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Titel
Marktwirtschaft schreiben. Das Wirtschaftsressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1949 bis 1992


Autor(en)
Kutzner, Maximilian
Reihe
Medienakteure der Moderne 1
Erschienen
Tübingen 2019: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
X, 360 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Stöber, Institut für Kommunikationswissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Der zu besprechende Band ist der erste einer neuen Reihe „Medienakteure der Moderne“, die von Peter Hoeres und Dominik Geppert herausgegeben wird. Entstanden ist die Dissertation im Kontext des DFG-Projekts „Geschichte eines Leitmediums. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung von ihrer Gründung bis zur Gegenwart“. In dem Titel des Projekts von Hoeres klingt einiges von dem an, was die Arbeit von Kutzner leistet, aber indirekt auch, was fehlt.

Zunächst einmal zu den positiven Aspekten, die deutlich überwiegen. Kutzner beschreibt und analysiert den Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) als Leitmedium. Man könnte sogar zuspitzen: den Wirtschaftsteil als Leitmedium eines Leitmediums. Doch sei die Zuspitzung zugleich eingeschränkt: So wichtig das „Leitressort“ für die FAZ war und ist, es dominierte nie die anderen selbstbewussten Ressorts. Die Fragen der Arbeit sind, wie dies bei Qualifikationsschriften üblich ist, deskriptiver und analytischer Natur. Deskriptiv fragt Kutzner: „Welche Bedeutung hatte das Wirtschaftsressort der FAZ als Medienakteur zu unterschiedlichen Zeitpunkten von 1949 bis 1992 für Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien in der Bundesrepublik? Und: Welche ideellen Leitbilder, personellen Strukturen und organisatorischen Prinzipien bestimmten das Leitressort?“ Analytisch steht im Vordergrund, „wie Wirtschaftsjournalismus im vordigitalen Zeitalter funktionierte und welche Bedeutung er für die Geschichte der Bundesrepublik hatte“ (S. 7).

Die Arbeit ist gründlich recherchiert. Die überschaubare Literatur, die es zum Thema im engeren Sinne gibt, wurde benutzt, etwa Anton Riedls schon fast 30 Jahre alter Vergleich der Wirtschaftsberichterstattung von FAZ und Neue Zürcher Zeitung (NZZ)1 oder Friedemann Sierings wichtiger Aufsatz über die FAZ-Frühgeschichte.2 Sie liefert eine Detailstudie zu der das DFG-Projekt überwölbenden Monografie von Peter Hoeres, die das Wirtschaftsressort bewusst ausgespart hatte.3 Kutzner stützt seine Arbeit auf drei unterschiedliche Quellenprovenienzen: auf die umfangreiche Berichterstattung der Zeitung selbst; auf die interne Überlieferung der FAZ zu Korrespondenz der Herausgeber, Ressort- und Redaktionskonferenzen etc.; auf archivalische Überlieferung des Bundesarchivs, der Konrad-Adenauer-Stiftung und anderer Archive. Das Archiv der Ludwig Erhard-Stiftung fehlt; zwar ist die Masse ihrer politischen Archivalien an das Bundesarchiv abgegeben worden, allerdings nicht die Unterlagen zu ordnungs- und wirtschaftspolitischen Diskussionen der sozialen Marktwirtschaft.

Kutzner orientiert sich am Paradigma der „Leitmedien“, das in der Kommunikationswissenschaft, aber auch der politischen Geschichtsschreibung immer wieder fruchtbar gemacht worden ist. Leitmedien zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine große Reichweite in relevanten Gruppen haben und dass sie von anderen Medien als wichtige Stimme anerkannt und zitiert werden. Kutzner orientiert sich des Weiteren an den systemtheoretischen Überlegungen Niklas Luhmanns.

Die Arbeit ist in fünf Abschnitte nebst Einführung und Resümee gegliedert. Ein kurzer, nicht binnengegliederter Abschnitt „Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsressort 1945–1949“ führt auf die Untersuchung hin, ein systematisches Kapitel „Gesicht und Gesichter“ schließt sich an. Darin werden die Leitbilder, das Personal, die Organisationsstruktur, Layout-Aspekte und, last but not least, die NS-Vergangenheit thematisiert. Letztere wird als „Exkurs“ gelabelt, dabei führt der Unterabschnitt nicht von der FAZ fort, sondern auf sie hin. Wie schon in der Studie von Hoeres kommt wenig überraschend heraus, dass es sich um einen heterogenen Haufen von Journalisten handelte: Exilanten und dem Widerstand Nahestehende, Mitläufer und zum Teil tiefbraune NS-Affine, die ab den 1960er-Jahren zunehmend als Gefahr für die Reputation der Zeitung erkannt wurden. Den ersten beiden Abschnitten folgen diachron drei weitere, lakonisch überschrieben mit „Wirtschaftswunderjahre 1949–1966“, „Zeiten der Veränderung 1967–1981“, „Enttäuschte Hoffnungen 1982–1992“.

Im Großkapitel „Wirtschaftswunderjahre“ schildert Kutzner die Schützenhilfe, die die FAZ in der Phase der Etablierung der sozialen Marktwirtschaft dem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard gab. Dabei kommt unter anderem zur Sprache, dass das Wirtschaftsressort sich in der Frage der Kartellgesetzgebung deutlich zugunsten ordnungspolitischer Vorstellungen und damit gegen den BDI und andere Industrieakteure stellte. Auch der Unterstützung der Kanzlerambitionen Erhards wird breiter Raum gegeben. Man hatte das Wirtschaftsressort als „Brigade Erhard“ apostrophiert – auf den Spott geht Kutzner nicht ein. Dabei war zumindest Herausgeber Erich Welter schon frühzeitig skeptisch, ob Erhard der Kanzlerschaft überhaupt gewachsen sei. Im Laufe der Zeit sollte sich die Enttäuschung einstellen. Ähnliches wiederholte sich in den „langen Siebzigern“, in denen die FAZ Helmut Schmidt anfangs sehr aufgeschlossen gegenüberstand, um sich nach kurzer Zeit umso deutlicher zu distanzieren. Ein drittes Mal enttäuschte die Wirtschaftspolitik in den 1980er-Jahren. In die Kohl-Genscher-Lambsdorff-Wende hatte man größere Hoffnungen gesetzt. Immer, so könnte man resümieren, stand das FAZ-Wirtschaftsressort der reinen Lehre näher und mochte in den politischen Realitäten nur überflüssige Restriktionen sehen.

All das wird anschaulich und flüssig geschildert. Und – es sei noch einmal wiederholt – die nun folgenden Kritikpunkte schmälern den grundsätzlichen Wert der Studie nicht. Die Hauptkritik gilt der Auswahl des Untersuchungszeitraums. Der Anfang ist selbstevident, aber warum endet die Studie 1992? Es wird keine explizite Begründung geliefert: En passant schimmern zwei Begründungen durch: Es galt, die FAZ im „vordigitalen Zeitalter“ (S. 7) zu untersuchen. Und ökonomisch wird damit argumentiert, 1992 sei der Wendeboom zu Ende gegangen. Die erste implizite Begründung ist fragwürdig; das digitale Zeitalter begann auch in der FAZ schleichend in den 1960er-Jahren. Allenfalls der Startschuss für die massentauglichen Internetdienste wurde mit Tim Berners-Lees Hypertext-Protokoll 1991 gelegt. Die zweite Begrenzungsbegründung ist keine medienhistorische. Ein deutlich besserer Einschnitt wäre das Platzen der Dotcom-Blase zu Anfang der 2000er-Jahre gewesen. Sie hatte eminente Auswirkungen auf die Presselandschaft der Bundesrepublik. Somit führt die Studie nicht in die Gegenwart hinein, sondern nur an sie heran.

Ein Kritikpunkt, dem manche Leser nicht zustimmen mögen, gilt der theoretischen Rahmung: Kutzner bemüht bisweilen die Systemtheorie Luhmanns. Er tut dies immer zurückhaltend. Es fallen Bemerkungen wie „systemtheoretisch gesprochen“ und andere mehr Der Interpretation dient das nach Ansicht des Rezensenten kaum, man mag darin allerdings eine Referenz an die immer noch systemtheoretisch denkende Journalismusforschung sehen. Bei einer in Teilen massenprosopografischen Studie wäre meines Erachtens ein handlungstheoretischer Zugriff der bessere gewesen. Auch stören vereinzelte Fehlzuschreibungen wie die des dispersen Publikums, das als Denkfigur Luhmanns behandelt wird; Gerhard Maletzke, dem wir den Begriff zu verdanken haben, taucht in der Arbeit nicht auf.4

Weitere kleinere Kritikpunkte: Viele Grafiken sind nur schwer lesbar, Quellenangaben und Achsenbeschriftung fehlen ab und an. Die Auslesungen des Textkorpus der FAZ und die Verwendung des NGram-Viewers von Google werden nicht problematisiert: Das elektronische FAZ-Archiv hat einen schweren Bug für die 1970er-Jahre. Der fällt nur auf, wenn man die semantische Wortfeldanalyse normalisiert. Der NGram-Viewer ist völlig opak. Der verwendete gleitende Durchschnitt von drei Jahren wird weder thematisiert noch begründet. Sieht man von diesen Punkten ab, darf man Kutzner zu seiner soliden Arbeit beglückwünschen.

Anmerkungen:
1 Anton Riedl, Publizistik für soziale Marktwirtschaft. Die Unterstützung der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung 1948/49 bis 1957, Regensburg 1992.
2 Friedemann Siering, Zeitung für Deutschland. Die Gründergeneration der „Frankfurter Allgemeinen“, in: Lutz Hachmeister / Friedemann Siering (Hrsg.), Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München 2002, S. 35–86.
3 Peter Hoeres, Zeitung für Deutschland. Die Geschichte der FAZ, München 2019.
4 Vgl. Gerhard Maletzke, Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik, Hamburg 1963.

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