B. Hitzer u.a. (Hrsg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte

Titel
Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen


Herausgeber
Hitzer, Bettina; Welskopp, Thomas
Reihe
Histoire 18
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
€ 25,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Stelzel, History Department, Duke University

Die Historisierung der Bielefelder Schule schreitet weiter voran. Nach den vielfältigen Bemühungen insbesondere Hans-Ulrich Wehlers, durch Selbsthistorisierung diesen Prozess zu bestimmen, versuchen nun auch jüngere Historiker eine Kontextualisierung. Um es gleich vorwegzunehmen: Der von Bettina Hitzer und Thomas Welskopp herausgegebene Reader ist äußerst gelungen. Welskopp hat zwar in den 1980er-Jahren selbst die Bielefelder Schule durchlaufen und lehrt heute als Professor in Bielefeld, hat später aber verschiedentlich seine kritische Distanz unter Beweis gestellt.1

Eingeleitet wird der Band von zwei ausgezeichneten Aufsätzen der Herausgeber: einer allgemeinen Einordnung der Bielefelder Schule in die Geschichte der (west)deutschen Geschichtswissenschaft sowie einer Einführung in die Texte der Edition. Welskopp und Hitzer verdeutlichen das Zusammenspiel der Faktoren, welche die im Rückblick überraschend schnelle Etablierung der Bielefelder innerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft ermöglichten. Erklären lasse sich dies zum einen aus der „einzigartigen Kombination von Vernetzungsleistungen und Zuspitzungsbereitschaft“ (S. 15). Zum anderen betonen die Herausgeber externe Faktoren, wie die Expansion des Hochschulsystems Ende der 1960er-Jahre und die „Türöffnerfunktion“ älterer Historiker wie Theodor Schieder und Werner Conze.

Natürlich widmen sich Hitzer und Welskopp auch der Frage, wer denn überhaupt zu den Bielefeldern gerechnet werden müsse. Sie plädieren für eine weitere Definition dieser Schule, die sich nicht einfach auf Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka beschränken lasse – Reinhart Koselleck und Hans-Jürgen Puhle gehörten ebenfalls zur Kerngruppe, in die man auch eine Reihe von Schülerinnen und Schülern einbeziehen müsse (wie Christiane Eisenberg, Claudia Huerkamp, Ute Frevert, Karl Ditt, Michael Prinz, Heinz Reif und Josef Mooser). Daher erstaunt es, dass sämtliche in dem Band der Bielefelder Schule zugeschriebenen Texte dann doch entweder von Wehler oder von Kocka stammen.

Bei den ausgewählten Wiederveröffentlichungen präsentieren die Herausgeber zunächst „programmatische Aufbrüche“ – Wehlers Einleitung zur Edition von Eckart Kehrs Aufsatzsammlung „Der Primat der Innenpolitik“, das Vorwort der Herausgeber zur ersten Ausgabe von „Geschichte und Gesellschaft“ sowie Vorwort und Einleitung des ersten Bandes von Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“. Der faszinierendste Beitrag ist sicher Wehlers 1964 verfasste Einleitung zum Kehr-Band. Sie enthält nicht nur eine Skizze der deutschen Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Wehler in späteren historiographischen Texten erweiterte. Die konventionelle Geschichtswissenschaft diente stets als Hintergrund, vor dem die Entwicklung und Durchsetzung der Historischen Sozialwissenschaft in umso helleren Farben erstrahlen konnte. Wehlers Portrait Eckart Kehrs liest sich auch wie eine Selbstbeschreibung des späteren Bielefelder Historikers, hinsichtlich der politischen Orientierung ebenso wie der methodischen und inhaltlichen Schwerpunktsetzung. Bei Wehlers Feststellung, dass Kehrs „provozierende Arbeitsmethode und Schreibweise, der in imponierender geistiger Aufrichtigkeit jede Rücksichtnahme völlig fremd blieb, auf persönliche wie sachliche Widerstände treffen würde“ (S. 70), fällt es schwer, nicht an Wehler selbst zu denken.

Zwei Beiträge von Schieder und Kocka zum Verhältnis von Struktur und Individuum verdeutlichen dann, inwieweit sich die Strukturbegriffe der beiden Historiker voneinander unterschieden und wie viel weniger Bedeutung Kocka Mitte der 1970er-Jahre der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte zumaß. Schieders Aufsatz unterstreicht jedoch auch, dass zumindest einige Historiker seiner Generation die Notwendigkeit einer gemäßigten methodischen Neuorientierung der Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg erkannt hatten.

Neben dem 1975 als eigenständige Schrift erschienenen Text Wehlers zu „Modernisierungstheorie und Geschichte“ haben sich Welskopp und Hitzer für zwei Beiträge zur Sonderwegs-Debatte entschieden: die Einleitung zu Wehlers „Kaiserreich“, eine deutliche Artikulation der Sonderwegs-These, und Kockas abwägenderen, 1998 erschienenen Aufsatz „Nach dem Ende des Sonderweges“. Interessant wäre es freilich gewesen, auch einen Text Thomas Nipperdeys in die Edition aufzunehmen, da Nipperdey einer der scharfsinnigsten Kritiker der Bielefelder war.2 Alternativ hätte sich ein Auszug aus David Blackbourns and Geoff Eleys „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“ angeboten.3

Der letzte Abschnitt des Buches widmet sich einer Reihe vor allem methodischer Reaktionen auf die Historische Sozialwissenschaft. Zunächst haben die Herausgeber einen Aufsatz Kosellecks zu Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte sowie Kockas Rezension von Kosellecks Habilitationsschrift „Preußen zwischen Reform und Revolution“ aufgenommen. Beide Texte unterschieden sich auch im Ton deutlich von den späteren Debatten mit Vertretern von Frauen-, Alltags- und Kulturgeschichte. Letztere waren durch eine oftmals beträchtliche Animosität gekennzeichnet, was in den Aufsätzen Wehlers und Alf Lüdtkes zur Alltagsgeschichte sowie in den Texten Kockas und Karin Hausens zur Frauen- und Geschlechtergeschichte deutlich zum Ausdruck kommt. Dasselbe gilt für die drei abschließenden Beiträge von Ute Daniel und Hans-Ulrich Wehler zur Kulturgeschichte, auch wenn Wehlers 1998 erschienene „Zwischenbilanz“ über die Historische Sozialwissenschaft etwas versöhnlicher ausfiel als sein berüchtigter Verriss von Daniels „Kompendium Kulturgeschichte“. Unter anderem bewiesen diese polemischen Auseinandersetzungen, dass selbst Historiker, die sich sonst die Internationalisierung der Geschichtswissenschaft auf die Fahnen geschrieben hatten, noch dem „teutonischen“ akademischen Stil verhaftet blieben.4 Wichtig war zudem, dass es sich dabei um Auseinandersetzungen im „Familienkreis“ handelte, vertraten doch die Kontrahenten trotz aller Gegensätze „progressive“ politische Positionen. Waren es die Bielefelder gewohnt, Debatten mit vermeintlich oder wirklich Konservativen zu führen, so traf die Kritik von „links“ einen Nerv.

Natürlich mussten sich die Herausgeber aus Platzgründen auf eine eng begrenzte Auswahl an Texten beschränken. Dennoch fällt auf, dass der Band keinen einzigen Beitrag eines amerikanischen oder britischen Historikers enthält. Dies ist aus drei Gründen zu bemängeln: Erstens waren besonders amerikanische Historiker (und Sozialwissenschaftler) wichtige Stichwortgeber und Alliierte der Bielefelder. Zweitens artikulierten Ende der 1970er-Jahre junge britische Kollegen wie Geoff Eley, Richard Evans und David Blackbourn eine Kritik an der Bielefelder Schule, die weitaus überzeugender ausfiel als die Versuche westdeutscher Diplomatiehistoriker, den Primat der Außenpolitik zu verteidigen. Drittens hätte man sich so auch der Frage nähern können, inwieweit die von der Bielefelder Schule oft beschworene interpretatorische Nähe zu den amerikanischen Deutschlandhistorikern der Realität entsprach.5 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Reader zur Bielefelder Schule, die zur Internationalisierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft beitragen wollte (und es durchaus auch getan hat), die wegen ihrer Fixierung auf den kleindeutschen Nationalstaat aber zunehmend in die Kritik geriet, sich ausschließlich im Rahmen der westdeutschen Diskussion bewegt.

Viele der dokumentierten Debatten wirken zudem etwas veraltet; inzwischen beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit anderen Fragen. Die Kontroversen um Sozial- und Kulturgeschichte etwa vermögen unter jüngeren Historikern weniger Eifer auszulösen. Gleichwohl ist der Reader eine kompetent und wohlwollend, aber nicht unkritisch eingeleitete Sammlung wichtiger historiographischer Texte. Er kann zur Anschaffung nur empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 173-198; ders., Westbindung auf dem „Sonderweg“. Die deutsche Sozialgeschichte vom Appendix der Wirtschaftsgeschichte zur Historischen Sozialwissenschaft, in Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 5: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt am Main 1999, S. 191-237; ders., Grenzüberschreitungen. Deutsche Sozialgeschichte zwischen den dreißiger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in Christoph Conrad / Sebastian Conrad (Hrsg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 296-332.
2 Siehe etwa Thomas Nipperdey, Wehlers „Kaiserreich“. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 539-560.
3 David Blackbourn / Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, Frankfurt am Main 1980. Erweiterte englische Ausgabe: The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth Century Germany, Oxford 1984.
4 Johan Galtung, Structure, Culture, and Intellectual Style. An Essay Comparing Saxonic, Teutonic, Gallic, and Nipponic Approaches, in: Social Science Information 20 (1981), S. 817-856.
5 Repräsentativ für eine detaillierte, im Großen und Ganzen wohlwollende, jedoch keineswegs unkritische Rezeption der Bielefelder Schule in den USA wäre etwa Konrad H. Jarauschs Rezension von Wehlers „Kaiserreich“ im Journal of Modern History 48 (1976), S. 728-732.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch