Perspektiven der italienischen Religionsgeschichte vom 18. bis ins 21. Jahrhundert

Perspektiven der italienischen Religionsgeschichte vom 18. bis ins 21. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitsgemeinschaft für die Neueste Geschichte Italiens; Deutsches Historisches Institut in Rom
Ort
hybrid (Saarbrücken)
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.06.2022 - 05.06.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Jens Späth, Historisches Institut, Universität Saarland

Gleich zwei Premieren bot die 21. Tagung der AG Italien im Juni 2021 in bewährter Zusammenarbeit mit dem DHI Rom: Pandemiebedingt fand sie erstmals in hybrider Form mit einem sehr kleinen Teilnehmerkreis vor Ort und einem deutlich größeren vor den Bildschirmen statt. In inhaltlicher Hinsicht bestand die Innovation knapp 50 Jahre nach Gründung der Arbeitsgemeinschaft darin, dass mit der italienischen Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ein bisher nicht behandeltes und in der allgemeinen historischen Forschung eher als Spezialfeld geltendes Thema in den Fokus rückte. Umso erfreulicher war die Resonanz mit einem Dutzend Referentinnen und Referenten aus Deutschland, Italien und Polen, die in vier chronologisch-thematisch gefassten Sektionen mit rund zwei Dutzend fachkundigen und interessierten Zuhörenden ins Gespräch kamen.

In der ersten Sektion über religiöse Minderheiten und Nonkonformismus um die Zeit der italienischen Nationalstaatsgründung schlug zunächst DAVIDE ARTICO (Wroclaw) eine kritische Lektüre der Zeitschrift Educatore Israelitica (1853-1874) vor. Das von Giuseppe Levi im piemontesischen Vercelli publizierte Organ mit gesamtitalienischem Anspruch sollte als Informationsblatt über das jüdische Gemeindeleben und als Laboratorium für das orthodoxe Judentum im politisch und religiös seit 1848 toleranten Königreich Sardinien-Piemont fungieren. Mit der Gründung des Nationalstaats gelangten schnell Themen wie der laizistische Staat oder die Gleichheit der Geschlechter auf die Agenda. Insgesamt präsentierte der Referent die Zeitschrift als Ausdruck der Akkulturation jüdischer Intellektueller im vereinten Italien.

LAURA POPA (Gießen) hingegen legte ihren Fokus auf waldensische Grundschullehrerinnen im nationalstaatlichen Gründungskontext und verdeutlichte am herausragenden Beispiel Giuseppina Pusterlas die Rolle von Frauen bei der evangelischen Mission ganz Italiens. In den erhaltenen Briefen der Protagonistin kamen multiple Identitäten waldensischer Frauen sehr gut zum Ausdruck. Überdies verdeutlichte das Thema einen großen Mehrwert, wenn, wie hier geschehen, Fragen der italienischen Politik in religions- und geschlechtergeschichtliche Zusammenhänge eingebettet werden.

Als nächste Referentin rief COSTANZA D’ELIA (Cassino) die lange Zeit vergessene und verdrängte Geschichte des freimaurerisch-laizistischen Antikonzils von 1869 in Neapel in Erinnerung. Sie verstand das Antikonzil als Prisma für die Beziehungen zwischen katholischer Kirche als Wächterin der irdischen Gesellschaft und der zivilen italienischen Gesellschaft, gab aber zu bedenken, dass kein Parlamentarier und nicht einmal Giuseppe Mazzini die vom neapolitanischen liberalen Adligen Giuseppe Ricciardi gegründete Bewegung unterstützten. Rationale liberale Laizisten und radikale Demokraten experimentierten im Antikonzil letztlich erfolglos mit dem Transfer ihrer religiösen Ideen in die politische Sphäre.

Im Anschluss an die erste Sektion plädierte ANDREA CIAMPANI (Rom) in seinem Abendvortrag dafür, Archivrecherchen mit politischen Metareflexionen zu verbinden und nannte als wichtige Aufgabe dabei den Dialog zwischen Politik- und Religionsgeschichte, um die hochspezialisierten und selten kommunizierenden Felder wieder zusammenzuführen. Im längeren Betrachtungszeitraum zwischen Nationalstaatsgründung und zweiter Nachkriegszeit identifizierte er drei Forschungsstränge, die ihm besonders fruchtbar und innovativ erschienen: erstens das Vatikanische Konzil in Verbindung mit italienischer und internationaler Politik, Diplomatie, Religion und Kultur; zweitens das Verhältnis zwischen Katholiken und Konservativen mittels Schlüsselbegriffen wie patria und in politik- sowie kulturgeschichtlicher Perspektive; und drittens Rom und der Heilige Stuhl in den Jahren 1943/44 als politisches Laboratorium. In seinen weiteren Ausführungen ging er auf jeden der drei Stränge kurz vertiefend ein.

Die zweite Sektion behandelte dann den Katholizismus in kolonialen und imperialen Kontexten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Zunächst berichtete KATHARINA PIEPER (Mainz) über das Hilfswerk der katholischen Missionare – der Associazione Nazionale per Soccorrere i Missionari Cattolici Italiani (ANSMCI) – und deren Wirken in China um 1900, als im Zuge des Boxeraufstandes chinesische und ausländische Christen, darunter 26 italienische Missionare, getötet wurden. Italien bekam daraufhin bis 1947 ein kleines Gebiet als Entschädigung zugesprochen und stilisierte seinerseits die Opfer zu nationalen Märtyrern, wozu auch eine explosionsartige Zunahme italienischer Publikationen über China kurz nach 1900 beitrug.

Anschließend hinterfragte PÉTER TECHET (Freiburg) im Zusammenhang intra-ethnischer Konflikte im habsburgischen Istrien des frühen 20. Jahrhunderts kritisch das tradierte Narrativ der Nationalitätenkonflikte. Er stellte seinen Ausführungen die Beobachtung voran, wonach dieses Narrativ innerethnische Konflikte verschleiere und Identitäten ausklammere, die nationales Clusterdenken sprengten. In dieser Hinsicht präsentierte er Nationalismus als eine Form des Diskurses über Deutungshoheit. Dabei konnten nationale Elemente politische Positionen innerhalb derselben Nationalität markieren, nationale Indifferenz oder eher andere Wahrnehmungen der nationalen Identität herrschen. Im istrischen Kontext zählten sowohl der Loyalismus zu den Habsburgern als auch der Katholizismus zu den Verlierern der Geschichte.

Die folgende dritte Sektion setzte sich aus drei Beiträgen zu Religion, Kirche und Konfession während des Faschismus zusammen. Den Auftakt machte ANDREAS STEGMANN (Berlin) mit seiner Analyse der Römisch-Katholischen Kirche auf der einen und der evangelischen Freikirchen auf der anderen Seite. Trotz des eklatanten zahlenmäßigen Ungleichgewichts beider Kirchen sah er im Faschismus eine kirchengeschichtliche Herausforderung angesichts dessen totalitären Zugriffs auf Gesellschaft und Kirche. Der Faschismus stellte sich ihm zufolge für die Protestanten als viel einschneidender dar als für die Katholiken, da die katholische Mehrheitsgesellschaft und der faschistische Staat ab den Lateranverträgen 1929 antiprotestantische Kampagnen forcierten.

Unter diesem Wegfall der Religionsfreiheit in Italien litten auch die italienischen Juden. Wie RUTH NATTERMANN (Florenz) am Beispiel des politisch links einzuordnenden jüdischen Frauenbunds im faschistischen Italien erläuterte, wurde dieser zwar als „Brutstätte eines gefährlichen antifaschistischen Interventionismus“ beäugt, aber dennoch geduldet, weil er in Gestalt des Zionismus und der Solidarität mit Palästina im Wettlauf um mediterranen Einfluss gegenüber Großbritannien Nutzen versprach. Erst mit den Rassegesetzen 1938 lässt sich dann in den weitgespannten transnationalen Netzwerken des Frauenbundes ein verstärkter Antifaschismus ausmachen.

An diesem Schlüsseldatum setzte der dritte Vortrag von MIRJAM SPANDRI (München) über Selbstwahrnehmungen und Verhaltensweisen italienischer Juden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an. Freilich sei die antisemitische Wende in Italien bereits zwei Jahre zuvor anzusetzen und dem Mythos, es habe keinen Antisemitismus in Italien vor 1938 gegeben, entschieden zu widersprechen. Wie die Referentin anhand reicher Briefquellen zeigen konnte, wurden jüdische Frauen und Männer in dieser Zeit aus einem immer größer werdenden Handlungsdruck heraus aktiv und entwickelten eine eigene Agency. Das individuelle Verhalten zwischen politischen und religiösen Fragen offenbarte dabei eine große Bandbreite an Selbstzuschreibungen.

Die letzte Sektion umfasste erneut drei Beiträge, die sich alle mit der Phase des Übergangs nach dem Sturz Mussolinis 1943 und der zweiten Nachkriegszeit beschäftigten. LAURA DI FABIO (Trient) präsentierte erste Erkenntnisse ihrer alltags- und emotionsgeschichtlichen Analyse von bisher unbekannten jesuitischen Tagebüchern für die Jahre 1943 bis 1945. Deren Autoren beobachteten in Mittel- und Norditalien während der Okkupation das Kriegsgeschehen und die Gesellschaft im Krieg überaus aufmerksam. Zudem wurden sie selbst im Bildungswesen oder im Antifaschismus aktiv, halfen der Zivilbevölkerung während des Krieges und unterstützten Geflüchtete. Sie nahmen also eine wichtige Position als soziale Vermittler in der italienischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung ein.

Chronologisch und thematisch hervorragend an seine Vorrednerin anknüpfen konnte PASCAL OSWALD (Saarbrücken), der in seinem Projekt das Verhalten der italienischen Gesellschaft zwischen Resistenza und faschistischer Republik von Salò im selben Zeitraum erforscht und in einer ebenfalls alltags- und emotionsgeschichtlich geprägten Studie die polarisierte und mythengeladene Historiographie um eine differenziertere Geschichte von unten ergänzen möchte. Im Fokus seiner Arbeit sollen Aspekte der öffentlichen Meinung stehen, wie sie in Polizei- und Militärquellen, in der Postzensur und in Tagebüchern erkennbar werden.

Die Jahre zwischen Kriegsende und den späten 1950er-Jahren nahm schließlich LUIGI CICCHINI (Cassino) unter einer weniger bekannten Perspektive in den Blick. Er präsentierte erste Befunde seines Projektes über die Bewegung junger katholischer Akademiker, die stärker die kulturellen und politischen Eliten des Landes durchdringen sollten als bisher. Anhand mehrerer Zeitschriften der Bewegung können ihre Institutions- und Sozialgeschichte sowie ihre Funktion für die politische Kultur des Katholizismus rekonstruiert werden. Ziele der Organisation waren also zum einen katholische Lobbyarbeit und zum anderen die Bildung eines natürlichen Rekrutierungsreservoirs der Democrazia Cristiana.

Trotz der pandemiebedingten Einschränkungen und des neuartigen hybriden Formats erwies sich die 21. Tagung der AG Italien wieder als Ort lebendiger Diskussionen spannender Forschungsprojekte. Das religionsgeschichtliche Rahmenthema stellte sich als überaus anregend und vielschichtig dar. Insgesamt gelang es, einerseits durch zahlreiche jüdische und protestantische Perspektiven den Mythos der katholischen Nation Italien weiter zu differenzieren und andererseits Andrea Ciampanis Plädoyer für eine stärkere Verbindung und Zusammenführung von Politik-, Religions- und – so wäre zu ergänzen – Sozial- und Kulturgeschichte bereits in vielversprechenden Ansätzen umzusetzen.

Konferenzübersicht:

Gabriele B. Clemens (Saarbrücken) / Martin Baumeister (Rom): Begrüßung und Einführung

Panel 1: Religiöse Minderheiten und Nonkonformismus um die Zeit der Nationalstaatsgründung
Sektionsleitung: Gabriele B. Clemens (Saarbrücken)

Davide Artico (Wroclaw): “Educatore Israelita”: emuli della Wissenschaft des Judentums nell’Italia unita

Laura Popa (Gießen): La vita e le attività di Giuseppina Pusterla, la prima maestra elementare del progetto nazionale valdese di evangelizzazione dell’Italia (1863-1871)

Costanza D‘Elia (Cassino): Una storia rimossa: l’Anticoncilio di Napoli (1869)

Abendvortrag
Andrea Ciampani (Rom): Storia religiosa e storia politica. La S. Sede, la Chiesa e i cattolici nel Regno d'Italia: attraversando Porta Pia e Porta San Paolo

Panel 2: Katholizismus im kolonialen und imperialen Kontext
Sektionsleitung: Amerigo Caruso (Bonn)

Katharina Pieper (Mainz): Annäherung im imperialen Kontext – die Associazione Nazionale per Soccorrere i Missionari Cattolici Italiani (ANSMCI) und die „chinesischen Entschädigungen“

Péter Techet (Freiburg/Br.): Italienischsprachiger Katholizismus als nationale Indifferenz? Intra-ethnische Konflikte im habsburgischen Istrien im frühen 20. Jahrhundert

Panel 3: Religion, Kirche und Konfession während des Faschismus
Sektionsleitung: Amerigo Caruso (Bonn)

Andreas Stegmann (Berlin): Italienische Kirchen im totalitären Staat. Römischer Katholizismus und freikirchlicher Protestantismus zwischen 1922 und 1945

Ruth Nattermann (München): Gegen den „Mythos der katholischen Nation“. Religion, Transnationalismus und Zionismus des jüdischen Frauenbunds im faschistischen Italien

Mirjam Spandri (München): Juden in Italien während Ausgrenzung, Verfolgung und Holocaust (1938-1945): Subjektive Wahrnehmungen und Verhaltensweisen

Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft

Panel 4: (Religiöse) Handlungsspielräume zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit
Sektionsleitung: Jens Späth (Saarbrücken)

Laura Di Fabio (Trient/Rom): Pastorale e assistenza religiosa mentre tutto crolla. Storie di gesuiti, popolazione civile e truppe militari nell’Italia occupata (1943-1945)

Pascal Oswald (Saarbrücken): Eine „breite Grauzone“? Das Verhalten der Italiener zwischen Resistenza und Republik von Salò 1943–45

Luigi Cicchini (Cassino): Il Movimento Laureati di Azione Cattolica nel secondo dopoguerra (1945 – 1958)


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