Cover
Titel
Achterbahn. Europa 1950 bis heute. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt


Autor(en)
Kershaw, Ian
Erschienen
Anzahl Seiten
828 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kraft, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Am Ende seiner gut geschriebenen und informativen Geschichte Europas von 1950 bis heute konstatiert Ian Kershaw, dass die titelgebende „Achterbahn“ (erst) „in den 1970er Jahren Fahrt aufnahm, sich nach 1990 stark beschleunigte und im neuen Jahrhundert beinahe außer Kontrolle geriet“ (S. 745). Diese Beobachtung spiegelt sich in der erzählerischen Anlage des Buches wider: Die ersten drei Kapitel erscheinen merkwürdig statisch, Europa ist mehrfach eingeklammert, überall durch das Bedrohungspotential des Kalten Krieges sowie im Osten zusätzlich durch den „Schraubstock“ sowjetischer Herrschaft. Dynamischer wird die Erzählung erst, als in den Kapiteln zum Nachkriegsboom, zu kulturellen Neuverortungen und zu 1968 (Kapitel 4–6) die europäischen Gesellschaften durch eine ausgeprägtere sozialgeschichtliche Perspektivierung eigene Handlungsfähigkeit zu gewinnen scheinen. Hier zeigt sich eine Stärke von Kershaws Darstellung: Auch wenn er auf sehr unterschiedlichen Forschungsständen aufbauen muss, ist er bemüht, wirklich alle europäischen Gesellschaften in den Blick zu bekommen. Die beiden Jahreszahlen 1968 und 1973 stellen dann so etwas wie eine Sattelzeit der europäischen Nachkriegsgeschichte dar: Nun beginnt tatsächlich die erzählerische Achterbahnfahrt, auf der plastisch Krisen und Krisenbewältigung geschildert werden – bis zu den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, als die Europäische Union (die Kershaw zunehmend mit „Europa“ gleichsetzt) ihre geographisch größte Ausdehnung und politisch intensivste Zusammenarbeit erreicht hat (Kapitel 7–10), aber durch vielfältige „Globale Herausforderungen“ und „Krisenjahre“ (Kapitel 11 und 12) herausgefordert wird.

Wenn man Kershaws beeindruckende Syntheseleistung in die Forschungslandschaft einordnen möchte, stellt sich die Frage, wie sich der Autor zu seinem Gegenstand positioniert. Gleich zu Beginn des voluminösen Werkes benennt Kershaw die sich rasch abwechselnden Krisen in der europäischen Nachkriegsgeschichte sowie die Unmöglichkeit, die Geschichte des östlichen und westlichen Europas kohärent erzählen zu können, als kompositorische Herausforderungen beim Schreiben einer europäischen Nachkriegsgeschichte. Diese Offenheit ist sympathisch – aber ist der Historiker nicht dafür verantwortlich, gerade im Hinblick auf die ja immer gegebene Faktenfülle und Widersprüchlichkeit von Entwicklungen, eine Entscheidung für ein Narrativ und damit für die Ordnung des Materials zu treffen? Indem Kershaw dieser Entscheidung ausweicht, wird vor allem die erste Hälfte des Buches zu einer an etlichen Stellen mühsam zu lesenden Ansammlung akribisch zusammengetragener Fragmente der europäischen Geschichte, die es der Leserin erschweren, hier größere Zusammenhänge zu erkennen (und dies ist sowohl zeitlich als auch im Hinblick auf die Verflechtung von ost- und westeuropäischer Geschichte gemeint). Durch die Überbetonung der Divergenz zwischen Ost- und Westeuropa beraubt sich der Autor zudem der Möglichkeit, seine Geschichte als eine verflochtene Geschichte zu erzählen.

Im Übrigen hat sich Kershaw durchaus für ein Narrativ bzw. ein Ordnungsprinzip seines Materials entschieden, das er nur nicht explizit macht: Bei ihm gibt es eine – durch Krisen fragmentierte – Geschichte Europas, die zumindest bis in die allerjüngste Vergangenheit als Fortschrittsgeschichte erzählt wird und die doch sehr westeuropäisch bleibt (wenn auch ab 1989 durch die osteuropäischen Nachzügler ergänzt; rein quantitativ betrachtet erhält die Darstellung seit den 1980er-Jahren sogar eine gewisse östliche Schlagseite). Demgegenüber ist die Geschichte der Globalisierung, die für Kershaw ohne Frage ebenfalls geschichtsmächtig ist, aber weniger zielgerichtet als die Europäisierung verläuft, durch viel mehr Kontingenzen gekennzeichnet. Diese Deutung ist sicherlich für diejenigen Kapitel nachvollziehbar, die sich mit der unmittelbaren Gegenwart beschäftigen, da die allerjüngste Zeitgeschichte es dem Historiker nicht leichtmacht, strukturell bedingte Entwicklungen und Kontinuitätslinien auszumachen. Doch anders als die stringent erzählte Europäisierungsgeschichte bleibt die Globalisierung, die Kershaw im Vorwort als ein „Hauptthema dieses Buches“ ankündigt (S. 10), in den Kernkapiteln, die sich mit den ersten vier Jahrzehnten des Betrachtungszeitraums beschäftigen, eher blass. Stabilität oder aber häufig gewaltsame Verschiebungen in globalen Machtverhältnissen und die zu beobachtenden Ungleichzeitigkeiten, die offenbar werden, wenn man europäische und globale Handlungsräume zusammendenkt, werden kaum berücksichtigt. Der „koloniale Rückzug“ Frankreichs und Großbritanniens (S. 110ff.) sowie die brutalen Kolonialkriege etwa werden nicht an zeitgleich zu beobachtende Entwicklungen wie die zunehmende Präsenz von Menschenrechtsdiskursen rückgekoppelt. Auch die Tatsache, dass der „Kalte Krieg“, den Kershaw im ersten Kapitel als wichtigen Rahmen für die europäische Nachkriegsgeschichte beschreibt, fast von Beginn an zu einem „heißen“ Krieg in nicht-europäischen Regionen wurde, bleibt unterbelichtet, wenn es zum Beispiel heißt, dass sich der Kalte Krieg in seiner intensivsten Phase 1950–1962 vor allem in Europa abgespielt habe (S. 24). Die Forschung zum Kalten Krieg diskutiert jedoch schon seit einiger Zeit die Verflechtung der Ost-West-Divergenz mit dem Nord-Süd-Konflikt.1

Kershaws Europäisierungsnarrativ bedeutet für den Osten des Kontinents, dass er in dem Buch vor allem in der ersten Hälfte der Nachkriegszeit nur als Differenzgeschichte, aber nicht als eigenständiger Teil der Erzählung erscheint. Dies führt zu manchen Irrtümern und interpretatorischen Kurzschlüssen. So lockerte sich der sowjetische Zugriff auf das östliche Europa gerade nicht nach 1953, um sich dann mit der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn 1956 wieder zu verfestigen (S. 73). Eine solche Interpretation ist nur nachvollziehbar, wenn die Geschichte Osteuropas als Abfolge von niedergeschlagenen Aufständen erzählt wird, die schließlich 1989 mit einer nicht mehr zu bewältigenden Revolte endet. Eine Geschichte Europas 30 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation und mit dem Wissen über das eben nicht eingetretene Ende der Geschichte hätte hingegen allen Grund, genauer nach den Phasen der Stabilität zwischen den osteuropäischen Krisen zu fragen und den Faktoren für diese Stabilisierung nachzugehen.

Osteuropa wird von Kershaw als relativ homogener Raum gezeichnet, der vor allem durch den sowjetischen „Schraubstock“ zusammengehalten worden sei. In dieser Deutung wird eine weitere kompositorische Vorannahme sichtbar. Der Untertitel „Europa 1950 bis heute“ erinnert an Tony Judts ebenfalls monumentales Werk „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ (2005/06). Doch vielleicht sind gerade die fünf Jahre Unterschied, die im Titel der beiden Bücher aufscheinen, der Grund für zwei sehr verschiedene Narrative. Während sich bei Judt die Geschichte Europas nur vor dem Erfahrungsraum des Zweiten Weltkrieges erschließt (im englischen Original heißt sein Buch Postwar. A History of Europe since 1945) und er die Kriegserfahrungen und deren materielle wie ideelle Überwindung für die west- und osteuropäische Nachkriegsgeschichte als zentral wahrnimmt, wirken die wenigen AkteurInnen, die Kershaws Darstellung bevölkern, merkwürdig geschichtslos und werden nur in der jeweils beschriebenen historischen Gegenwart kontextualisiert. Auf diese Weise kommt es zu bemerkenswerten (Fehl-)Deutungen, etwa dass Osteuropa weniger von „tiefgreifenden Umwälzungen“ (S. 133) in der Nachkriegszeit betroffen gewesen sei. Doch für die Menschen im sowjetischen Machtbereich änderte sich seit dem Zweiten Weltkrieg oder auch immer noch seit 1950 sehr vieles sehr schnell, und die Gesellschaften des östlichen Europas waren im Vergleich zu denen in Westeuropa viel weiter von der Zeit vor 1939 entfernt.

Weil Kershaw den politischen und gesellschaftlichen Wandel seit der Vorkriegszeit nicht thematisiert, sondern nur die nichtdemokratische Qualität der Herrschaft im östlichen Europa hervorhebt, schreibt er eine „dünne“ Geschichte von Widerstand und vor allem von dessen Unterdrückung. Wie diese Unterdrückung genau funktionierte und sich gesellschaftlich materialisierte (Parteiherrschaft, Planwirtschaft, Korruption, Seilschaften und Aufstiegsmöglichkeiten etc.), bleibt außen vor. Das ist vielleicht als Lektüreergebnis noch unbefriedigender als die sehr starke Fokussierung Kershaws auf den Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow, dessen Rolle für den Umbruch in Osteuropa als „unverzichtbar“ (S. 495) bewertet wird. Geschichtsschreibung soll ja bestenfalls auch zur Gegenwartsdeutung beitragen. Für das Verständnis der Entwicklungen und Verwerfungen im Postsozialismus scheinen inzwischen aber die oftmals ethnonational gerahmten egalitären Gesellschaftsprojekte des Staatssozialismus und die identitätspolitischen Verortungen dissidentischer Gruppen größeres Erklärungspotential bereitzuhalten als eine stark auf Einzelpersonen und -ereignisse gerichtete Perspektive.

Ebenfalls auffällig ist die „Geschichtslosigkeit“ der AkteurInnen, wenn man sich anschaut, wie Kershaw Wertewandel und die Entstehung neuer sozialer Bewegungen in Westeuropa und hier etwa die Frauenbewegung beschreibt. Er lokalisiert dabei historischen Wandel sehr stark in den 1960er-Jahren und schlussfolgert: „Die zumindest theoretisch zunehmende Akzeptanz der Gleichheit der Frau, eine wesentliche und dauerhafte Errungenschaft der Frauenbewegung, stellte in den nachfolgenden Jahrzehnten eine der bedeutendsten gesellschaftlichen Veränderungen dar, und sie wurde zu einem guten Teil von der Einführung der Pille ermöglicht.“ (S. 306) Diese Deutung ist, um es vorsichtig auszudrücken, nicht unbedingt Ergebnis einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der neueren zeitgeschichtlichen Frauen- und Geschlechterforschung. Ich möchte an diesem Beispiel allerdings nicht so sehr die Unterbelichtung der Kategorie Geschlecht thematisieren, sondern erläutern, weshalb ich Kershaws Darstellung als teilweise ahistorisch empfinde. Er verortet die Frauenbewegung in den 1960er-Jahren und konstatiert – am sichtbarsten für ihn in der veränderten Einstellung gegenüber Sexualität – einen tiefgreifenden Wandel in den Geschlechterverhältnissen. Dass dem nicht so war, lehrt nicht nur der Blick auf die Kritik der „Achtundsechzigerinnen“ an ihren Kommilitonen bzw. Genossen, sondern auch auf die gesellschaftlichen Felder, in denen es ebenfalls und bereits länger um Gleichheit oder Gleichberechtigung ging (sei es im Bereich des Privatrechts, im Bereich der Arbeit – deren Wandel Kershaw kurz in seinen generellen Ausführungen zum Wertewandel beschreibt, ohne auf die fundamentale Frage nach dem Stellenwert von Haus- und Erwerbsarbeit einzugehen – oder im Bereich der Bildung). Die Engführung von „sexueller Revolution“ mit dem Thema Feminismus (interessant ist hier ein Blick ins Register: die Seitenzahlen zu „Feminismus“ und „Sexualität“ weisen eine sehr große Schnittmenge auf) wird nur erklärlich, wenn man a) Frauen vor allem weiterhin auf ihre Biologie reduziert oder b) alle Formen von Engagement für eine gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen mit dem Feminismus in der zweiten Frauenbewegung der 1960er-Jahre kurzschließt. Doch die Kämpfe um Gleichheit haben eben auch eine Geschichte – und die zu kennen würde zu einer signifikant anderen Deutung führen, als dass die „Pille“ zentral für die Durchsetzung von Geschlechtergleichheit war. Solche Leerstellen im Hinblick auf eine auch geschlechtergeschichtliche Deutung der Geschichte Europas sind anscheinend in großen Synthesen noch immer unvermeidlich (wenn auch bedauerlich).

Ian Kershaw hat eine gut zu lesende Gesamtdarstellung Europas vorgelegt, die wie wohl alle Synthesen dazu einlädt, Dinge einzufordern, die der Autor nicht berücksichtigt hat. Ob eine geschlechtergeschichtliche Querschnittsperspektive auch in Überblickswerken nicht längst state of the art sein müsste, erscheint mir auf jeden Fall diskussionswürdig. Aber selbst wenn man diese Debatte nicht führen möchte, sollte man kurz darüber nachdenken, wie Frauen als historische Akteurinnen in Kershaws Buch auftauchen, nämlich häufiger als Vertreterinnen nicht-demokratischer bzw. extremistischer Politik denn als „normale“ Politikerinnen, häufiger als Ikonen der Popkultur denn als Künstlerinnen oder Wissenschaftlerinnen. Sogar angesehene weibliche Intellektuelle erscheinen immer nur in männlicher Begleitung.2 Die erste Abbildung im Buch, auf der Frauen zu sehen sind (Abb. 4), zeigt übrigens weinende Frauen bei Stalins Beerdigung – bei so viel politischer Unvernunft wirkt das schweizerische Plakat aus dem Jahr 19463 mit der Botschaft „Frauenstimmrecht NEIN“ (Abb. 16) schon wieder irgendwie plausibel.

Anm. der Red.:
Dieser Beitrag ist Teil eines Review-Symposiums. Das redaktionelle Vorwort und Links zu den weiteren Rezensionen finden Sie unter https://www.hsozkult.de/text/id/texte-4873

Anmerkungen:
1 Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2005; Leslie James / Elisabeth Leake (Hrsg.), Decolonization and the Cold War. Negotiating Independence, London 2015.
2 Simone de Beauvoir wird dreimal erwähnt (S. 62, Abbildung 8, S. 306), aber immer zusammen mit Jean-Paul Sartre, zweimal explizit vorgestellt als dessen Partnerin (Abb. 8 sowie S. 306).
3 Im Bildnachweis wird das Plakat fälschlicherweise auf 1971 datiert, für die richtige Angabe siehe den eGuide des Museums für Gestaltung in Zürich: https://www.eguide.ch/de/objekt/frauenstimmrecht-nein/?pdf=1441 (20.10.2019).

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