Zur methodischen Einführung in das Tagungsthema stellte DAVID FEEST (Lüneburg/Hamburg) unterschiedliche Formen des Präsentismus vor. So unterschiedliche theoretische Richtungen wie Droysens Historik, der radikale Konstruktivismus und die Tartuer-Moskauer Schule der Semiotik haben sich mit dem Problem beschäftigt, dass die Vergangenheit immer nur aus der Gegenwart heraus verstanden werden kann. Der Vortrag zeigte unterschiedliche Wege auf, in denen diese Erkenntnis in die Geschichtswissenschaft integriert werden kann.
Die ersten beiden inhaltlichen Vorträge beschäftigten sich in diesem Sinne mit einer Neufassung der baltischen, aber auch der allgemeinen Osteuropäischen Geschichte. So mahnte der neue Kommissionsvorsitzende KARSTEN BRÜGGEMANN (Tallinn) in seinem Vortrag „Baltikumforschung und osteuropäische Geschichte“ die Verortung der deutschsprachigen baltischen Geschichtsschreibung im größeren Kontext der Osteuropaforschung an. Ausgehend von der Beobachtung, dass die traditionelle deutschbaltische Geschichtsschreibung, aber auch die modernen nationalen Historiografien Estlands und Lettlands die imperialen Bezüge der eigenen regionalen Vergangenheiten vernachlässigt hätten, sah er gerade auf diesem Gebiet Anknüpfungspunkte mit der Osteuropaforschung. Im Zuge der viel beschworenen Dezentrierung der Russlandforschung und angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine werde den Archiven der baltischen Staaten in Zukunft ohnehin mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Darin liegen seiner Meinung nach gute Kooperationsmöglichkeiten. Eine Dezentrierung der Geschichtsschreibung forderte auch MARTIN AUST (Bonn) in seinem Vortrag „Die langen Abschiede von den Imperien: Zyklen der Dekolonialisierung in der Osteuropäischen Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert“. Der im Zuge des russischen Kriegs gegen die Ukraine immer wieder laut gewordene Ruf nach einer Dekolonialisierung der Geschichte birgt seiner Meinung nach die Gefahr einer nicht-intendierten Fokussierung auf die Geschichte Russlands. Demgegenüber verspreche der Begriff der Dezentrierung eine notwendige Erhöhung der Aufmerksamkeit für nichtrussische Geschichten im Zarenreich und der Sowjetunion. Im übrigen sei sie eine Aufgabe, der sich die Osteuropäische Geschichte schon seit langem zugewandt habe: zunächst in den 1960/70er Jahren in Abgrenzung von der Ostforschung, sodann in einer ersten Etappe der Dezentrierung der Geschichte des Zarenreiches und der Sowjetunion. In den 1990er Jahren habe die Forschung zu Ostmitteleuropa und der Ukraine bereits mehr Aufmerksamkeit als während des Kalten Krieges erhalten. Diese Art der Forschung gelte es nun mit noch größerer Kraft fortzuführen.
Den Wandel von Interpretationen bestimmter historischer Personen und Ereignisse aus verschiedenen Gegenwartsperspektiven wurde anhand von Beispielen aus ganz unterschiedlichen Epochen dargestellt. JUHAN KREEM (Tallinn) beschäftigte sich mit Wolter von Plettenberg im estnischen Geschichtsbild („Der livländische Ordensmeister Wolter von Plettenberg in seiner Bedeutung für das estnische/estländische Geschichtsverständnis im 19. Jahrhundert“). Während der alte Ordensmeister eine wichtige Figur in der Heldengalerie der Deutschbalten sei, besitze er bei den Estinnen und Esten keine so zentrale Stelle. Nichsdestoweniger könne man feststellen, dass Plettenberg auch unter letzteren nicht nur durch die estnischsprachige Literatur (Kalender, Zeitungsbeiträge, Schulbücher) durchaus bekannt war, sondern das Wissen auch mündlich (über die Stände und Sprachen) weitergegeben wurde. Das Gesamturteil über Plettenberg fiel dabei ähnlich wie bei den Deutschbalten aus: Plettenberg wurde als erfolgreicher Kriegsherr und weiser Herrscher präsentiert, der gegenüber der Reformation positiv eingestellt war. Auch der Vortrag „The Baltic Middle Ages and the Question of Colonialism. Rereading Historiography in the Age of Decolonisation“ von LINDA KALJUNDI (Tallinn) behandelte unterschiedliche Perspektiven der estnischen und deutschbaltischen Bevölkerung, bezog aber zusätzlich einen Wandel der Interpretationen im Laufe der Jahrhunderte mit ein. Am Beispiel des Begriffs „Kolonialismus“ zeigte sie, wie eine Interpretationsfigur für das estnische Mittelalter über die Jahrhunderte hinweg immer neue Bedeutungen annahm. Deutschbaltische Deutungen wie die Legende von der „Aufsegelung“ beflügelten nach ihrer Darstellung deutsche koloniale Phantasien eines Kolonialismus ohne Kolonien. Noch in der Zwischenkriegszeit bedienten sich deutschbaltische Historiker eines kolonialen Vokabulars, wenn sie die Eroberung als erfolgreiches deutsches Siedlungsprojekt beschrieben. Im estnischen Diskurs der Zwischenkriegszeit, und in abgewandelter Form auch unter der Sowjetherrschaft, habe dagegen der Aspekt der Fremdherrschaft im Mittelpunkt gestanden. Integrativere Zugänge gewannen erst im 21. Jahrhundert an Bedeutung, als sich die Meinung durchzusetzen begann, dass das estnische Mittelalter nicht getrennt vom europäischen Mittelalter behandelt werden könne. Damit markiere das Mittelalter laut Kaljundi auch eine Verbindung des estnischen Gebiets mit dem europäischen kulturellen Raum. Eine Bestätigung für diese Umwertung lieferte JÜRGEN VON UNGERN-STERNBERG (Basel) in seinem Vortrag „Die Übergabe der Petrikirche in Riga an die deutschsprachige Gemeinde im historischen Kontext“. Er nahm diesen Vorgang aus dem Jahr 2022 zum Anlass, über die Bedeutung der Kirchen für die Stadt im Laufe der Jahrhunderte nachzudenken. Im Kontrast zu einem früheren Streit um die Jakobikirche und den Dom erscheint ihm der Vorgang als Ausdruck einer neuen Bewertung der (deutschbaltischen) Vergangenheit, die nun einen europäischen Kontext eingebettet wurde.
Andere Vorträge behandelten weniger die Umdeutung als das Vergessen vergangener Ereignisse und Verbindungen. So behandelte BOGUSŁAW DYBAŚ (Toruń) die polnischen Wahrnehmungen der Verbindungen zwischen Polen und Alt-Livland („Präsenz der baltischen/livländischen Themen im polnischen kollektiven Bewusstsein“). Diese waren besonders in der frühen Neuzeit in Hinblick auf Latgale (Polnisch-Livland) sehr lebendig gewesen. Im 19. und 20. Jahrhundert bildete sich in der polnischen Sprache sogar ein eigener Begriff für Livland heraus: „Inflanty“. Doch überwog laut Dybaś die Trennung zwischen Polen auf der einen, Lettland und Estland auf der anderen Seite, die während der sowjetischen Zeit noch begünstigt wurde. Trotz der Zunahme privater und offizieller Kontakte nach 1991 sei Livland in der polnischen Gesellschaft immer noch wenig bekannt und werde heute als eine eher exotische Erscheinung angesehen. Der Vortrag von MART KULDKEPP (London) „Potential for Historical Debates? The Recent Centenaries of the Estonian Independence Declaration, the Estonian War of Independence and the Tartu Peace Treaty“ analysierte das Vergessen an einem konkreten Beispiel. Im Zentrum stand das nationale Programm zur Feier des 100. Jahrestages der Unabhängigkeit der Republik in den Jahren 2017–2020. Dabei stellte Kuldkepp die Frage nach möglichen historischen Debatten darüber, welche historischen Ereignisse zu diesem Anlass hätten gefeiert werden können, aber nicht gefeiert wurden. Anhand verschiedener Beispiele zur Diskussion über die Erlangung der estnischen Unabhängigkeit und den Unabhängigkeitskrieg zeigte er, wie bestimmte Ereignisse dem Bedürfnis nach gradlinigen Geschichtserzählungen zum Opfer fallen.
Wie auch materielle Hinterlassenschaften Gegenstand von Kontroversen über die Geschichte sein können, wurde in zwei Beiträgen untersucht. MARTINS MINTAURS (Rīga) gab in seinem Vortrag „Fighting the Soviet Heritage in Latvia, 2020–2022“ einen kurzen Überblick über die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Gedenken an die sowjetische Periode in der Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert. Das so genannte „sowjetische Erbe“ in Form von Objekten der monumentalen Bildhauerei und Architektur, die zwischen 1945 und 1991 entstanden sind, sei schon lange Gegenstand von Diskussionen und Kontroversen über die Einstellung zur sowjetischen Erfahrung in Lettland gewesen. Aber erst nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 habe die Dekonstruktion der im öffentlichen Raum ausgestellten Relikte aus der Sowjetzeit eine institutionelle Grundlage erhalten. VIOLETA DAVOLIŪTĖ (Vilnius) behandelte in ihrem Vortrag „Attitudes towards the Soviet past in contemprorary Lithuania“ mit reichlichem Bildmaterial die entsprechenden Vorgänge in Litauen. Sie unterschied dabei drei Phasen der Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Erbe: die durch nationale Selbstvergewisserungen geprägte frühe Phase von der Perestroika bis 1998, an die sich eine Zeit der Dezentrierung der eigenen Narrative anschloss. In dieser Phase, die sie mit der Integration des Landes in die europäischen Debatten charakterisiert, war die Erforschung des Holocaust zentral. Seit 2008 sei die Erinnerung unter dem Aspekt der „Securitization“ zu sehen, der in erster Linie durch die sukzessiv zunehmend aggressive Politik des russischen Nachbarn hervorgerufen worden sei.
Somit war auch der seit 2014 währende russische Krieg gegen die Ukraine als Trigger von Umdeutungen der Vergangenheit ein Thema der Tagung. PÄRTEL PIIRIMÄE (Tartu) analysierte, wie die russische Invasion in die Ukraine Vorstellungen einer Theorie des „gerechten Krieges“ verändert habe („The significance and contemporary relevance of ‘just war’ theory“). Seiner Meinung nach vollzog die russische Außenpolitik, nachdem sie die Begründungen aller von westlichen Staaten geführten Kriege auf Grundlage des internationalen Rechtes zurückgewiesen hatte, ab 2014 eine graduelle Kehrtwende. Zwar behauptete sie eine „Schutzverantwortung“ angesichts eines angeblichen Genozidversuchs ukrainischer Nazis. Doch seien diese Begründung ebenso unglaubwürdig geblieben wie die Fiktion einer „militärischen Spezialoperation“ ab Februar 2022, die in einer langen Tradition von „Nicht-Kriegen“ in der europäischen Geschichte gedeutet werden könne. Letztlich verursachte das Fehlen eines casus belli sowie die Abwesenheit ernsthafter Versuche, das eigene Vorgehen zu legitimieren, im Westen eine moralische Reaktion, die mit jener von 2014 nicht vergleichbar sei. Auf einer Podiumsdiskussion behandelten zum Abschluss MART KULDKEPP, VALTERS NOLLENDORFS (Riga), EVA-CLARITA PETTAI (Flensburg) und GUSTAVS STRENGA (Greifswald) die Frage, welchen Einfluss der russische Krieg gegen die Ukraine grundsätzlich auf die Geschichtskultur der baltischen Staaten habe.
Konferenzübersicht:
David Feest (Lüneburg): Einführung in das Tagungsthema
Karsten Brüggemann (Tallinn): Baltikumforschung und Osteuropäische Geschichte
Martin Aust (Bonn): Die langen Abschiede von den Imperien: Zyklen der Dekolonialisierung in der Osteuropäischen Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert
Juhan Kreem (Tallinn): Der livländische Ordensmeister Wolter von Plettenberg in seiner Bedeutung für das estnische / estländische Geschichtsverständnis im 19. Jahrhundert
Linda Kaljundi (Tallinn): The Baltic Middle Ages and the question of colonialism. Rereading historiography in the age of decolonisation
Jürgen von Ungern-Sternberg (Basel): Die Übergabe der Petrikirche in Riga an die deutschsprachige Gemeinde im historischen Kontext
Pärtel Piirimäe (Tartu): The significance and contemporary relevance of “just war” theory
Bogusław Dybaś (Toruń): Präsenz der baltischen / livländischen Themen im polnischen kollektiven Bewusstsein
Mart Kuldkepp (London): Potential for historical debates? The recent centenaries of the Estonian independence declaration, the Estonian War of Independence and the Tartu Peace Treaty
Violeta Davoliūtė (Vilnius): Attitudes towards the Soviet past in contemprorary Lithuania
Martins Mintaurs (Rīga): Fighting the “Soviet Heritage” in Latvia 2020–2022
Podiumsdiskussion: Der Krieg gegen die Ukraine und die Geschichtskultur in Ostmitteleuropa
Moderation: David Feest (Hamburg)
Mart Kuldkepp (London) / Valters Nollendorfs (Riga) / Eva-Clarita Pettai (Flensburg) / Gustavs Strenga (Greifswald)