War Henrich Steffens (1773–1845) – der aus Norwegen stammende und in Deutschland, zuletzt in Berlin lehrende Naturphilosoph – ein politischer Professor? Steffens ist berühmt geworden durch seinen Breslauer Aufruf zum Krieg gegen Napoleon sowie seinen tatsächlichen Auszug in den Freiheitskrieg von 1813 (ein seltenes Beispiel von Tatumsetzung eines deutschen Gelehrten) und schließlich durch sein Engagement in der sogenannten "Breslauer Turnfehde" von 1818, wobei er allerdings auf der anderen Seite, nämlich der Regierungsseite stand und das Turnen als politische Angelegenheit rundweg ablehnte. Marit Bergner, die eine Dissertation an der FU Berlin über die "politischen Jahre" Steffens‘ vom Ende des Alten Reichs bis zu den Karlsbader Beschlüssen (1806–1819) vorgelegt hat, ist vorbehaltlos der Meinung, dass Steffens als politisch engagierter Universitätslehrer in jener Zeit auch "einer der frühen politischen Professoren in Deutschland" gewesen sei (S. 362). Sehen wir zu, inwieweit diese These trägt.
Das "politische Professorentum" (der Rezensent hat selbst lange Zeit darüber gearbeitet) zeichnet sich vor allem durch drei Kriterien aus: ein neues Wissenschaftsverständnis, das den Elfenbeinturm der Universität verlässt und gesellschaftlich wirken, also nicht mehr "sine", sondern "cum ira et studio" Wissenschaft betreiben möchte; ein neues Amtsverständnis, das die alte Rolle des Professors als eines "Hüters der Wahrheit" hinter sich lässt und ihn zum "Lehrer des Lebens" (wie das Nietzsche später einklagen sollte) erklärt; und schließlich die öffentliche Wirksamkeit, die den neuen Gelehrtentypus als einen Mann der Öffentlichkeit auszeichnet, der eine gesellschaftliche Bewegung auslöst, die auf Veränderung der politischen Zustände drängt. Steffens hat von allem etwas, passt aber auch wieder nicht so richtig in dieses Schema – was vielleicht auch daran liegen mag, dass das Schema zu eng, auf fortschrittlich orientierte "Gelehrtenintellektuelle" (so der Alternativbegriff von Gangolf Hübinger) ausgerichtet ist. Aber genau deswegen ist Henrich Steffens interessant: Er steht nach 1815 im Prinzip auf der Seite Metternichs, ist am status quo des neu eingerichteten Deutschen Bundes interessiert, will keine nationalstaatliche, unitarische Veränderung und ist im Prinzip auch gegen die ständeübergreifende Mobilisierung und den Gleichheitsgedanken. Und dennoch lässt dies alles – so Bergner – ihn "zu einem politischen Professor werden, der auf Seiten der Regierung gegen eine scheinbar oppositionelle gesellschaftliche Bewegung kämpfte, der er noch 1813 angehört hatte" (S. 362). Wie ist dies zu erklären oder geht die Zuschreibung doch ein wenig an der Sache vorbei?
Marit Bergner teilt ihre Arbeit in drei große Abschnitte: Zuerst der politische Akteur Steffens in seiner Zeit in Halle (1806–1810), wobei das Zäsurjahr 1806 den Ausschlag der Politisierung gab; dann seinen in leisen Ansätzen beginnenden und immer stärker werdenden Widerstand gegen Napoleon in seiner Breslauer Zeit (1811–1815), der in dem Aufruf von 1813 und der immerhin 15 Monate dauernden aktiven Teilnahme in preußischen Diensten am Krieg seinen Höhepunkt fand; und schließlich sein dezidiertes öffentliches Auftreten in der Breslauer Turnfehde 1818, dessen Behandlung den weitaus größten Raum der Arbeit von Bergner umfasst (S. 143–349). Halle scheint tatsächlich nur so etwas wie ein Sprungbrett für Steffens gewesen zu sein, übrigens Breslau auch, wo er sich wie in der Wüste fühlte; eigentlich wollte der Norweger, wenn er schon sein Heimatland verlassen musste, immer nach Berlin, wo er dann 1832 auch hinkam. Dennoch wäre es falsch, Steffens als Vorbereiter einer kleindeutschen Lösung anzusehen. Denn er hatte einen ganz eigenen Nationsbegriff, den Bergner mit „Vaterlandsliebe“ (S. 357) gleich setzt, die ganz individuell und unabhängig vom Geburtsort und auch ganz situativ (eben wie es bei Steffens war) entstehen kann. Das Interessante an Steffens ist, dass der nationale Aufbruch von 1813 – der unzweifelhaft auch bei ihm ein großer, wenn nicht der große Politisierungsschub (ich denke mehr als 1806) war – rein instrumentellen Charakter besaß. Nach dem erfolgreichen Sieg gegen Napoleon hatte die Nationalisierungswelle für Steffens ihr Ziel erreicht und im Wortsinne ausgedient. Daher folgte er der frühen Nationalbewegung nach 1815 nicht mehr und wechselte das politische Lager; Bergner spricht gar davon, dass er „reaktionärer Preuße“ (S. 359) wurde.
Dieser Gesinnungswandel spricht nicht dagegen, Steffens als einen „politischen Professor“ zu kennzeichnen (alle konservativ-reaktionären Universitätsgelehrten, die sich politisch zu Wort meldeten, müssten sonst unter den Teppich fallen). Es ist vielmehr das Wissenschaftsverständnis von Steffens, das es schwierig macht, ihn eindeutig zum „politischen Professor“ zu erklären. Steffens hielt an einem ganz traditionalen, autonomen Wissenschaftsbegriff fest, wie ihn später Leopold von Ranke populär machen sollte: In einer seiner letzten Schriften „Über Kotzebues Ermordung“ (1819) setzte er sich „wie kein anderer“, so Bergner, „für den unbedingten Erhalt der akademischen und literarischen Freiheit in Deutschland ein, die weder durch Gleichmacherei der Turner, noch durch staatliche Unterdrückung gefährdet sein sollte“ (S. 348). Steffens hielt an dem Humboldtschen Ideal einer zweckfreien Wissenschaft bedingungslos fest (wie schon seine frühe ‚politische‘ Schrift „Über die Universitäten“ von 1809 zeigte) und war gerade gegen die Vermischung von Wissenschaft und Politik, wofür die politischen Professoren so vehement eintraten. Im späteren Streit der „Göttinger Sieben“ von 1837 wird dies besonders deutlich etwa in der Position eines Gervinus, der es als eine „Beschränktheit“ ansah, „einer Wissenschaft im Flusse des Lebens einen Zweck in sich selbst zu geben“ (Gervinus, Über Dahlmanns Politik, in: Gesammelte kleine hist. Schriften. Karlsruhe 1838, S. 600).
Demgegenüber stand die Position des Pädagogen Herbart, der in den 1790er-Jahren in Jena studierte und bei Fichte das neue Wissenschaftsverständnis hörte und strikt ablehnte und im Göttiger Streit ein halbes Jahrhundert später die berühmte Schrift „Erinnerung an die Göttinger Katastrophe im Jahr 1837“ veröffentlichte, in welcher er ein flammendes Plädoyer für die strikte Trennung von Wissenschaft und Politik hielt, eben weil beide Bereiche getrennte Welten seien und Wissenschaft ihren wissenschaftlichen Charakter verlöre, wenn sie sich in die Niederungen der Politik begäbe. Im Prinzip ist diese Herbartsche Position – die derjenigen des politischen Professorentums diametral entgegensteht – auch die Position von Henrich Steffens, der ein „Verfechter der freien, autonomen und souveränen Wissenschaft“ war (S. 362) und eben weil er dies war, konnte er sich auch für die Stärkung der Wissenschaft und „ihre staatliche Unabhängigkeit“ (S. 361) einsetzen. Die autonome, zweckfreie, von aller Politik ferngehaltene Wissenschaft war ihm die Grundlage seines wissenschaftlichen Reformprogramms. Das macht es schwierig, Steffens eindeutig als einen „politischen Professor“ zu bezeichnen. Wenn man es sich jedoch einfach macht, wie etwa Friedrich Meinecke, der in seinem HZ-Aufsatz „Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik“ 1922 noch meinte, dass Gelehrtenpolitik „um zu wirken, des Rufes der Stunde“ bedürfe (S. 249), dann war Steffens, der übrigens von Meinecke (eine rühmliche Ausnahme!) behandelt wird, auch ein politischer Professor; denn er gehorchte 1813 dem „Ruf der Stunde“, dem er allerdings schon zwei Jahre später wieder abschwor. Aber sein Wissenschaftsverständnis, das er bereits 1809 in seiner Universitätsschrift deutlich machte, blieb immer das gleiche, traditionale Elfenbeinturmverständnis.
Vielleicht erklärt sich von hier aus auch sein vorgeblicher Gesinnungswandel ins konservative Lager nach 1815. Steffens war eigentlich immer ein tendenziell konservativer Mensch – in wissenschaftlichen und politischen Dingen – und dies ermöglichte ihm auch, nach getaner Arbeit im Freiheitskrieg wieder zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Sein traditionales, an der Universität als einer altständischen Korporation festhaltendes Wissenschaftsverständnis half ihm dabei und es erschwert eine eindeutige Zuordnung ins Lager der „politischen Gelehrten“ oder „Gelehrtenpolitiker“ (Rüdiger vom Bruch), wie sie das 19. Jahrhundert kannte. Dennoch war er ein politisch denkender und handelnder Professor. Aber er wirkte nicht „als Professor“ politisch, sondern als Mensch und Bürger eines Staates. Das ist ein Unterschied und erinnert viel mehr an die Unterscheidung von Staatsdiener (Professor) und Staatsbürger, die Max Weber im Werturteilsstreit rund 100 Jahre später traf: Man hat die Wissenschaft aus dem politischen Streit herauszuhalten und kann sich dennoch als Staatsbürger politisch einmischen, aber eben nicht, indem man sein Amt und seine Wissenschaft in den Dienst der Politik stellt.1 So oder so ähnlich dachte wohl auch Henrich Steffens und bleibt damit allemal ein interessanter Untersuchungsgegenstand im Kontext der Herausbildung des frühen politischen Professorentums in Deutschland. Man muss ihn nicht gleich zum „politischen Professor“ deklarieren, aber er hat diesem neuartigen Phänomen der Moderne auf seine Weise gedient und zum Durchbruch verholfen.
Marit Bergner hat trotz der unterschiedlichen Gesamtwertung des Rezensenten eine wichtige Forschungslücke geschlossen. Man wünscht sich mehr Studien dieser Art. Sie hat in gründlicher Aktenstudie das Wichtigste über Steffens, der sagenhafter Weise eine zehnbändige Autobiographie („Was ich erlebte“, 1840–44) hinterließ, zusammengetragen. Wir sind nun insbesondere auch über die Breslauer Turnfehde von 1818 bestens unterrichtet und unser Bild über die Turner, das Dieter Düding mit seiner großen Habilitationsschrift geprägt hat, weitet sich und differenziert sich immer mehr aus.2 Die Turner konnten durchaus auch bei politisch aktiven Gelehrten, die den Freiheitskrieg vorantrieben und herbeischrieben und -redeten wie Steffens auf Ablehnung stoßen, weil sie zu radikal, zu gleichmacherisch, ja auch zu banausenhaft und unreflektiert dumpf-patriotisch erschienen. All dies bis zur Ermordung Kotzebues, an der Steffens ebenfalls Anstoß nahm, hat Frau Bergner detailliert aufgearbeitet und dafür gebührt ihr großes Lob.
Anmerkungen:
1 Max Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. 22–87.
2 Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung. München u.a. 1984.