Die vorliegende Arbeit ist eine an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommene Habilitationsschrift. Sie entstand im Rahmen eines international besetzten Forschungsprojekts zur Geschichte des Reichsfinanzministeriums, das vom Bundesfinanzministerium initiiert worden war. Damit reiht sich die Arbeit formal ein in den Reigen jener zahlreichen zeit- und verwaltungshistorischen Veröffentlichungen, die ob ihres Entstehungszusammenhangs im Zuge der in der zurückliegenden Dekade von nahezu allen Bundesministerien und obersten Bundesbehörden betriebenen historischen Aufarbeitung ihrer institutionellen Vergangenheit mit durchaus pejorativem Unterton als „Auftragsforschung“ kategorisiert werden.1 So richtig es in der Fülle der in diesem Kontext erschienenen Arbeiten unstreitig ist, dass darunter eine ganze Reihe wissenschaftlich wenig ergiebige und uninspirierte Studien zu finden sind, die sich in einer Nacherzählung von Geschäftsverteilungsplänen erschöpfen, so wenig trifft diese Kritik auf die vorliegende Arbeit zu, die eben dies gerade nicht tut.
Ihr Ansatz ist vielmehr, aus der Geschichte des Reichsfinanzministeriums zwischen Gründung 1919 und Ende des Zweiten Weltkriegs die Metamorphosen der Vorstellung von Staatlichkeit deutscher Verwaltungseliten zu extrapolieren. Und dies gelingt, so viel sei vorweggenommen, in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnet. Denn was auf den ersten Blick eher nach trockener und altbekannter Materie und Fragestellung klingt, erweist sich als überzeugende und schlüssig argumentierte Revision bisher lange in verschiedenen Spielarten dominierender Geschichtsbilder vom Wesen insbesondere nationalsozialistischer Staatlichkeit. Denn egal, ob die Forschung die nationalsozialistische Herrschaft bisher als „Hitlerismus“, als polykratisches Personenverbundsystem in permanenter Selbstauflösung oder als Exponat einer – wie auch immer sich materialisierenden – „neuen Staatlichkeit“ begriffen hat, sie alle verstehen den NS-Staat als systemisch defizitär, weil von der Norm des rational-modernen Anstaltsstaates Weberscher Prägung abweichend.
In Abgrenzung zu diesen (so muss man mit Erscheinen der vorliegenden Arbeit sagen) überkommenen Ansätzen eröffnet die Verfasserin ein grundlegend neues Verständnis eines altbekannten Gegenstands durch die bewusste Einnahme einer dezidiert anderen Perspektive. Diese ergibt sich aus der institutionellen Lebensdauer des Untersuchungsgegenstands, weil die Betrachtung der Geschichte des Reichsfinanzministeriums die gemeinhin den Blick der Forschung präfigurierende politische Zäsur des Jahres 1933 nivelliert und damit bewusst oder unbewusst eher die Kontinuitäten statt der Brüche in der Geschichte der Behörde hervortreten lässt. Indem die Verfasserin die Geschichte des in dieser Form neuen Reichsressorts mit den jeweiligen politisch-administrativen Debatten um das Wesen von Staatlichkeit verknüpft, wird die Geschichte des Reichsfinanzministeriums zugleich zu einer Geschichte eben der Genese dieses deutschen Staatsverständnisses in der Epoche der Weltkriege. Dabei zieht sich wie ein roter Faden die Erkenntnis durch die Arbeit, dass weder das bis zum Ersten Weltkrieg in vielen Bereichen noch vormoderne Staatswesen des Kaiserreichs noch das aus den Erfahrungen des Krieges heraus sich entwickelnde Staatswesen der Weimarer Republik in normativer Hinsicht als Wertmaßstab taugen, an dem gemessen der NS-Staat seine eigene (Un-)Staatlichkeit und defizitäre administrative Wesenheit bezeugt (S. 11).
Ohne dass Stefanie Middendorf dies explizit ausführt, wird klar, dass das bisher dominierende Staatsverständnis insbesondere der deutschen Zeitgeschichtsschreibung dem NS-Staat als Untersuchungsgegenstand nicht hinreichend gerecht wurde, weil die Forschung ihren Gegenstand im Zuge eines impliziten Vergleichs stets im Spiegel eines dafür wenig geeigneten, weil ahistorischen Idealtypus betrachtet hat. Zwar gab es in der Vergangenheit ähnliche Befunde von disziplinären Grenzgängern zu lesen, die zurecht die Frage stellten, inwieweit sich etwa das paradigmatische Staatsverständnis Max Webers tatsächlich in der (deutschen) Verwaltungsgeschichte materialisiert hatte2, doch so deutlich und überzeugend wie in der vorliegenden Arbeit hat dies noch kein Mitglied der historischen Zunft analysiert. Dabei versteht die Verfasserin Staatlichkeit nicht als überzeitliche Konstante, sondern jeweils als Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, d.h. Aushandlungsprozesse (S. 494). In diesem Sinne war das Verständnis von Staatlichkeit in dem von der vorliegenden Arbeit betrachteten Untersuchungszeitraum vor allem geprägt von einer Beständigkeit des Unbeständigen, weil das zur Sphäre des Politischen hin anschlussfähig gemachte Staats- und Verwaltungswesen damit zugleich selbst zum Gegenstand politischer Aushandlungsprozesse wurde und damit aufhörte, im vormodernen Sinne statisch zu sein.
Infolgedessen wurde, so die Verfasserin, auch die Beamtenschaft insofern entscheidend konditioniert, als die Erfahrung von Krise und Außerordentlichem bestimmend wurde. Ministerium und die das Ressort tragende Beamtenschaft entwickelten ein Bewusstsein von der Normalität des Außernormativen und durchliefen einen Prozess der Gewöhnung an notstandsmäßige, den situativ eigentlich geltenden Rechtsrahmen bewusst überschreitenden Exekutivmaßnahmen, bei denen die verfassungsmäßige Beteiligung des Parlaments im Sinne einer aus Ressortsicht erfreulicherweise erfolgenden schrittweisen Reduzierung von Aushandlungskomplexitäten immer weiter marginalisiert wurde. Zwar führe „[v]on den Erfahrungen der Notstände in den Gründungs- wie in den Krisenjahren des Weimarer Staates […] keine ungebrochene Linie zur perpetuierten Ausnahmeherrschaft des Nationalsozialismus“ (S. 499), doch bildete allein schon die semantische und habituelle Vertrautheit im Umgang mit Krisen- und Notstandssituationen eine Brücke, über die große Teile der Mitarbeiterschaft ins „Dritte Reich“ zu gehen vermochten, ohne die erst retrospektiv als fundamentale Zäsur erscheinende Machtübernahme 1933 schon zeitgenössisch als solche wahrzunehmen.3 Dabei spielte auch eine Rolle, dass auch eine vermeintlich so einschneidende Erfahrung wie die Implementierung des Gesetzes zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums (BBG) bereits im Frühjahr 1933 in der Wahrnehmung der Beamtenschaft des Reichsfinanzministeriums strukturell homolog mit früheren Maßnahmen zur Verwaltungsrationalisierung durch Personalabbau erfahren wurde. Dies galt umso mehr, als gerade im Reichsfinanzministerium das Gros der vom BBG betroffenen Beschäftigten nach den Paragraphen 5 und 6 des Gesetzes relegiert wurden, die im Sinne von Gummiparagraphen bewusst dieses Narrativ bedienten (S. 340 u.ö.).
Auf diese Weise gelingt der Autorin mittels einer exemplarischen Analyse eines unstreitigen Schlüsselressorts im deutschen Staatsgefüge überzeugend der Nachweis, dass die Frage nach dem Wesen der Staatlichkeit eben nicht statisch, sondern jeweils prozessual im Kontext der politischen Aushandlungsprozesse der Systeme Politik, Verwaltung und Gesellschaft zu beantworten ist. Indem das Reichsfinanzministerium als Teil des Staatsapparats mit fortschreitender Dauer des „Dritten Reichs“ neuerlich in eine Phase extraordinärer Krisenhaftigkeit geriet, kehrte es als Institution gewissermaßen zu seinen Ursprüngen und damit seinem Wesenskern zurück: Krisenbewältigungsbehörde zu sein, die flexibel in der Lage war, sich verändernden Gegebenheiten anzupassen und insofern modern im Sinne einer Outputorientierung im Gegensatz zu einer klassisch-normativen Prozessorientierung zu handeln.4
Mittels dieser und weiterer plausibler Beispiele vermag die Autorin den überzeugenden Nachweis zu führen, dass es mit der gewaltsamen Ausschaltung des Parteienpluralismus, der Machtkämpfe um die Haushaltsaufstellung, die Finanzierung des Kriegs und die Organisation der wirtschaftlichen Ausplünderung des besetzten Europa zwar eine signifikante „Ausweitung der Kampfzone“ in der nationalsozialistischen Phase des Reichsfinanzministeriums gab, dass die grundlegenden Erfahrungen einer fluiden politisch-administrativen Situation aber keineswegs neu waren, sondern im Gegenteil an spezifische Elemente des behördlichen wie persönlichen Erfahrungshaushalts der Bediensteten aus der Früh- und Spätphase der Weimarer Republik anknüpfen konnten. So überzeugend die Arbeit also mit Blick auf den eigenen Untersuchungsgegenstand zu argumentieren vermag, so sehr wünscht man sich nun an ihren Ergebnissen anknüpfende Folgeuntersuchungen weiterer NS-Behörden. Dabei wird mit Spannung abzuwarten sein, inwieweit sich der analytische Rahmen der vorliegenden Studie als verallgemeinerbar und damit von nachhaltigem, generellem Erkenntniswert für das Verständnis des NS-Herrschaftssystem erweisen wird.
Anmerkungen:
1 Zum Kontext vgl. Niels Weise, „Mehr als Nazizählerei“. Die Konjunktur der behördlichen Aufarbeitungsforschung seit 2005, in: Magnus Brechtken (Hrsg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Göttingen 2021, S. 386–404.
2 Wolfgang Seibel, Beyond Bureaucracy. Public Administration as Political Integrator and Non-Weberian Thought in Germany, in: Public Administration Review 70 (2010), S. 719–730, sowie ders., Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin 2016.
3 Tatsächlich ließe sich auch die Frage aufwerfen, inwieweit das Aufkommen bestimmter Krisennarrative in der Spätphase der Weimarer Republik Ergebnis eines authentischen Empfindens ihrer Urheber oder vielleicht auch Mittel zum Zweck waren, einen Handlungsrahmen herbeizureden, in dem die Anwendung außernormativer Maßnahmen als Ausnahme von der Regel akzeptiert wurde.
4 Methodologisch-theoretische Anleihen bei der zumeist als neoliberal gekennzeichneten Governance-Forschung finden sich in der vorliegenden Arbeit nicht explizit, doch besteht unstreitig eine interpretatorisch-analytische Anschlussfähigkeit in diese Richtung. Vgl. Mark Bevir, Governance. A very short introduction, Oxford 2012; Thomas Biebricher, Neoliberalismus zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2018, S. 154–166.