Der Begriff ‚Orient‘ ist über Jahrhunderte hinweg mit vielfältigsten Allusionen und Assoziationen verbunden, die allein durch die Nennung des Wortes in den Köpfen evoziert wurden und bis heute werden. Während insbesondere der modellhafte Charakter der Klassischen Antike für die (Frühe) Neuzeit in der Vergangenheit zunehmende akademische Aufmerksamkeit erfahren hat, ist die Rezeption, Verargumentierung und (Re-)Konstruktion des Alten Orients noch nicht in gleichem Maße untersucht worden. Zwar fokussieren nun einige Studien auf die Rezeption des Alten Orients in der Populärkultur des 20. und 21. Jahrhunderts, doch die Bedeutung des Alten Orients in der Renaissance und der Phase der Nationenbildung ist wenig beleuchtet worden. Dabei spielt auch dieser Kulturkreis eine wichtige Rolle bei der Ausbildung einer europäischen Identität, die sich immer auch aus Alteritätsdiskursen als der Konstruktion eines wie auch immer geartete „Anderen“ konstituiert. Anders formuliert: Die europäische Neuzeit definierte sich zwar zu einem großen Teil über den Bezug auf ein Modell der griechisch-römischen Antike, vergaß dabei aber die Existenz eines ‚orientalischen‘ Modells nicht.
Dabei erscheint es wichtig, auch über die Frühe Neuzeit hinaus zu greifen. Insbesondere das 19. Jahrhundert mit seinen nationalromantischen Strömungen bildet einen zentralen Moment für die Formierung europäischer Identität(en). Gleichzeitig markiert das 19. Jahrhundert die Epoche, in der die archäologischen Überreste assyrischer Stätten wie Ninive und Babylon ans Licht gebracht wurden, die der europäischen Welt vorher primär durch die biblischen Texte vertraut waren. Diese Entdeckungen führten zu einem lebhaften Interesse an den materiellen Hinterlassenschaften der altorientalischen Welt, stellten die bislang in Europa über diese Region zirkulierenden Diskurse in Frage und wirkten auch auf die nationalromantischen Deutungsmuster von Vergangenheit.
Vor diesem Hintergrund zielt die geplante Veranstaltung darauf ab, ausgehend von unterschiedlichen Fachdisziplinen (Altorientalistik, Alte Geschichte, Geschichte der Frühen Neuzeit, Kunstgeschichte, Architekturgeschichte, Literaturwissenschaft und Didaktik der Geschichte) in einem gemeinsamen Diskurs unterschiedlichen Erinnerungsgattungen bzw. Transformationsmedien, die für die (Re-)Konstruktion der antiken ‚Orients’ in der Neuzeit relevant waren, zu untersuchen.
Zentral ist dabei die diskursive Konstruktion, d.h. die sprachliche und/oder visuelle Herstellung von Sinnzusammenhängen und die dabei wirkende Selektion, Negation und Transformation von Wissenselementen über den Alten Orient. Der Fokus liegt also, einem poststrukturalistischen Ansatz folgenden, auf der Frage wie die Geschichte und Kultur der antiken Orients zwischen dem 16. und 19. Jh. gelesen, gedeutet, verargumentiert und instrumentalisiert worden sind und wie durch diesen Prozess Orientbilder geschaffen und verfestigt wurden. Dies alles geschieht, basierend auf den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, unter der Prämisse, dass das Erinnern an vergangene Ereignisse und Kulturen als Konstrukt aus der jeweiligen Gegenwart heraus und damit als erinnerungskulturelle Praxis der Selbstreflexion aufzufassen sind.
Tagungssprachen sind Deutsch, Englisch und Italienisch.
Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, werden aber gebeten, sich vorab zu registrieren, um alle relevanten Links zu erhalten. Auch werden Abstracts bereits im Vorfeld zirkuliert. Registrierung unter: ANE-reception-2021@uni-kassel.de