„Sie wollen nicht mit Russland in einer Union leben? Das ist eine ‚kommunistische Altlast‘ für Sie? Dann gehen Sie, aber geben Sie uns die Krim und das Donbass zurück. Denn sie wurden Teil der Ukraine als ‚kommunistische Altlast‘!“ (S. 325) Solche Sätze werden heute mit ganz anderer Aufmerksamkeit gelesen, hat Russlands Präsident Wladimir Putin doch die Anerkennung der beiden sogenannten „Volksrepubliken“ im Donbass am 21. Februar 2022 mit sehr ähnlichen Worten begründet: Wenn die Ukraine mit dem kommunistischen Erbe aufräumen wolle, dann solle sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben und nur die Denkmäler Lenins schleifen, sondern auch das Territorium zurückgeben, das sie Lenin zu verdanken hätte.1 Das hier angeführte Zitat stammt von Boris Jelzins Pressesprecher aus dem August 1991. Und obwohl Jelzin unter dem Aufschrei der liberalen Presse, er verhalte sich wie Hitler 1938, sogleich zurückruderte und der russische und der ukrainische Ministerpräsident bekräftigten, an der Souveränität und Integrität des jeweils anderen Staats festzuhalten, waren es nicht nur der Schriftsteller Alexander Solschenizyn und die Bürgermeister Moskaus und Sankt Petersburgs, letzterer Putins Ziehvater, die verlangten, wenn sich die Ukraine von Russland trenne, müsse über Grenzen neu verhandelt werden.
Im September 1991 drängte Gorbatschows Mitarbeiter Georgi Schachnasarow Jelzins Staatssekretär Gennadi Burbulis, er möge an der Union festhalten, damit die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan in Russlands geopolitischer Einflusssphäre blieben. Andernfalls würden diese Republiken „in andere Blöcke und Allianzen gezogen und es wäre undenkbar, sie mit Gewalt zurückzubringen“ (S. 365). Burbulis antwortete, dass das mit behutsamer Diplomatie gelöst werden könne; Putin ist offenbar zu dem Schluss gekommen, dass zur Not doch Gewalt angewendet werden muss. Natürlich wäre es falsch, eine gerade Linie von den Debatten 1990/91 über die Annexion der Krim 2014 bis in Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 zu konstruieren. Aber zweifellos streicht Vladislav Zubok gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts (das Buch erschien vor dem Krieg) die Debatte um die Ukraine und ihre Territorien heraus.
Zubok legt noch eine weitere Fährte, nur um sie gleich zu negieren: dass am Zusammenbruch der Sowjetunion letztlich die Ukraine schuld gewesen sei. Gorbatschow hatte nach dem August-Putsch 1991 tapfer einen neuen Unionsvertrag aufgesetzt und im Staatsrat am 14. November vorgestellt. Doch Jelzin erklärte, er wolle mit der Unterschrift bis zum Unabhängigkeitsreferendum der Ukraine am 1. Dezember warten, wohlwissend, dass der ukrainische Präsident Leonid Kravtschuk niemals unterschreiben werde. Als sich Jelzin mit Kravtschuk und dem weißrussischen Präsidenten am 7. Dezember 1991 im Urwald von Belowesch traf, musste er erstaunt feststellen, dass Kravtschuk weder den Unionsvertrag unterschrieb, noch bereit war, einen Vertrag mit ihm zu unterschreiben (S. 400). So kam die rettende Idee, die drei Republiken, die einst die UdSSR 1922 gegründet hatten (mit der Transkaukasischen, die es aber nicht mehr gab), würden die Union nun auflösen.
Doch Zubok argumentiert, die Union war bereits durch Gorbatschows Reformen und Jelzins Aktionen zerstört (S. 396). Er ist außerdem der Meinung, wenn sich Jelzin und Gorbatschow ehrlich darum bemüht hätten, hätten sie vermutlich eine Abspaltung der Ukraine verhindern können (S. 384) – so wie Kravtschuk die Abspaltung der Krim verhinderte, indem er hinfuhr und sich selbst zum größten Verfechter von deren Autonomie erklärte (S. 385). Die Union hätte auch gerettet werden können, so Zubok, wenn Gorbatschow und Jelzin sich hätten einigen können und Jelzin Gorbatschow einfach nachgefolgt wäre (S. 382), um so die absurde Situation zweier Präsidenten im Kreml und im Land zu beenden. Vermutlich gibt es wenige Beispiele dafür, wie gravierend sich das Handeln von Personen auf die Entwicklung bzw. hier den Zerfall von Strukturen auswirken kann, wie es bei der hassgetriebenen Rivalität zwischen Gorbatschow und Jelzin der Fall war.
Zubok hat mit 535 Seiten ein beeindruckendes, für amerikanische Verhältnisse erstaunlich dickes Buch über den Zusammenbruch der Sowjetunion vorgelegt, das genau zum richtigen Zeitpunkt erscheint, um sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was 1991 im Jahr des Zusammenbruchs (Kapitel 7–15), aber auch in den Jahren davor 1983–1990 (Kapitel 1–6) geschah. Vieles davon ist bekannt, wie Zubok selbst einräumt. Sein Anspruch ist mehr, die bekannten „internen Ursachen“ – Unterlegenheit gegenüber den USA, die Delegitimierung des Kommunismus als herrschende Ideologie, die implodierende Wirtschaft, die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, die Altkader, die sich den Reformen widersetzten, und der imperiale Overstretch mit dem Krieg in Afghanistan – im Licht der weniger bekannten „externen Faktoren“ neu zu bewerten (S. 3). Zubok benennt die „externen Faktoren“ nicht explizit, aber in seinem Buch geht es vor allem um zwei Dinge: Geld – und die USA, namentlich George Bush, der der zerfallenden Sowjetunion ab 1990 kein weiteres Geld mehr geben wollte. Zubok möchte das Narrativ aufbrechen, dass der Zusammenbruch unvermeidlich gewesen sei. Er verweist zum einen auf den Augustputsch 1991, der als entscheidender Katalysator wirkte, was aber auch hinlänglich bekannt ist, und zum anderen auf das Geld, dessen entscheidende Rolle ihn überrascht habe (S. 9).
Dennoch ist dies keineswegs eine Finanz- oder Wirtschaftsgeschichte; ganz klassisch konzentriert sie sich auf die männlichen Hauptakteure, angefangen mit Juri Andropow, dessen Reformprojekt einige Seiten gewidmet sind, bevor im Vordergrund die „großen Männer“ Michail Gorbatschow und Boris Jelzin sowie George Bush mit ihren jeweiligen Beratern und Ministern erscheinen und das Buch dominieren. Dass es von großer Bedeutung war, dass die USA der kollabierenden Sowjetunion keine weiteren Kredite mehr gewährte, hat bereits William Taubman in seiner fundamentalen Gorbatschow-Biographie dargelegt.2 Zubok versucht trotz seines personenzentrierten Narrativs, noch stärker die monetären Aspekte der jeweiligen Entwicklungen zu unterstreichen: was für ein Loch die Prohibition 1985/86 in die Staatskasse riss (S. 24), welch Problem es war, dass die Goldreserven für Lebensmittel und Konsumgüter anstatt für Innovationen und Technologie ausgegeben wurden (S. 25), dass die Tschernobyl-Katastrophe 1986 ein Loch von acht bis zehn Milliarden Rubeln und das verheerende Erdbeben in Armenien 1988 ein weiteres Loch von zwölf bis 14 Milliarden Rubeln in den Staatshaushalt riss (S. 95).
Ein Problem war zudem, dass Gorbatschow nach eigenen Worten die Wirtschaftsreformen, die ihm vorgeschlagen wurden, nicht verstand (S. 29), dass die neu zugelassenen Banken und Kooperativen begannen, Geld, das nur zur Verrechnung auf dem Papier zwischen Behörden und Unternehmen hin- und hergeschoben werden durfte, in Cash umzuwandeln (S. 33), und die Staatsbank damit begann, einfach mehr Geld zu drucken: Hatte sie 1986 3,9 Milliarden Rubel in Umlauf gebracht, waren es 1991 93,4 Milliarden (S. 397).
1990, so Zubok, gab es das letzte Zeitfenster, um das Rad herumzureißen und die UdSSR zu retten: Hätte Gorbatschow das von dem jungen Finanzreformer Grigori Jawlinski erarbeitete 500-Tage-Programm, eine Rosskur für die sowjetische Wirtschaft, angenommen, wäre eine Konsolidierung möglich gewesen, gerade auch weil die USA strikte Reformen zur Bedingung für weitere Kredite gemacht hatten (S. 132ff.). So aber lehnte Bush Gorbatschows Bitte ab, die Sowjetunion über drei Jahre mit jährlich 20 Milliarden Dollar zu stützen (S. 121). Aus Zuboks Narrativ wird deutlich, dass er den USA eine Mitschuld anlastet, hätten doch sehr viele Politiker in Washington den Zusammenbruch des „evil empire“ einem Weiterbestehen vorgezogen (S. 433). Die G7, die sich im Juli 1991 in London trafen, hätten gern geholfen, haben aber nicht gewagt, die USA zu überstimmen (S. 250). Gorbatschow zeigte sich geschockt, als er Bush angesichts des Irak-Kriegs fragte, der Westen gebe 100 Milliarden Dollar für einen „regionalen Krieg“ aus, finde aber kein Geld für die Sowjetunion? (S. 252) Doch auch nach der Auflösung der Sowjetunion und der Implementierung der radikalen Wirtschaftsreformen in Russland floss kein amerikanisches Geld, um die russische Demokratie zu stabilisieren, so Zubok; nachdem der einstige Erzfeind zerlegt war, hätten sich weder Bush noch sein Nachfolger Bill Clinton gekümmert (S. 433).
Zubok hat ein wichtiges, teils sehr persönliches Buch vorgelegt, das, obwohl es sich auf die Ebene der politischen Entscheidungsträger beschränkt, die Dramatik der Ereignisse, Anspannung der Lage, Überforderung der Akteure und teils auch Absurdität der Situationen verdeutlicht und so die Lesenden mit der ganzen Komplexität der Entwicklungen konfrontiert. Zubok warnt dringlich vor scheinbar logischen Deduktionen: Das Vielvölkerreich musste nicht zerfallen – nur 20 Prozent der Bevölkerung der Kernrepubliken hatten im März 1991 für eine Auflösung gestimmt. Die Republiken, so Zubok, verließen die Union nach dem Augustputsch nicht aufgrund eines plötzlichen nationalen Erwachens, sondern weil die Union nicht mehr für Recht und Ordnung sorgen konnte und stattdessen nur noch für Chaos und Anarchie stand.
Anmerkungen:
1 Vladimir Putin, Rede an die Nation vom 21.2.2022, URL: <https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/> (31.03.2022).
2 William Taubman, Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie, München 2018, S. 699.