In den letzten Jahren ist Magnus Hirschfeld zu neuen Ehren gekommen. In Berlin wurde das Spreeufer am Bundeskanzleramt nach dem einst so bekannten Sexualreformer benannt, dessen 1919 gegründetes „Institut für Sexualwissenschaft“ dort bis zu seiner Zerstörung im Jahr 1933 residiert hatte. 2011 wurde eine Bundesstiftung gegründet, die nicht nur seinen Namen führt, sondern auch an das Lebenswerk des Begründers der deutschen Homosexuellenbewegung anzuknüpfen versucht. Zu Hirschfelds 150. Geburtstag legte die Deutsche Post 2018 eine ästhetisch reichlich missglückte Sonderbriefmarke auf. Pünktlich zum Gedenkjahr erschien im renommierten Wissenschaftsverlag De Gruyter Oldenbourg überdies Manfred Herzers Biografie Magnus Hirschfeld und seine Zeit. Dass die Publikation der finanziellen Unterstützung der Hirschfeld-Stiftung bedurfte, macht allerdings deutlich, dass eine solche Publikation auch heute noch als ein geschäftliches Wagnis gilt.
Manfred Herzer kommt aus der Westberliner Schwulenbewegung und hat sein Leben der Erforschung der schwulen Geschichte gewidmet. Er gehörte 1971 zu den Gründungsmitgliedern der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), später war er an der Gründung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (1984) und des Schwulen Museums (1985) beteiligt, seit 1987 gab er überdies die Zeitschrift für schwule Geschichte Capri heraus. Herzer wirkte also maßgeblich daran mit, den nach 1945 vergessenen Hirschfeld wieder in Erinnerung zu rufen und „salonfähig“ zu machen. Insoweit ist er politisch und auch emotional sehr nah dran an seinem Protagonisten, was er in der Vorrede zu seinem Buch mit erfrischender Offenheit und Selbstironie darlegt. So sei Hirschfeld ihm und seinen Mitstreitern einerseits „von vorneherein sympathisch“ gewesen, weil er sich dem „seinerzeit noch virulenter als heute vorherrschenden Tuntenhass“ verweigert habe (S. 7) – ein Thema, das die Aktivisten der HAW im Zuge des „Tuntenstreits“, bei dem es nicht nur um „Effeminiertheit“ sondern auch um einen politische Richtungsstreit um „Emanzipation“ versus „Integration“ ging, intensiv beschäftigte. Andererseits habe ihn an Hirschfelds Sexualtheorie und Sexualpolitik auch vieles gestört, insbesondere jene Aspekte seiner Theorie, die man als „Biologismus“ bezeichnet habe (S. 8).
Diese Ambivalenz durchzieht auch seine Hirschfeld-Biografie, übrigens nicht die erste, die Herzer vorlegt. Bereits 1992 hatte er bei Campus einen mit 189 Seiten etwas schmaleren Band publiziert, der Leben und Werk des „jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen“ in sechs großen, thematisch gegliederten Abschnitten vorstellte.1 Für sein neues, mit 456 Seiten wesentlich umfangreicheres Werk hat er nun eine chronologische Darstellung gewählt, was dem Buch zu- und abträglich zugleich ist. Denn der bestechende Detailreichtum, mit dem Herzer Hirschfelds Entwicklung schildert und damit auch ein Sittenbild seiner Zeit malt, führt dazu, dass die großen Linien, denen dieses Leben folgte, mitunter nicht ausreichend kenntlich sind. Eine stärkere thematische Fokussierung etwa auf Hirschfelds Theoriebildung, sein politisches Engagement als Begründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), der weltweit ersten Lobbyorganisation Homosexueller, oder auf seine praktische Arbeit als Arzt und Gutachter hätte dem/der Leser/in die Orientierung sicherlich erleichtert.
Den Schwerpunkt seiner Darstellung setzt Herzer bei den Jahren zwischen WhK-Gründung 1897 und Beginn des ersten Weltkriegs 1914. Zur Sprache kommen die verschiedenen theoretischen Einflüsse, die die Entwicklung von Hirschfelds Homosexualitätstheorie und seines Konzeptes der sexuellen Zwischenstufen prägten, ebenso die verschlungenen Wege, auf denen die WhK-Aktivisten zusammenfanden und die erste Petition zur Abschaffung des „Homosexuellenparagrafen“ 175 in den Reichstag einbrachten. Herzer streift die volkspädagogische Arbeit des WhK, etwa die 1901 publizierte Broschüre „Was muss das Volk vom Dritten Geschlecht wissen“, und stellt die Widersacher in den christlichen Sittlichkeitsvereinen vor. Aber auch die Konflikte innerhalb der Homosexuellenbewegung scheinen immer wieder auf, insbesondere der große Streit um Effeminiertheit, „Drittes Geschlecht“ und „männliche Kultur“. In dieser Frage positioniert sich Herzer auch heute noch als ein Hirschfeld-Anhänger, während er Protagonisten wie Adolf Brand, die eine an antiken Idealen orientierte „Freundesliebe“ propagierten, „deutschtümelnden Chauvinismus“ und eine „diffus individual-anarchistische und antidemokratische, mehr oder weniger innige Identifikation mit der Staatsmacht“ vorhält (S. 104). Doch auch eine „vaterländische Wende“ Hirschfelds, die Herzer auf die Zeit nach der Eulenburg-Affäre datiert, schildert er mit spürbarer Irritation (S. 183). An solchen Stellen hätte ein etwas nüchternerer Blick gutgetan. Dass die Protagonisten der Homosexuellenbewegung des Kaiserreichs kein ähnlich gebrochenes Verhältnis zur Nation hatten wie die nach 1945 sozialisierten Generationen, ist so verwunderlich nicht.
Die Eulenburg-Affäre der Jahre 1907 bis 1909 schildert Herzer zu Recht sehr ausführlich, war sie für das WhK und die Homosexuellenemanzipation doch eine Zäsur. Die öffentliche Skandalisierung der Homosexualität des Grafen Eulenburg und einiger anderer enger Berater des Kaisers und die folgenden Prozesse, in denen die Beschuldigten um ihre „Ehre“ kämpften, führten dazu, dass sich breite Bevölkerungskreise mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzten. Der Vorwurf, die „Homosexuellenclique“ habe mit ihren „Einflüsterungen“ versucht, den Kaiser und die deutsche Außenpolitik auf Abwege zu führen und das Deutsche Reich zu schwächen, reproduzierte nicht nur gängige Klischees über die Homosexualität „verkommener Eliten“, die schon den Untergang des römischen Reiches herbeigeführt hätten. Es legte auch den Grundstein für ein verschwörungstheoretisches Bedrohungsszenario, das später für die NS-Verfolgungspolitik gegenüber Homosexuellen bestimmend werden sollte. Herzer zeichnet die Ereignisse der Jahre 1907/1908 detailliert nach und versucht insbesondere, die Hintergründe aufzuklären. Im Streit über die Rolle Hirschfelds, der Graf Moltke in dessen Ehrenrettungsprozess „eine ihm selbst nicht bewusste homosexuelle Veranlagung“ attestiert hatte, weist er die Kritik anderer Autoren zurück2, Hirschfeld habe damit „Outing“ betrieben (S. 170). Herzer meint, Hirschfeld habe hier keine Agenda verfolgt, sondern sich seiner Rolle als Gerichtsgutachter entsprechend korrekt verhalten. Dass dieses Verhalten politisch naiv und wenig vorausschauend war, übersieht er allerdings. Denn auch wenn Hirschfeld kein „Outing“ intendiert haben sollte, in der öffentlichen Wahrnehmung musste es auf eine solche Interpretation hinauslaufen. Dass zum Schluss nicht nur der Publizist Maximilian Harden, der die verdrucksten Kaiserberater öffentlich denunziert hatte, sondern auch Hirschfeld und das WhK als die Schuldigen an dieser Schmutzkampagne dastehen würden, hätte ein politisch erfahrenerer Akteur vielleicht eher antizipiert.
Den 1920er-Jahren, in denen Magnus Hirschfeld den Höhepunkt seines Einflusses und seiner Popularität erreichte, in denen er aber auch zum Feindbild insbesondere der entstehenden NS-Bewegung avancierte, widmet Herzer leider weniger Raum. Gerade zu Hirschfelds politischen Aktivitäten, vor allem zu den Auseinandersetzungen um den Paragrafen 175, die Herzer auf sechs Seiten abhandelt, hätte man sich eine ausführlichere Betrachtung gewünscht. Abgesehen von solchen kleineren Kritikpunkten ist Herzers Buch jedoch ein Meilenstein der Aufarbeitung dieser viel zu lange ignorierten Biografie und eine Fundgrube für alle Historiker/innen, die sich mit der Geschichte der Homosexuellenemanzipation beschäftigen.
Anmerkungen:
1 Manfred Herzer, Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, Frankfurt am Main 1992.
2 Erwin Haeberle, Justitias zweischneidiges Schwert. Magnus Hirschfeld als Gutachter in der Eulenburg-Affäre, in: Klaus M. Beier (Hrsg.), Sexualität zwischen Medizin und Recht, Stuttgart 1991, S. 5–20, hier S. 11 und 19; Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt am Main 2010, S. 189.