Türkei – Emanzipation vom Nationalismus? Turkey: towards post-nationalism?

Türkei – Emanzipation vom Nationalismus? Turkey: towards post-nationalism?

Organisatoren
Schweizerische Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen in Zusammenarbeit mit der Universität Basel (Europainstitut, Historisches Seminar, Orientalisches Seminar)
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
14.10.2004 - 16.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Beatrice Montanari Häusler, Pfeffingen

Vom 14.-16. Oktober 2004 fand an der Universität Basel die öffentliche Tagung „Türkei – Emanzipation vom Nationalismus?“ statt, die von der Schweizerischen Gesellschaft Mittlerer Osten und Islamische Kulturen (SGMOIK) initiiert worden war. Organisiert hatten ihn die SGMOIK-Mitglieder Monika Winet und Martha Vogel vom Orientalischen Seminar der Universität Basel zusammen mit Hans-Lukas Kieser, Geschichtsdozent an der Universität Zürich, der die Tagung leitete. Sozial- und Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus der Türkei, Deutschland, Frankreich, der Schweiz und den USA präsentierten in Basel ihre neuesten Forschungsergebnisse. Ihre Beiträge waren auch Ausgangspunkt für die anschliessenden Diskussionen. Die Tagung verstand sich als Informations- und Austauschplattform sowohl für die Fachwelt als auch für die interessierte Öffentlichkeit. Bei dieser stiess die Konferenz auf reges Interesse. Angesichts der internationalen Teilnehmerschaft wurde die Tagung mehrsprachig auf Deutsch, Englisch und Französisch geführt.

Die Konferenz hatte sich zum Ziel gesetzt, die Entstehung, die Voraussetzungen und die Erscheinungsformen des türkischen Nationalismus im 20. Jahrhundert auszuloten, um von daher die heutigen Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Republik Türkei, sich zu einer wirklich demokratischen und pluralistischen Gesellschaft zu entwickeln, besser einzuschätzen.

Unter dem Eindruck der jüngsten Debatten um die Frage des EU-Beitritts der Türkei und im Hinblick auf Entscheidungsverkündungen über Beitragsverhandlungen im Dezember 2004 stellte Udo Steinbach (Leiter des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg) in seinem Eröffnungsvortrag Überlegungen zu den Zukunftsperspektiven der Republik Türkei an. Nach Steinbach hängt die politische Entscheidung im Dezember davon ab, ob sich die europäischen Politiker vom Status quo oder von der Perspektive dynamischer Wandlungsprozesse in den nächsten Jahren leiten lassen. Während im ersten Fall die Entscheidung negativ ausfallen würde, würde ein Ja die neuen Möglichkeiten berücksichtigen, die sich 1998 abzuzeichnen begannen: Die Islamisten fingen zu diesem Zeitpunkt an, die islamische Gesellschaft innerhalb der existierenden Grundsätze des türkischen Staates zu akzeptieren und sich darin einzufinden. Die Moderne und der Islam würden somit in einer nahen Zukunft zu einer Synthese gelangen, in der die EU als säkulare Institution und der Islam als kulturelle Tradition nicht mehr in einem Spannungsverhältnis zueinander stünden.

Anhand der vielfältigen und interessanten Beiträge der teilnehmenden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen wurde die Grundsatzfrage in den Mittelpunkt gestellt, ob die Türkei im Begriff sei, sich von der nationalistisch und kemalistisch dogmatisch geprägten republikanischen Staatsordnung hin zu einem Staatsgebilde zu entwickeln, das eine multikulturelle, offene Gesellschaft zulässt. Trotz der weiten Bandbreite an Themen war die Tagung in zwei grössere Blöcken aufgebaut. Im ersten Teil wurde schwerpunktmässig auf die Reflexion über kemalistische Politik und Ideologie, auf die Spannungen und Widersprüchlichkeiten kemalistischer Konzepte wie auch auf ihre Wurzeln in der Geschichte des Osmanischen Reiches und ihre Parallelen in der europäischen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Im zweiten Teil stand die praktische Umsetzung der Konzepte der kemalistischen Politik anhand konkreter Beispiele von Umsiedlung, Vertreibung und Völkermord bis hin zu aktuellen "postnationalen" Veränderungen in der Politik im Zentrum der Betrachtungen.

Hamit Bozarslan (Paris) eröffnete den ersten Teil mit einem Vortrag über die Entwicklung des Kemalismus hin zur Doktrin des "Turquisme total/ kémalisme universel" der 1930er Jahre. Rifat Bali (Istanbul) beleuchtete die Türkisierungspolitik der 1920er und 1930er Jahre in den Bereichen Sprache, Namensgebung, Bildungswesen und Wirtschaft, wobei er die jüdische Erfahrung in den Mittelpunkt stellte. Elise Massicard (Paris) problematisierte die Doktrin der nationalen Einheit im Hinblick auf die Aleviten, die – wie alle Nichtsunniten – im staatlichen Direktorium für religiöse Angelegenheiten nicht repräsentiert sind. Kemal Kirisci (Istanbul) widmete sich der Frage der Immigrationspolitik der Republik Türkei im Laufe des 20. Jahrhunderts, die seiner Meinung nach als Massstab für die bevorzugte Identität eines Staates angesehen werden kann, und machte aktuelle Anzeichen für einen Wandel aus. Gabriel Goltz (Ankara) beschäftigte sich mit der armenischen Minderheit, betonte noch immer bestehende Probleme (Reform der Stiftungen) und plädierte für den Abschied von der Minderheitenkonzeption des Lausanner Vertrags zugunsten allgemein menschenrechtlicher Instrumente. Hans-Lukas Kieser referierte über den Justizminister und Theoretiker der kemalistischen Ideologie Mahmut Esat Bozkurt, indem er die Sozialisierung des jungen Doktoranden Bozkurt in den ethnonationalistischen Foyers turcs der Westschweiz vor und während des Ersten Weltkriegs sowie seine Ambivalenz zwischen völkischem Türkismus einerseits und Bedürfnis nach universalen Referenzen andererseits herausstrich. Fikret Adanir (Bochum) analysierte das kemalistische Regime der Zwischenkriegszeit unter dem globalhistorischen Konzept des "native fascism". Für die Frage des Verhältnisses zwischen populärem und politischem Nationalismus einerseits und kemalistischen Prinzipien andererseits interessierte sich Ebru Bulut (Paris), wobei sie ihre Aufmerksamkeit auf die Repräsentationsformen und die diskursiven Kategorien des Nationalismus in den 1990er Jahren lenkte. Gülistan Gürbey (Berlin) stellte begriffskritische Überlegungen zum Postnationalismus vor: Sie verstand ihn als Transformationsprozess und betonte die Notwendigkeit, die heutigen Reformen auf ihre Auswirkungen in der Gesellschaft (traditionelles Verständnis versus Verinnerlichung der demokratischen Werte) zu hinterfragen. Die EU-Perspektiven der Türkei seit den 1960er Jahren waren Gegenstand des Vortrages von Eugen Krieger (Basel): Die offiziellen Parlamentsdiskussionen sprachen angesichts der geopolitischen Bedeutung der Türkei im Kalten Krieg eine andere Sprache als die inoffiziellen Dokumente. In diesen lässt sich eine ablehnende Haltung gegenüber der Türkei vor allem seitens Frankreichs und Italiens aus wirtschaftlichen, finanziellen und kulturellen Gründen herauslesen. Zum Teil stand starker US-Druck hinter den hohen Geldzahlungen an den permanent verschuldeten Militärpartner. Am Freitagabend fand eine Podiumsdiskussion zur Frage der Grenzen und Identitätsprobleme Europas unter der Leitung von Georg Kreis, dem Leiter des Europainstituts der Universität Basel statt, bei der ein reges öffentliches Interesse festzustellen war. Mit dabei war auch der in der Zeit-Debatte als Kontrahent Hans-Ulrich Wehlers bekannt gewordene Türkeiexperte Günter Seufert, der zur Zeit als Dozent an der Universität Nicosia lehrt.

Den zweiten Block leitete Fuat Dündar (Paris) ein, der über die Türkisierungs- und Islamisierungspolitik der Jungtürken zwischen 1910-1920 referierte. Im Mittelpunkt seiner Darstellung stand die wenig bekannten Umsiedlungen muslimischer Bevölkerungsgruppen (Albaner, Bosnier, Araber, Kurden, Tscherkessen) mit dem Ziel, nicht-türkische ethnisch homogene Zonen in Anatolien zu beseitigen. Mit einer ähnlichen Problematik setzte sich Berna Pekesen (Bochum) auseinander, indem sie über die (erzwungene) Massenauswanderung der Armenier aus dem Sandschak von Alexandrette (Antiochien, heutiges Syrien) in den 1930er Jahren referierte. Die Massendeportationen und der Genozid an den Armeniern bildeten die zentrale Frage des Vortrags von Raymond Kévorkian (Paris), der seine Skepsis betreffend einer zukünftigen Anerkennung der Türkei zum Ausdruck brachte. Müge Göcek (Michigan) referierte anhand des armenischen Beispiels über die Notwendigkeit neuartiger, multiperspektivischer Geschichtsschreibung in der Türkei, da die Geschichtsschreibung das soziale Gedächtnis bestimmt. Der Massenmord an den Armeniern von 1915/16 standen auch im Zentrum der Ausführungen von Seyhan Bayraktar (Konstanz). Sie untersuchte die offiziellen Diskurse im Spiegel der türkischen Presse zwischen 1970 und 2001, deren Grundmuster dieselben bleiben. Béatrice Hendrich (Giessen) untersuchte das Emblem der AKP und seine Semiotik, die einerseits aus der islamischen und andererseits der europäischen Erinnerungskultur entstammt. Den Abschluss der thematischen Panels bildete das Referat von Johann Strauss (Strassburg) über die nicht-türkische und nicht-islamische Gelehrtenwelt an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert. Auch bei ihm wurde deutlich, was Müge Göcek explizit forderte: eine Neuorientierung der Geschichtsschreibung an jener noch osmanisch-multikulturellen Zeit zuungunsten des nationalistischen Gründerdiskurses der Zwischenkriegsjahre.

Der gemeinsame Leitfaden der Beiträge bestand im Ausloten der spätosmanischen und der nationalistischen Türkei des 20. Jahrhunderts im Hinblick auf den gegenwärtigen Wandlungsprozess in der Türkei und seine Zukunftsperspektiven. Mit Postnationalismus wurde ein Zustand assoziiert, in welchem der Staat und eine ethno-religiös pluralistische (Zivil-)Gesellschaft nicht mehr im Widerspruch stehen, sondern einander konstruktiv bedingen. Übereinstimmend wurde von den Konferenzteilnehmern und -teilnehmerinnen anerkannt, dass sich die Republik Türkei in einem Veränderungsprozess befindet, dass aber die Endresultate dieses Prozesses noch ungewiss sind. Kontrovers blieben die Meinungen darüber, inwiefern der gegenwärtige - zum Teil als stille Revolution bezeichnete - Wandel auf rechtlicher und politischer Ebene dem externem Druck seitens der EU oder der gesellschaftsinternen Dynamik zuzuschreiben sei. Trotz ganz verschiedener Positionen und Blickwinkel war man sich indes darüber einig, dass die Einbindung der Türkei in die EU einen notwendigen Akt praktischer Vernunft darstellt.

Über Postnationalismus sei nicht möglich zu reden, ohne zuerst die Entstehung des türkischen Nationalismus, seine Bedeutung und seine verschiedenen Ausformungen im Laufe des 20. Jahrhunderts in Betracht zu ziehen. In diesem Sinn haben sich die Referenten mit den verschiedensten Aspekten des türkischen Nationalismus eingehend befasst. Die Annäherung an die Frage einer postnationalistischen Türkei erfolgte somit durch die Thematisierung von Fragen wie Kemalismus, Türkisierungspolitik Minderheitenrecht sowie rechtliche und ideologische Problemstellungen. Bei der Beleuchtung des türkischen Nationalismus war auch die Politik des Osmanischen Reiches Gegenstand historischer Betrachtung, weil nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten zwischen der letzten Periode des Osmanenreiches und der 1923 gegründeten Republik Türkei feststellbar sind. Im Weiteren waren sich die Konferenzteilnehmer und –teilnehmerinnen darüber einig, dass die Entwicklung einer Zivilgesellschaft in der Türkei, die nicht im Widerspruch zum Staat steht, sondern ihn als Demokratie verkörpert, einher gehen muss mit der Offenlegung von Tabuthemen, wie beispielsweise der Genozid an den Armeniern 1915/1916. Die Aufarbeitung dieser dunklen Vergangenheit einerseits und die kritische Auseinandersetzung mit der kemalistischen Ideologie, ihrer praktischen Umsetzung, ihres Gebrauchs und Missbrauchs während des 20. Jahrhunderts andererseits sollten zu einer von Dogmen befreiten türkischen Historiographie und damit zur Bildung offener Zivilgesellschaft beitragen. Die Referate haben ausserdem verdeutlicht, dass die historische Betrachtung der nationalistisch geprägten Entwicklung der Republik Türkei erstaunliche Parallelen mit den europäischen politischen und ideologischen Phänomenen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufweisen, weshalb die Auseinandersetzung mit der türkischen Geschichte allein, losgelöst von der gesamteuropäischen Geschichte dieser Epoche, nicht möglich sei. Was im Europa der Nachkriegszeit infolge der traumatischen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges zustande kam, d.h. die Überwindung eines ethnisch geprägten Nationalismus zu einem politischen Nationalismus bzw. Supranationalismus (EWG, EG und später EU), ist die Türkei zur Zeit im Begriff zu tun, mit dem Unterschied, dass dieser Transformationsprozess ohne den direkten Hintergrund der Kriegserfahrung erfolgt.

Kontakt

Beatrice Montanari
Muggenbergweg 17
CH-4148 Pfeffingen

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