In den letzten Jahren ist ein sprunghaft gesteigertes Interesse von Historikerinnen und Historikern an der Nachrüstungskrise der frühen 1980er-Jahre und an den Friedensbewegungen dieser Zeit zu beobachten. Das lässt sich einerseits damit erklären, dass es der Zeitgeschichte immanent ist, sich die jüngste Vergangenheit mehr und mehr anzueignen. Andererseits wecken gegenwärtige politische und gesellschaftliche Entwicklungen das Interesse an historischen Verflechtungen von globalen Konflikten und nationalen Protestbewegungen. Dazu zählt – angesichts der von vielen empfundenen neuen Frontstellungen der „westlich-liberalen Demokratien“ – in erster Linie der Kalte Krieg. Im Hinblick auf die Frage, was wesentlich zu seiner Beendigung beigetragen hat, kommen verstärkt die „Neuen Sozialen Bewegungen“ in den Blick der Forschung, wobei zum einen auf mögliche Parallelen zu aktuellen Entwicklungen in der arabischen Welt verwiesen wird, zum anderen aber soziale Bewegungen als ein wesentliches Charakteristikum von westlicher Demokratie charakterisiert und häufig geradezu als „Heilsbringer“ stilisiert werden.
Ohne in einen solchen überbordenden Pathos zu verfallen, nähert sich der vorliegende Sammelband den Themen „Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung“ ebenfalls aus diesem Blickwinkel. Angesichts der Tatsache, dass die Protestbewegung in ihrer kurzfristigen Zielsetzung, die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen zu verhindern, gescheitert sei, müsse, so die Herausgeber in ihrer umfänglichen Einleitung, nach ihren tiefgehenden „Spuren in der politischen Kultur der Bundesrepublik“ (S. 7) gesucht werden. Darüber hinaus gelte es zu fragen, „welche Folgen diese Kontroverse auf die bundesdeutsche Gesellschaft und im Hinblick auf das Ende des Kalten Krieges hatte“ (S. 8). Ein solch verfeinerter Blick auf den NATO-Doppelbeschluss ist letztlich nicht neu, haben doch einzelne Autoren wie Helga Haftendorn bereits in den 1980er-Jahren auf die tiefgreifenden kulturellen Umbrüche hingewiesen, die mit der Auseinandersetzung einhergingen.1 Dennoch tut es angesichts anhaltender Schwarz-Weiß-Malerei über die Friedensbewegung und das Ende des Kalten Krieges – sowohl vonseiten konservativer Hardliner als auch durch ehemalige Friedensaktivisten – immer noch Not, ein differenziertes Bild zu zeichnen. Der Sammelband widmet sich diesem Anliegen, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu verfolgen.
Um die Vielschichtigkeit des Phänomens sichtbar zu machen, präsentieren die Herausgeber ein thematisch breit aufgespanntes Spektrum an Aufsätzen: von den Vorläufern der westdeutschen Friedensbewegung sowie dem politischen und militärischen Kontext der Nuklearkrise über die Reaktionen unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure bis hin zu Protestformen und -orten. Fast zwangsläufig geht mit einer solchen inhaltlichen Bandbreite eine methodische Vielfalt einher, die aber unausgesprochen bleibt. Sie folgt weitgehend dem klassischen Muster von politikgeschichtlichen Fragestellungen, sozialhistorischen Zugängen und kulturgeschichtlichen Herangehensweisen. Der Sammelband selbst nimmt diese Ordnungsstruktur, wie erwähnt, nicht auf, sondern reiht die Beiträge locker chronologisch: vom KSZE-Prozess der 1970er-Jahre zu den Veränderungen des politischen Systems in den späten 1980er-Jahren. Allerdings findet sich die Tendenz die politik- und militärhistorischen Aufsätze sozial- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen vorzuordnen.
Aufgrund der Fülle und Diversität der Aufsätze ist es hier nicht möglich, jeden einzelnen Beitrag zu würdigen. Es soll daher lediglich entlang der methodischen Zugänge ein kursorischer Überblick gewährt und auf ausgewählte Artikel hingewiesen werden. Unter den politikgeschichtlichen Beiträgen ist besonders auf die beiden Aufsätze von Tim Geiger und Oliver Bange hinzuweisen, die wie immer kenntnisreich, aber manchmal etwas detailverliebt die Vorgeschichte und Ausgangslage des Nachrüstungskonflikts der frühen 1980er-Jahre beschreiben. Geigers Ausführungen nehmen dabei ihren Ausgang in der Entspannungsära der 1960er- und 1970er-Jahre und zeichnen nach, wie die Abrüstungsverhandlungen dieser Zeit paradoxerweise zur Konfliktlage späterer Jahre beigetragen haben. Bange widmet sich in seinen militärhistorischen Überlegungen ausführlich der Weiterentwicklung der Waffensysteme. Etwas an den Rand gerät dabei die von ihm selbst aufgeworfene und äußerst interessante Frage, inwiefern dieser technische Wandel letztlich gesellschaftlich verbreitete Bilder und Vorstellungen von Krieg verändert hat. Beide Aufsätze bieten letztlich – zusammen mit Beiträgen zum KSZE-Prozess und zur politischen Rezeption des NATO-Doppelbeschlusses in deutsch-deutscher Perspektive – wichtiges Grund- und Vorwissen, um die Konfliktlage der frühen 1980er-Jahre einordnen zu können.
Sie liefern damit auch ein Vorverständnis für die große Mehrheit der Beiträge, die sich mit der Organisation, sozialen Zusammensetzung und gesellschaftlichen Verortung der Protestbewegung der frühen 1980er-Jahre beschäftigt. Hierbei lassen sich Aufsätze, die sich mit dem institutionellen und personellen Aufbau der Friedensbewegung befassen, von Studien unterscheiden, die sich mit ihrer Vernetzung und Abgrenzung von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren auseinandersetzen. Hierzu zählen unter anderem Beiträge, die die Herkunft der Protestbewegung aus der Umweltbewegung und Friedens- und Konfliktforschung nachvollziehen. Sie werden ergänzt durch Aufsätze, die die Konflikte der „Neuen Sozialen Bewegung“ mit traditionellen sozialen Akteuren wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen genauer in den Blick nehmen. So kenntnisreich diese Beiträge sind, unterliegen sie immer der impliziten Gefahr, die „traditionellen“ Akteure im Sinne einer Organisationsgeschichte zu eng zu fassen. So wäre es beispielsweise wünschenswert gewesen, den engen Raum der Kirchen zu verlassen und nach der Beziehung der Protestbewegung zu Religion im Allgemeinen zu fragen. Richtungsweisend in dieser Hinsicht ist der Beitrag von Holger Nehring zu transnationalen Netzwerken. Er kontrastiert die personellen und institutionellen Vernetzungen mit den Verbundheitsmetaphern der Friedensbewegung.
Klingen bei Nehring bereits kulturgeschichtliche Fragestellungen an, so setzen sich einige Beiträge explizit damit auseinander. Dazu gehört zum einen die Studie von Laura Stapane und Kathrin Fahlenbach über die medialen und visuellen Strategien der Protestbewegung. Sie zeigen dabei auf, wie und wo diese an die Symbole und Riten der Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung, aber auch christlicher Tradition Anschluss fanden. In ihrem Resümee argumentieren sie, dass „die in der Medienöffentlichkeit erfolgreich durchgesetzte Verbindung unterschiedlicher Leitwerte und Symbolwelten […] entscheidend dazu beigetragen haben [dürfte], dass die wesentlichen Ziele der Friedensbewegung [...] milieu-übergreifend konsensfähig wurden“ (S. 242). So diskussionswürdig diese Schlussfolgerung mit Blick auf einzelne soziale Akteure sein dürfte, so lesenswert ist dieser Beitrag. Das gilt in gleichem Maße für den Beitrag von Susanne Schregel. Sie gibt bisher ungewohnte Einblicke in Erinnerungs- und „Körperorte“ der Friedensbewegung und liefert damit einen Auszug aus ihrer jüngst publizierten detail- und kenntnisreichen Promotion.2
Schlussendlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn solche Erkenntnisse in der Konzeption und den Schlussfolgerungen des Bandes mehr Gewicht gefunden hätten. Denn, wer nach den Veränderungen der politischen Kultur fragt, sollte sich nicht damit begnügen erinnerungs- und parteipolitische Veränderungen in der Bundesrepublik aufzuzeigen; oder Antworten auf die Frage nach dem Ende des Kalten Krieges in diplomatischen und sicherheitspolitischen Reaktionen suchen. Wichtig wäre es vielmehr, tatsächlich die tiefergehenden kulturellen Veränderungen wahr- und ernstzunehmen, die in vielen der genannten Beiträge aufscheinen. Diese wünschenswerte Vertiefung schmälert trotz allem nicht den Wert des vorliegenden Sammelbandes. Er ist ein sehr fundiertes Werk, das dem Leser einen Einstieg in die Geschichte der Friedensbewegung und die Geschichtsschreibung darüber ermöglicht. Dazu trägt ferner bei, dass alle Autoren weiterführende Literatur für ihren Themenschwerpunkt vorstellen und viele der Beiträge ihre Inhalte durch ausgewählte Bilder veranschaulichen. Und schließlich wird der Band durch eine Website ergänzt, auf der Quellen, Literatur und Fotomaterial benutzerfreundlich freizugänglich sind.3
Anmerkungen:
1 Vgl. Helga Haftendorn, Das doppelte Mißverständnis. Zur Vorgeschichte des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 33,2 (1985), S. 244–287.
2 Vgl. Holger Nehring: Rezension zu: Schregel, Susanne: Der Atomkrieg vor der Wohnungstür. Eine Politikgeschichte der neuen Friedensbewegung in der Bundesrepublik 1970–1985. Frankfurt am Main 2011, in: H-Soz-u-Kult, 30.08.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-3-114> (10.01.2013).
3 Vgl. <http://nuclearcrisis.org> (10.01.2013).