C. Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918

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Titel
Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918.


Autor(en)
Burhop, Carsten
Erschienen
Stuttgart 2011: UTB
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veit Damm, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Die Zeit des deutschen Kaiserreichs stellt in vielfacher Hinsicht eine Epoche des Umbruchs in der deutschen Wirtschaftsentwicklung dar: Sie markiert den statistischen Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, die Einführung der Mark als einheitliche deutsche Währung, den Aufstieg der deutschen Wirtschaft zur zweitgrößten Wirtschaft der Welt und den Durchbruch der Aktiengesellschaft als Unternehmensform. Carsten Burhop hat sich mit dem Kaiserreich aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht beschäftigt und eine Einführung im Format der UTB-Reihe geschrieben. Dabei behandelt er das gesamtwirtschaftliche Wachstum sowohl in nationaler Perspektive als auch im internationalen Vergleich, die Konjunkturgeschichte, die deutsche Wirtschaftspolitik auf den Feldern der Fiskal-, Außenhandels-, Zoll-, Geld- und Währungspolitik sowie die Entwicklung der Unternehmen, Kartelle, Banken und Finanzmärkte. Ein gesondertes Kapitel ist der Wirtschaft im Ersten Weltkrieg gewidmet.

Burhop betont in der Einleitung die Abgrenzung seines Buches von den methodischen Wendungen der historischen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten, wobei er den "cultural", "linguistic" und "spatial turn" nennt. Sein Buch sieht sich einem – auf den Modellen der Volks- und Betriebswirtschaftslehre aufbauenden – sozialwissenschaftlichen Ansatz der Wirtschaftsgeschichtsschreibung verpflichtet. Es handelt sich somit um eine theoriegeleitete historische Arbeit, die in die wichtigsten Konzepte einführt, sie gut verständlich erläutert und immer wieder die darin gebrauchten ökonomischen Grundbegriffe erklärt. Daher stellt das Buch eine empfehlenswerte – wenngleich anspruchsvolle – Einführung für Studierende dar, die bereits über thematische Vorkenntnisse verfügen. Als Nachteil der verwendeten methodischen Abgrenzung erweist sich jedoch, dass Burhop die Fülle an unternehmenshistorischen Arbeiten der letzten zwei Jahrzehnte – die sich häufig ebenfalls den methodischen Wendungen der historischen Disziplin geöffnet haben – weitgehend ausblendet.1

Die Darstellung beginnt mit einem Abriss der gesellschaftlichen Strukturen, verfassungsrechtlichen Normen und wichtigen politischen Ereignisse als exogenen Faktoren der Wirtschaft. Danach widmet sie sich dem Wachstum der deutschen Wirtschaft aus nationaler Perspektive. Das deutsche Sozialprodukt verdreifachte sich zwischen Reichsgründung und Beginn des Ersten Weltkriegs und auch die Pro-Kopf-Einkommen stiegen signifikant an – kurz, so Burhop: "Dem Deutschen ging es gut" (S. 216). Allerdings, so zeigt er weiter, blieben die deutschen Reallöhne im internationalen Vergleich der führenden Industrieländer relativ gering. So gelingt es Burhop mit Hilfe der Berechnung von Kaufkraftparitäten und der Umrechnung von Arbeitseinkommen in eine einheitliche Währung zu zeigen, dass in fast allen Branchen in Deutschland am Beginn des 20. Jahrhunderts weniger verdient wurde als zum Beispiel in Großbritannien. Vergleicht man die Einkommen pro Kopf, konnte Deutschland bis 1913 zwar in etwa das Niveau Frankreichs erreichen, lag jedoch weit hinter Großbritannien und den USA zurück. Aufgrund des niedrigen Lohnniveaus besaßen deutsche Produkte einen klaren Vorteil auf dem Weltmarkt, zumal Deutschland eine relativ hohe Arbeitsproduktivität aufwies. Etwa um die Jahrhundertwende hatte die gewerbliche Arbeitsproduktivität mit dem britischen Niveau gleichgezogen. Besonders arbeitsintensiv gefertigte Fabrikwaren konnten erfolgreich exportiert werden. Da Großbritannien und die USA relativ hohe Durchschnittseinkommen aufwiesen, gab es dort eine starke Nachfrage nach hochwertigen, nur in kleinen Serien gefertigten Konsumgütern, zum Beispiel Textilien aus Deutschland. In diesem Zusammenhang weist Burhop darauf hin, dass der Beitrag der innovativen, modernen deutschen Industrien wie der Chemie und der Elektrotechnik zu den Exporten erst um die Jahrhundertwende zunahm. "Bis dahin dominierten konsumnahe Exportwaren, insbesondere Textilien" (S. 105).

Nach Wirtschaftswachstum und Konjunktur widmet sich Burhop der Fiskalpolitik, der Außenhandels- und Zollpolitik sowie der Geld- und Währungspolitik. Im letzteren Kapitel arbeitet er die Differenzen zwischen den Theorievorstellungen der einschlägigen ökonomischen Modelle und der Realität des Goldstandards heraus. Dabei betont er, dass der Goldstandard keineswegs Preisschwankungen verhinderte: "Dass im klassischen Goldstandard Preisniveaustabilität geherrscht habe, gehört zu den großen Mythen der Wirtschaftsgeschichte" (S. 135). Zwischen 1875 und 1895 fielen die Preise tendenziell und stiegen zwischen 1895 und 1913 wieder an. Außerdem gab es teilweise starke Schwankungen der Inflationsrate. So stiegen die Lebenshaltungskosten zwischen 1871 und 1874 um 15,5 Prozent an, sanken jedoch von 1875 bis 1880 wieder um 14,9 Prozent.

Im Anschluss an die Wirtschaftspolitik folgen Kapitel zu Unternehmen, Unternehmenskonzentration und Kartellierung sowie Banken und Finanzmärkten. Das Kapitel zu den Unternehmen konzentriert sich vor allem auf die Beispiele Siemens und Krupp, hier hätten weitere Beispiele zu kleineren und mittleren Unternehmen sowie zu Unternehmen aus anderen Branchen die Darstellung wesentlich bereichert. Zudem erscheinen Unternehmer, Angestellte und Arbeiter wenn überhaupt nur als statistische Größe – die Darstellung bleibt durch den gewählten Ansatz so recht blutleer. Im Kapitel zu den Banken und Finanzmärkten hebt Burhop besonders den Ausbau und die Bedeutung der Sparkassen und Hypothekenbanken hervor. Die Marktanteile der Finanzintermediäre änderten sich im Kaiserreich grundlegend. So erlebten Sparkassen und Hypothekenbanken zwischen 1860 und 1880 einen bemerkenswerten Aufstieg. Sparkassen entwickelten sich nach der Jahrhundertwende zunehmend zu Universalbanken. Zu den Verlierern zählten Noten- und Privatbanken, die 1913 weniger als 5 Prozent Marktanteil aufwiesen. Die Aktienkreditbanken vergrößerten ihren Marktanteil besonders in der Zeit nach 1880. Im Jahr des Kriegsausbruchs hatten Sparkassen, Hypothekenbanken und die Aktienkreditbanken je einen Marktanteil von einem Viertel, das restliche Viertel teilten sich Noten-, Privat- und Genossenschaftsbanken (S. 169). Neben den Universalbanken, so betont Burhop, gab es im Kaiserreich einen großen und effizienten Aktienmarkt.

Im abschließenden Kapitel zur Wirtschaft im Ersten Weltkrieg unterstreicht Burhop die Vernichtungskraft des Krieges: "Die Leistung einer ganzen Generation war durch den Ersten Weltkrieg zerstört worden." Das durchschnittliche Einkommen 1918 war in etwa so hoch wie dasjenige von 1895 (S. 215). Zudem arbeitet er Unterschiede in der internationalen Kriegsfinanzierung heraus. In Großbritannien und in Deutschland wurden die Kriegsausgaben zu ähnlich großen Anteilen mit Schulden finanziert. Allerdings geschah dies in Deutschland vor allem durch die Notenpresse, das heißt durch die Erhöhung der Basisgeldmenge. Sie wuchs zwischen Ende 1913 und Ende 1918 von 7,2 Milliarden Mark auf 43,6 Milliarden Mark. Dagegen setzte Großbritannien vor allem auf langfristige Staatsanleihen.

Klammert man die vier Kriegsjahre aus, urteilt Burhop abschließend, war das Kaiserreich eine wirtschaftliche Erfolgsstory. Die dazu erfolgten Entwicklungsschritte veranschaulicht seine Einführung sehr gut, wobei die Stärke in den Kapiteln zur Wirtschaftspolitik sowie zu Banken und Finanzmärkten liegt, die Studierenden zur Einführung sehr zu empfehlen sind. Insgesamt spricht Burhops Arbeit dabei eher die höheren Semester an, richtet sich aber zugleich an die Fachwelt.

Anmerkung:
1 Vgl. exemplarisch: Anne Nieberding, Unternehmenskultur im Kaiserreich. J.M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., München 2003, oder Hartmut Berghoff, Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857 bis 1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Paderborn u.a. 1997.

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