Der Nachwuchsworkshop der AG Landesgeschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands wird alle zwei Jahre angeboten und wurde erstmals vom wissenschaftlichen Nachwuchs der AG eigenständig organisatorisch und inhaltlich gestaltet.
Nach Grußworten von Martin Göllnitz (Marburg) und Oliver Auge (Kiel) führte Markus Müller (München) thematisch in den Workshop ein und hob die inhaltlichen Schwerpunkte des Workshops hervor. Ziel war es, Zeit als Diskussionspunkt des wissenschaftlichen Arbeitens zu erfassen. Als Orientierungshilfen dienten dabei die Konstrukte von Chronologie, Historischer Zeitwahrnehmung und der Analyse von Kontinuität und Wandel. Im Hinblick auf die Chronologie galt es, deren Abhängigkeit von regional unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, aktuellen Geschehnissen und einer bereits vor Schreibbeginn eingenommenen Perspektive des Verfassers zu beachten. Unter Historischer Zeitwahrnehmung fasste Müller deshalb auch alle kulturellen, sozialen und politischen Einflüsse zusammen, die den Schreiber in irgendeiner Art und Weise geprägt haben. Auch sei es notwendig, das gängige Fortschrittsnarrativ der historischen Forschung zu hinterfragen und gezielt Themen zu beleuchten, in denen ein wie auch immer geartetes Scheitern greifbar werde. Die landesgeschichtliche Forschung sei ein geeignetes Mittel zur Kontextualisierung verschiedener Wahrnehmungsformen von Zeit und gängigen Erzähltraditionen. In einer darauffolgenden ersten Diskussionsrunde wurde deshalb vor allem die Notwendigkeit von epochen- und disziplinübergreifendem Forschen hervorgehoben, um den Anforderungen einer so breit angelegten Untersuchung gerecht zu werden.
PHILIPP WOLLMANN (München) eröffnete das erste Panel mit einem Vortrag über die Entwicklung des römisch-kanonischen Rechts in den bayerischen Diözesen des 12. und 13. Jahrhunderts. Ausgehend von der These, dass dieses vor allem durch päpstliche Legaten und delegierte Richter verbreitet wurde, zeigte Wollmann eine breite Spannweite der zeitlichen Einführung des römisch-kanonischen Rechts im Untersuchungsraum auf. Als solches definierte er eine Form des Gelehrtenrechts mit einheitlich geregelten Verfahrensweisen im Prozessverlauf. In der folgenden Diskussion hob er zudem die Bedeutung der neuen Gerichtsbarkeit für die langfristige Erhaltung bereits bestehender Institutionen hervor. Es wurde kritisch diskutiert, inwieweit den mittelalterlichen Zeitgenossen ein langfristiges Denkvermögen nach heutigen Maßstäben unterstellt werden kann und ob die Handlungen nicht Ergebnis situativer Reaktionen auf aktuelle Probleme der Zeitgenossen waren, die im Folgenden weitergetragen wurden und in einer Traditionsbildung endeten.
LEA WEGNER (Tübingen) behandelte die Wahrnehmung des Württemberger Bauernaufstands von 1525 aus der Perspektive der Aufständischen und regionalen Amtsträger. Obwohl die Geschehnisse eine Zäsur in der württembergischen Historiographie darstellten, habe der Untersuchungszeitraum bislang nur geringfügig Beachtung in der Forschung gefunden. Wegner arbeitete vor allem die unterschiedlichen Formen der Zeitwahrnehmung unter den Akteuren des Aufstandes heraus. So sei unter den Amtsträgern der habsburgischen Statthalterschaft, die sich der Bewahrung des bisherigen Status quo verpflichtet sahen, ein anwachsendes Bedrohungsgefühl erkennbar. Dieses sei vor allem durch massenhaft eingeholte, teils als unzuverlässig zu bewertende Informationen zum Aufstandsgeschehen verstärkt worden. Im Gegenzug dazu konstatierte Wegner bei den Aufständischen eine zukunftsgerichtete, nach Veränderungen strebende Erwartungshaltung. Hinzu käme ein wachsendes Landesbewusstsein des Herzogtums, das durch den fremdherrlichen Charakter der Statthalterschaft zusätzlich verstärkt worden sei. In der Diskussion wurde vor allem die Thematik dieses atemporalen Landesbewusstseins aufgegriffen, wobei Wegner hervorhob, dass eine gewisse Kontinuitätsentwicklung des Landesbewusstseins schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts einsetzte und eng an die damalige Grafschaft geknüpft war. Dabei sei die Landschaft sowohl eine regionale wie auch eine politische Institution; eine strikte Unterscheidung zwischen beiden sei nicht konsequent möglich.
FRANZISKA SEDLMAIER (München) behandelte die Thematik der (Jahres-)Zeit als Faktor in der Mobilisierung naturaler Ressourcen für die Armeen Bayerns im Dreißigjährigen Krieg. Sie blickte auf den Begriff der Zeit aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: als „kultureller Ordnungseinheit” und als „natürlicher Rhythmisierung des Jahres”. Erstere sieht Zeit als Konstrukt für Orientierung und Einordnung im Sinne des Dreischrittes Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft und beinhaltet das Rechnen mit Zeit. Anhand von verschiedenen Briefwechseln stellte Sedlmaier dar, wie unter Kurfürst Maximilian I. in die Vergangenheit zurückgeblickt wurde, um von dort Wissen zu generieren und Zukunftsplanungen zu vollziehen. Einen weiteren Aspekt jener Handlung stellten Formen von Gegenwartsanalysen dar, mit denen kommende Entwicklungen kalkuliert wurden. Als Beispiel dafür thematisierte Sedlmaier einen im Frühjahr abgefassten Brief, in dem Prognosen über die vorhandenen Ressourcen für den Rest des Jahres gestellt wurden. Dann ging sie der Funktion der Zeit als Element der „natürlichen Rhythmisierung des Jahres“ nach. Hierbei fungierten die Jahreszeiten als bestimmende Faktoren für die Planung von Alltag und Produktion. So sei es beispielsweise notwendig gewesen, das Getreide vor dem Wintereinbruch zu mahlen, weil die Mühlen bei Frost nicht funktionierten. Jene jahreszeitlich bestimmten Vorgänge waren auch Gegenstand der intensiven Diskussion, wobei die Versorgung von Winterquartieren im Krieg gesondert behandelt wurde. Dabei sei vor allem die Vermeidung zusätzlicher Belastungen für die Umwelt bedeutsam gewesen. Für die zukunftsgerichtete, kalkulierte Planung mit der Zeit müsse zudem von einem gleichbleibenden Geschichtsbild ausgegangen werden.
REGINA FÜRSICH (Stuttgart) beschloss das erste Panel mit einem Vortrag zu korporativen Strukturverschiebungen in der Reichsritterschaft infolge des Reichsrittersturms 1803/04. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildete dabei die Kommunikation innerhalb des reichsritterlichen Gesamtdirektoriums, das mit der der Okkupation zahlreicher ehemaliger Standesgebiete in eine Krisensituation geraten war. Unter dem Gesichtspunkt der periculum in mora habe das Direktorium einen enormen Handlungsdruck wahrgenommen und deshalb ein Konservatorium zum Schutz der Reichritterschaft ins Leben gerufen. Für die Auswirkungen der Gesamtritterschaft verwies Fürsich auf das Kocherische Zirkularvotum von 20. März 1804. In der Krisensituation sei ein Anstieg der Entscheidungen und Handlungen ohne vorherige Rücksprache mit dem Direktorium zu verzeichnen gewesen. Dieses sei aufgrund des krisenbedingten Zeit- und Handlungsdrucks als „Vollzugsorgan, aber kein Entscheidungsorgan” angesehen worden. In der Diskussion wurden die Begriffe periculum in mora und „Notdurft“ als Rechtfertigung zum Handeln in Notsituationen thematisiert. Ein zusätzlicher Aspekt war die weitere Entwicklung der Reichsritterschaft nach der Krise des Reichsrittersturms, die nur kurzfristig überwunden werden konnte. Dies lag unter anderem daran, dass die im Direktorium gefassten Beschlüsse nur teilweise umgesetzt und das Organ nur bedingt handlungsfähig gewesen sei.
Im öffentlichen Abendvortrag befasste sich FERDINAND KRAMER (München) mit der Bedeutung des epochenübergreifenden Arbeitens in der Geschichtswissenschaft und der Landesgeschichte. Sein Augenmerk lag unter anderem auf der longue durée und dem Anthropozän. Das Niederschreiben und Aufbewahren von Geschichtsgut sei schon in früheren Jahrhunderten von großer Bedeutung gewesen, da das menschliche Sein seit jeher auf die Zukunft ausgerichtet sei. Kontinuität sei hierbei schon lange von Bedeutung, jedoch dürfe nicht der Fehler gemacht werden, Linearitätskonstruktionen aufzustellen. Was die longue durée in der Landesgeschichte betrifft, sei es wichtig, kleine Änderungen beispielsweise anhand von Annalen über lange Zeiträume wahrzunehmen. Von großer Bedeutung sei es auch, diachrone Vergleiche über Zeitebenen anzustellen, um tatsächlichen Wandel sowie Brüche und Fortschritt, aber auch Tradition und Restauration festzustellen. Als Beispiel führte Kramer die Umweltgeschichte und die Idee des Anthropozäns an: Unter der Annahme, menschliche Interventionen veränderten die Welt in kürzester Zeit auf globaler Ebene, sei eine epochenübergreifende Betrachtung klimatischer Veränderungen und (der Häufung von) Katastrophen in größeren Zeiträumen vonnöten. Laut Kramer ist es daher von Bedeutung, die epochenübergreifenden Perspektiven in der Landesgeschichte auszuweiten, die nötigen Kompetenzen zu entwickeln und zu pflegen. Er plädierte zudem für eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit auch mit den Naturwissenschaften. In der Diskussion schloss sich die Thematisierung der grenzenübergreifenden Betrachtung an, da eine Konzentration auf einen Raum schließlich nicht zu dessen Abschottung führe. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wurde intensiv diskutiert und befürwortet, auch wenn man die Sachverhalte zuerst individuell aus der eigenen Identität untersuchen müsse, um einen lohnenswerten Austausch zu gewährleisten.
Das zweite Panel eröffnete CAROLINE ELISABETH WEBER (Sønderborg) mit ihrer Darstellung deutsch-dänischer Erinnerungskultur in Nordschleswig. Am Beispiel der Düppeler Höhe und des Knivsbergs hob Weber die Bedeutung beider Orte für die dort lebende Bevölkerung hervor. So bildete die unmittelbar an der heutigen deutsch-dänischen Grenze gelegene Düppeler Höhe nach den Gebietsverlusten im Deutsch-Dänischen Krieg einen Sehnsuchtsort im dänischen Nationalgefühl. Hingegen fungierte der Knivsberg, die höchste Erhebung Schleswigs, als ein wichtiger Propagandaort des Deutschen Kaiserreichs. Mit der Sprengung der dort befindlichen Bismarckstatue am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde nicht nur eine symbolische Unabhängigkeit der Dänen, sondern auch deren Abgrenzung gegenüber Kollaborateuren mit den Nationalsozialisten innerhalb der lokalen deutschsprachigen Minderheit deutlich. Ausgehend von unterschiedlichen Narrativen der Grenzbedeutung für die lokale Bevölkerung, wurde in der Diskussion der Begriff „Grenzbewohner“ diskutiert und diese – der Definition von Weber folgend – als Personen festgelegt, die in irgendeiner Form in ihrem alltäglichen Leben von einer Grenze betroffen seien.
FELICIA ENGELHARD (Kiel) zeigte gesellschaftliche Wertvorstellungen deutscher Farmer in den afrikanischen Kolonien auf, wobei sie exemplarisch die Familie Cramer behandelte. Im Zentrum stand ein von Ada Cramer 1913 veröffentlichtes Buch, das parallel zu einer Gerichtsverhandlung gegen ihren Ehemann Ludwig Cramer entstand. Dieser war angeklagt, seine afrikanischen Arbeiter zu misshandeln. Auch wenn die weiße Bevölkerung im Kolonialgebiet wohl große Anteilnahme an dem Prozessgeschehen zeigte, stellt es in Ada Cramers Buch nur eine Randnote dar. Der Schwerpunkt sei hingegen die retrospektiv geschilderte Siedlungsgeschichte der Cramers und die Kritik an dem aus Sicht der Autorin milden Umgang der Kolonialverwaltung mit den Eingeborenen. Besonders abwertend und rassistisch sei die Beschreibung der indigenen Bevölkerung, deren härtere Behandlung Cramer forderte. Engelhard wertete das Buch als beispielhafte Quelle für das Selbstverständnis der deutschen Farmer, die sich als wirtschaftliche Lebensgrundlage der Kolonie verstanden hätten und deren Gewalt gegen die Eingeborenen aus einer Vorstellung von rechtmäßiger staatlicher Ordnung und Kontrolle resultiert sei. Ausgehend von der Frage nach der eigenen Zeitwahrnehmung der Autorin sei zudem zu konstatieren, dass die autobiographische Schrift Ada Cramers auch eine Teilnahmefunktion an gesellschaftlichen und politischen Debatten in der Heimat erfüllt habe. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage nach einer möglichen Endzeitstimmung unter den Kolonisten. Zwar habe man sich wohl nicht vorstellen können, dass die eigene Tätigkeit in Afrika zeitnah enden könne, allerdings haben viele deutsche Farmer die Zusammenarbeit mit den – aus ihrer Sicht faulen und minderwertigen – Afrikanern als einen solch enormen Kampf empfunden, dass er in ihrer Wahrnehmung einer Endzeitentwicklung geglichen habe.
KNUT-HINRIK KOLLEX (Kiel) sprach über den Kieler Matrosenaufstand als Ausgangspunkt der Revolution von 1918 und stellte anhand dieses Beispiels die Frage, inwieweit das richtige Timing entscheidend für den Ausgang und die weitere Wahrnehmung einer Revolution sei. So stünde dem zumeist als anarchisch wahrgenommen Matrosenaufstand die sogenannte friedliche Wende des Mauerfalls gegenüber. In der Diskussion wurde intensiv die These diskutiert, ob Revolution nicht oftmals mit negativen Bedeutungszuschreibungen von Unordnung, Gewalt und Anarchie verbunden werde. Ausgehend vom in der westlichen Mentalität verankerten Fortschrittsgedanken der Aufklärung seien Revolutionen zudem ein besonderes Beispiel für die Freude an der Erforschung von Ereignissen, deren Ausgang entweder eine positive oder zumindest langfristige Wirkung auf die Gesellschaft haben, wohingegen jene Entwicklungen weniger enthusiastisch bearbeitet würden, die (wie auch immer) gescheitert seien.
In der Zusammenfassung von Evelien Timpener (Gießen) und der darauffolgenden Abschlussdiskussion wurden insbesondere die vielschichtigen Funktionen der Zeit in historischer Perspektive deutlich. Klassischerweise werde Zeit vor allem als strukturelles Element aufgefasst; eine Befassung mit ihrer Mehrdimensionalität ermögliche es hingegen, der Zeit auch eine kulturelle und identitäre Funktion beizumessen. In der Diskussion wurde zudem explizit auf die Forschungstendenz hin zur erfolgreichen Meistererzählung verwiesen, wohingegen der Mut zur Thematisierung von Rückschritten und Scheitern wesentlich geringer ausfalle. Um bislang geltende Narrative perspektivisch zu erweitern, sei es deshalb notwendig, dass auch Entwicklungen des Scheiterns eine stärkere Präsenz in der historischen Forschung erfahren. Stark hervorgehoben wurde die Bedeutung epochenübergreifender Forschungsprojekte, wodurch soziale, politische und religiöse Einflüsse und Entwicklungen tiefergehender untersucht werden und interdisziplinäre Studien gefördert werden könnten.
Konferenzübersicht:
Oliver Auge (Kiel), Martin Göllnitz (Marburg): Begrüßung
Markus Müller (München): Thematische Einführung
Panel 1
Philipp Wollmann (München): Konvergente oder divergente Entwicklung? Zur Frage der Etablierung des römischkanonischen Rechts anhand der päpstlichen Delegationsgerichtsbarkeit in den bayerischen Diözesen (12. und 13. Jhd.)
Lea Wegner (Tübingen): Krise und Konstruktion Indirekte Zeitkonzepte im Herzogtum Württemberg während der habsburgischen Statthalterregierung
Franziska Sedlmaier (München): Zeit-Rechnung im Krieg. Der Faktor (Jahres-)Zeit in der Mobilisierung naturaler Ressourcen für die Armeen Bayerns im Dreißigjährigen Krieg
Regina Fürsich (Stuttgart): „periculum in mora“ Korporative Strukturverschiebungen in der Reichsritterschaft durch krisenbedingten Zeitdruck
Öffentlicher Abendvortrag
Moderation: Evelien Timpener
Ferdinand Kramer (München): Von den Anfängen bis zur Gegenwart – Longue durée – Anthropozän. Landeshistorische Traditionen und die neue Bedeutung epochenübergreifender Perspektiven in der Geschichtswissenschaft
Panel 2
Caroline Elisabeth Weber (Sønderborg): Mapping a Minority. Erinnerungskultur & Narrative der Deutschen Minderheit in Nordschleswig
Felicia Elisa Engelhard (Kiel): „Milde gegen die Schwarzen ist eine Grausamkeit gegen die Weißen“. Gesellschaftliches Weltbild und kolonialer Farmalltag im ehemaligen „Schutzgebiet“ Deutsch-Südwestafrika
Knut-Hinrik Kollex (Kiel): Wer zu spät kommt. Die Revolution und die Bedeutung des Augenblicks
Abschluss
Evelien Timpener (Gießen): Zusammenfassung
Abschlussdiskussion