Digitalisierungsprojekte in den Geistes- und besonders in den Geschichtswissenschaften haben den Zugang zu Quellen in den letzten Jahren demokratisiert. Viele sammlungshaltende Institutionen wie das Bundesarchiv, aber auch regionale Anbieter wie Universitätsbibliotheken und Landesarchive stellen durch eine beständig steigende Zahl von Einzelprojekten Ressourcen und digitale Daten zur Verfügung. Zugleich befinden sich Online-Portale im Aufbau. Manche zielen vor allem darauf ab, Ressourcen zugänglich zu machen, andere wiederum verfolgen weitergehende Ziele, etwa im Bereich der digitalen Editorik oder der Ausbildung von historischer Urteilskraft. Gerade diese multifunktionalen, auf die Ausbildung von Geschichtsbewusstsein gerichteten Portale sind vielfach, wenn auch nicht ausschließlich, im Bereich der Zeitgeschichte angesiedelt, und fokussieren in ihren thematischen Schwerpunkten häufig auf den Nationalsozialismus, die Shoah, den Zweiten Weltkrieg sowie auf die europäische Besatzungsgeschichte. Ihnen gilt das spezifische Interesse dieses Workshops.
Zu den Ausganspunkten unserer Reflexion gehört die Beobachtung einer gewissen Kluft zwischen wissenschaftlich und medial-technisch aufwändiger Produktion und einer Nutzung dieses Angebots, die deutlich hinter dessen anspruchsvollen Möglichkeiten zurückbleibt. Virtuelle Museen und digital zur Verfügung gestellte Quellensammlungen laden offenbar vor allem zum Flanieren ein, ihr Material wird häufiger – ob für den schulischen Unterricht oder das Universitätsseminar – unsystematisch gegoogelt als aufgrund von zur Verfügung stehenden tools systematisch erschlossen. Eine unreflektierte Praxis trifft so auf die politische Forderung nach intensivierter und beschleunigter Digitalisierung, die angesichts der aktuellen Erfahrung der pandemie-bedingten Schließungen von Schulen und Universitäten noch deutlicher als zuvor vernehmbar ist. Doch auch jenseits der offensichtlich gewordenen Herausforderungen historischen Distanzlernens und -studierens bedürfen viele der mit der fortschreitenden Digitalisierung verbundenen Fragen einer Antwort. Zuvorderst steht eine intensivierte Reflexion über die Auswirkungen der vielfach kostenintensiven Digitalisierungsprojekte für das geschichtswissenschaftliche und fachdidaktische Quellen-, Methoden- und damit Wissenschaftsverständnis auf der Tagesordnung.
Der Workshop will deswegen zentrale Felder der Digitalisierung mit Blick auf die Zeitgeschichte und ihre Vermittlung diskutieren und dabei Spezifika einschlägiger Online-Portale eingehend betrachten. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach den Standards digitaler Repräsentationen und eine theoriereflektierende und zugleich konkrete Umsetzung angehende Operationalisierung forschungsorientierter Anliegen. Dazu gehören etwa die Transnationalisierung von Forschungsfragen von Zusammenhängen, die häufig erinnerungspoltisch-national adressiert werden (wie das Leben unter deutscher Besatzung) und die damit verbundenen Aufgaben von Übersetzung (u.a. sprachlich, aber auch wissenschaftskulturell) oder die Berücksichtigung von Quellengattungen wie etwa dem Tagebuch mit seinen Ich-Konstruktionen als typischem Quellenmerkmal, aber auch Fragen nach einem durch Digitalisierung und „Entmaterialisierung“ veränderten Quellenbegriff. Nicht zuletzt geht es dabei um die Einbettung der Digitalisierung in die mediale, methodische und inhaltliche Struktur des Faches Geschichte und den Umgang mit den gegenwärtig zu beobachtenden Verschiebungen. Diese ergeben sich zum einen dadurch, dass die Nutzung wissenschaftlicher Portale immer schon in hohem Maße durch eine vorwissenschaftliche Internet-Praxis geprägt ist (gaming, googlen, liken etc.) Zum anderen besteht ein über die Fachwissenschaft hinausgehendes, geschichtskulturelles Anliegen, diese Praxis im Sinne eines reflektierten und reflexiven historischen Wissenserwerbs weiter zu verbessern.
Konkret wollen wir uns daher den Feldern Quellenbegriff, Tools und ästhetische Gestaltung sowie Relevanz und Themenspezifik zuwenden. Mögliche Fragen, die uns interessieren, lauten:
Wann kann eine digitale Repräsentation als „angemessen“ für eine Quelle oder einen Quellenfundus betrachtet werden?
Welche daran anschließenden Überlegungen ergeben sich für eine Systematik der Quellenkritik im digitalen Zeitalter?
Welche Auswirkungen für den Quellenbegriff hat die mit der Digitalisierung einhergehende „Entmaterialisierung“ von Quellen?
Inwieweit (und wenn: mit welchen Mitteln) lässt sich der Entstehungsprozess eines Portals als digitaler Prozess sichtbar und transparent, auch für die Nutzer:innen, gestalten?
Wenn es eine Spezifik zeithistorischer Portale gibt, wie wird diese Spezifik zur Darstellung gebracht?
Welche Recherche-tools bieten Online-Editionen an und welche Konsequenzen ergeben sich daraus, speziell mit Blick auf die Entwicklung eigener Fragestellungen? Hier wäre besonders danach zu fragen, ob ausgeklügelte Suchoptionen, die längst state-of-the-art sind, Fragestellungen vorstrukturieren, statt dass diese aus originären Forschungsinteressen und dem Forschungsstand entwickelt werden.
Welche Konsequenzen hat es, dass ästhetische Erwartungen an Oberflächen-Design und Funktionalitäten im Wesentlichen durch die Entwicklungen der gaming-Szene mit beeinflusst sind? Woran ließe sich festmachen, dass bereits jetzt eine Entwicklung zu beobachten ist, bei der sich ein „spielerischer“ Erwerb von historischen Inhalten auf Kosten einer problemorientierten und kritischen Aneignung durchsetzt? Welche Schlussfolgerungen wären daraus zu ziehen?
Und, last but not least Fragen der Relevanz und Themenspezifik:
Welchen Quellenbeständen gilt das Digitalisierungsinteresse vor allem? Welche werden durch Portale erschlossen? Welche Themen geraten dabei ggf. auch aus dem Blick von Wissenschaft, Schule und Öffentlichkeit?
Mit Blick auf die Erinnerung an den Massenmord an den europäischen Juden werden in der öffentlichen Debatte häufig die Bedeutung der Begegnung mit Zeitzeug:innen sowie der Besuch einer Gedenkstätte und damit Dimensionen des „Erlebens“ in den Vordergrund gestellt. Demgegenüber braucht es eine stärkere Reflexion des Zusammenhangs von Inhalt, Repräsentation und erschließenden historischen Kategorien wie Raum und Zeit, soll die Shoah als historisches Geschehen nicht ortlos werden. Vor diesem Hintergrund ist daher auch danach zu fragen, ob die Digitalisierung die Entwicklung zur Entkontextualisierung vergangenen Geschehens verfestigt oder ob sie generell Möglichkeiten der Irritation von Geschichtsbildern bietet, die in einer analogen Welt nicht mehr bestehen.
Der Workshop ist als Präsenzveranstaltung geplant. Eine Teilnahme ist abhängig von der Pandemieentwicklung in begrenzter Anzahl möglich. Sollte die pandemische Entwicklung keine Präsenzveranstaltung zulassen, wird der Workshop in digitaler Form stattfinden.