerika? Wer hat auf die beiden Autoren Bezug genommen? Wo sind ihre Schriften rezipiert worden und wie wurden ihre Ideen in die Praxis umgesetzt? Dabei geht es auf der einen Seite um die durchaus verheißungsvolle Utopie eines Sozialismus, auf der anderen Seite um die folgenreiche Realität in der Verwirklichung des Sozialismus. Inwiefern steht das utopische Denken und die Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus Pate bei den diversen revolutionären Bewegungen? Wie sah und sieht die Praxis linker Experimente in Lateinamerika aus? Wurden hier Ideen von Marx und Engels diskutiert? Oder sind vielmehr die meisten Bewegungen ohne tiefergehende theoretische Bezüge zu den Vordenkern des Sozialismus ausgekommen – und waren lokale Theoretiker und vor Ort entwickelte Denkmodelle wichtiger?
Neben diesem eher ideen- und theoriegeschichtlichen Zugriff auf die Bedeutung von Engels, soll der Zugriff auf den Marxismus / Engelsismus aber auch über die Realität eines Kapitalismus in Lateinamerika erfolgen, der extreme soziale Ungleichheiten kennt, der seit langem ein integraler Bestandteil im Prozess der Globalisierung ist, der durch verantwortungslose und korrupte Eliten gekennzeichnet ist – und mithin eigentlich ein idealer Nährboden für die Ausbreitung sozialistischer Ideen sein könnte. Doch lassen sich die sozialen Ungleichheiten überhaupt im Rahmen einer marxistischen Gesellschaftsanalyse verstehen? Sind die Klassenstrukturen in den einzelnen Ländern des Kontinents nicht zu unterschiedlich von den europäischen Vorbildern? Verlaufen die Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaften aufgrund ihrer geringeren Strukturiertheit nicht nach anderen Mustern als sich Marx und Engels dachten? Und nicht zuletzt: Was lässt sich aus den Schriften und dem Denken von Marx und Engels für die lateinamerikanischen Gegenwartsgesellschaften lernen?
Am zweiten Konferenztag – dem historischen Jahrestag des Militärputsches gegen die Regierung Allende in Chile – geht es schließlich um die vielfältigen sozialistischen Bewegungen und Realexperimente sowie das fortgesetzte Scheitern des Sozialismus in Lateinamerika. Bekanntlich haben es im 20. Jahrhundert nur ganz wenige sozialistische Bewegungen in Lateinamerika geschafft, die politische Macht zu erobern und auch dauerhaft zu sichern. In der Regel beendeten früher oder später Konterrevolutionen, Bürgerkriege, Staatsstreiche oder ausländische Interventionen die Versuche des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft. Kuba ist hier eine – eher wenig hoffnungsfroh stimmende – Ausnahme geblieben. Nur selten sind sozialistisch orientierte Parteien oder Bewegungen in demokratischen Wahlen an die Macht gekommen, häufig wurde die Macht gewaltsam erobert. Doch warum sind diese sozialistischen Experimente eigentlich gescheitert? Welche theoretischen Konzepte und welche praktischen Modelle waren für den Erfolg oder das Scheitern revolutionärer Bewegungen ausschlaggebend? Was bleibt vom sogenannten ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘? Und welche Reaktionen seitens der traditionellen Eliten gab und gibt es auf revolutionäre Umsturzversuche und die verschiedentlichen emanzipatorischen Experimente?
Diese thematischen Aspekte und inhaltlichen Bezugspunkte sollen aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels auf einer internationalen Konferenz im Rahmen des Engels-Jahres 2020 an der Bergischen Universität Wuppertal diskutiert werden. Unter dem Motto „Von Engels gelernt? Linke Utopien und emanzipatorische Praxis in Lateinamerika“ soll am 10.-11. September 2020 in thematischen Blöcken über die Auswirkungen und Folgen des Marxismus / Engelsismus für den lateinamerikanischen Kontinent nachgedacht werden. Im Rahmen der Konferenz besteht zudem die Möglichkeit, auf den Spuren von Engels in Wuppertal zu wandeln und sein historisches Wirken vor Ort kennen zu lernen.
Die internationale Konferenz wird im Rahmen des Engelsjahres „ENGELS2020 Denker Macher Wuppertaler“ organisiert von der AG Lateinamerika der Bergischen Universität Wuppertal (Prof. Dr. Peter Imbusch, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften / Prof. Dr. Matei Chihaia, Fakultät für Geistes und Kulturwissenschaften) und dem Informationsbüro Nicaragua e.V. (Klaus Heß).
Angesichts der Herausforderungen der Corona-Krise wird die Konferenz teilweise auch per ZOOM abgehalten und einige lateinamerikanische Referent_innen zugeschaltet. Alle Vorträge werden simultan ins Deutsche bzw. ins Spanische übersetzt und via Internet übertragen.
Interessent_innen melden sich bitte bis zum 31.8.2020 verbindlich mit Namen und Adresse sowie dem Stichwort „Engels2020“ unter anmeldung@infobuero-nicaragua.org für die Tagung an.