Titel
German Atrocities, 1914. A History of Denial


Herausgeber
Horne, John N.; Kramer, Alan
Erschienen
Anzahl Seiten
608 S.
Preis
$40.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Bruendel, Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Frankfurt am Main

Brutale Vergeltung für einen Volkskrieg, der keiner war – so lautet, kürzestmöglich zusammengefasst, das Fazit, das John Horne und Alan Kramer in Bezug auf die Geschehnisse des Jahres 1914 ziehen, die in der alliierten Propaganda als „German Atrocities“ bezeichnet und in den nationalen Erinnerungskulturen noch Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg sehr unterschiedlich gedeutet wurden. Während insbesondere die britische Kriegspropaganda und ihre Darstellung deutscher „Greueltaten“ bereits recht gut erforscht ist 1, fehlte bisher – abgesehen von der Zerstörung der belgischen Universitätsstadt Löwen 2 – eine systematische und ausführliche Untersuchung aller Vorfälle, auf denen die alliierte „Greuelpropaganda“ beruhte. Horne und Kramer, zwei ausgewiesene Experten der Geschichte des Ersten Weltkriegs, haben diese Lücke geschlossen. Sie untersuchen die den Deutschen angelasteten „Atrocities“ in Belgien und Nordfrankreich, in deren Folge zwischen August und Oktober 1914 insgesamt über 5.000 Zivilisten umkamen und 129 Städte ganz oder teilweise zerstört wurden. Ihre Studie ist das Ergebnis mehrjähriger Forschungen in Archiven und Bibliotheken in acht Ländern. Da die Autoren bereits einige Aufsätze zu Aspekten der „Atrocities“ veröffentlicht haben 3 und es auch ältere Studien zu diesem Thema gibt 4, sind nicht alle jetzt vorgestellten Ergebnisse neu. Neu ist aber der Umfang ihrer Analyse und die Präzision, mit der die Autoren die historischen Ereignisse rekonstruieren und die unterschiedlichen Deutungen in den kollektiven Gedächtnissen und der historischen Forschung nachzeichnen. Ihre umfassende Studie gliedert sich in vier Teile mit insgesamt 10 Kapiteln. Im ersten Teil (S. 7-86) widmen sie sich dem deutschen Vormarsch 1914 und den mit ihm verbundenen Vorfällen. Im zweiten (S. 87-225) untersuchen sie die kognitiven Prädispositionen der Soldaten sowie die militärischen Rahmenbedingungen des Vormarsches. Der dritte Teil (S. 227-325) ist der Analyse der Kriegspropaganda gewidmet und der vierte und letzte (S. 327-418) den verschiedenen Erinnerungskulturen in der Nachkriegszeit. Ergänzt wird die Studie von vier Appendices (S. 433-450): einer Aufstellung aller Vorfälle, einem Auszug aus der Haager Landkriegsordnung von 1907, den Artikeln 227-230 des Versailler Vertrages betreffend die Auslieferung so genannter Kriegsverbrecher sowie der alliierten Auslieferungsliste von 1920.

1. Brutalität durch Nervosität – der Mythos vom belgischen „Volkskrieg“

Im Zentrum von Horne und Kramers Analyse steht der „myth-complex of the ‚franc-tireur war’“ (S. 94), der bei den Deutschen verbreitete Mythos vom „Volkskrieg“ der Feinde. Sie weisen nach, dass die Tötung belgischer und französischer Zivilisten durch deutsche Soldaten fast immer mit eingebildeten Freischärlerüberfällen in Verbindung stand und stellen fest, dass es wohl vereinzelte Sabotageakte oder Übergriffe auf deutsche Soldaten gegeben hat (S. 23), aber eben keinen organisierten Widerstand, keinen „Volkskrieg“. Die Autoren sprechen daher von einer kollektiven Freischärler-„delusion“ (S. 89) der Deutschen und erklären, wie diese zustande kam. Bei der Rekonstruktion der Ereignisse gehen Horne und Kramer äußerst genau vor und beziehen sich, soweit möglich, auf belgische, französische und deutsche Quellen. Sie legen dar, dass die im kollektiven Gedächtnis verhafteten französischen Freischärlerüberfälle vom Krieg 1870/71 ein Feindbild präformiert hatten, das 1914 aktualisiert wurde und die Wahrnehmung realer Vorfälle trübte. So wurden versehentliche Schüsse undisziplinierter Soldaten oder „friendly fire“ (S. 120) als heimtückischer Überfall gedeutet, der das Feindbild bestätigte und die diffuse Angst in der deutschen Armee vergrößerte. Auch bei Kämpfen mit der belgischen Garde Civique, die aufgrund ihrer rudimentären Uniformen von den Deutschen nicht als reguläre Truppe anerkannt wurde, wähnten sich die Soldaten Freischärlern ausgesetzt. Darüber hinaus verweisen die Autoren auf den Schlieffenplan, der die Soldaten unter Erfolgsdruck setzte. Nicht nur die Erschöpfung der eigenen Truppe, sondern auch der unerwartete heftige Widerstand der Belgier gefährdete den notwendigen schnellen Sieg. Die fatale Mischung aus Angst, Überanstrengung und Wut führte zur Reaktion, vermeintliche Übergriffe mit drakonischen Maßnahmen zu vergelten, mithin zu einer Spirale von Angst und Gewalt. Diese bewirkte, dass allein in Löwen über 248 Einwohner, in Andenne 262, in Tamines 383 und in Dinant sogar 674 Personen getötet wurden. Ebenso wie solche Massaker waren es die Zerstörungen historischer Gebäude wie der Kathedrale von Reims, welche weltweit für Entsetzen sorgten.

2. Der Mythos der „abgehackten Kinderhände“ – die alliierte Greuelpropaganda

Als Gegenstück zum Mythos des belgischen Volkskriegs untersuchen Horne und Kramer das alliierte Propagandabild deutscher Untaten, der angeblich systematisch begangenen „Greuel“. Für die alliierten Massenmedien waren deutsche Grausamkeiten, von denen Flüchtlinge berichteten, ein willkommenes Thema. Die oft geradezu pornografisch anmutenden Berichte und Illustrationen von Opfern, insbesondere von geschändeten Frauen und verstümmelten Kindern, resultierten, so die Autoren, aus einer seit dem späten 19. Jahrhundert verbreiteten Obsession mit Gewalt und Sexualität. Verbunden mit Sensationslüsternheit führte sie im Krieg dazu, den Feind zu entmenschlichen (S. 224f., 295). Gerade die Grausamkeiten gegenüber Frauen und Kindern entsprangen allerdings zumeist der Phantasie der Zeitgenossen, denn in erster Linie, so Horne und Kramer, waren Männer die Opfer (S. 207, 234). Es war vor allem die Legende von den „abgehackten Händen“, welche die wohl größte propagandistische Wirkung entfaltete (S. 208f.) und rasch zur gängigen Metapher für deutsche Grausamkeit avancierte. Der Ursprung dieser Phantasmagorie lag paradoxerweise gerade in einem Skandal um die Belgische Kongo-Gesellschaft, der zu Beginn des Jahrhunderts vorgeworfen worden war, kongolesischen Arbeitern, darunter auch Kindern, zur Strafe die Hände abzuhacken. Welch ironische Wendung, so Horne und Kramer, dass ausgerechnet dieses Beispiel kolonialer Grausamkeit nun zum Sinnbild belgischer Opferidentität stilisiert wurde (S. 207ff., 223). Die polarisierende Kriegskultur machte den Feind per se zum „Greueltäter“: Um „atrocities“ unterstellen zu können, musste der Feind bereits als „atrocious“ definiert sein (S. 428). Dabei wurde der Krieg seitens der Alliierten von Beginn an als fundamentale kulturelle Auseinandersetzung gedeutet. Waren deutsche Truppen schon 1870/71 beschuldigt worden, Ausschreitungen gegenüber Zivilisten begangen zu haben, wurde das Bild einer barbarischen Invasionstruppe 1914 reaktiviert (S. 213f.) und der französische Begriff der „Civilisation“ der deutschen, als barbarisch definierten „Kultur“ gegenübergestellt.5 Als die Marneschlacht im September 1914 beendet wurde, waren die moralischen Kampflinien gezogen: Deutsche beschuldigten Franzosen und Belgier, einen völkerrechtswidrigen Volkskrieg anzuzetteln, und die Alliierten verurteilten die ‚barbarischen’ deutschen Kriegsgreuel. Im „Kampf um die Meinung der Neutralen“ (S. 250) entwickelte sich ein Propagandakrieg größten Ausmaßes, dessen Folgen die Kriegszeit überdauern sollten. Zwar war die alliierte Propaganda äußerst effektiv, aber erst die realen Vorfälle, so betonen die Autoren, machten sie plausibel (S. 255).

3. Die gegenseitige Verweigerung – konträre Erinnerungskulturen der Nachkriegszeit

Mit einem sechsfachen „Es ist nicht wahr“ protestierten am 4. Oktober 1914 93 Professoren, Schriftsteller und Künstler in einem Aufruf „An die Kulturwelt“ 6 gegen die „Lügen und Verleumdungen“, mit denen Deutschland überzogen werde. Ohne nachzuprüfen wiesen sie die Vorwürfe deutscher Kriegsgreuel entschieden zurück und konterten mit Hinweisen auf belgische Freischärleraktivitäten (S. 280). Zwar haben einige der Unterzeichner nach dem Krieg bedauert, ihre Unterschrift unter das Manifest gesetzt zu haben, aber im großen und ganzen blieb das kategorische ‚Nein’ die kognitive Leitlinie der deutsche Nachkriegsgesellschaft. Als einer der wenigen notierte Theodor Wolff schon am 8. Oktober 1914 in sein Tagebuch, dass zu viele Überflüssige Gewalttätigkeiten verübt, zu viele Geiseln erschossen und zu viele Dörfer niedergebrannt worden seien (S. 282). Demgegenüber gedachte man in Belgien nach dem Krieg der Opfer deutscher Barbarei, einer Kriegführung, deren Kennzeichen systematischer Terror gewesen sei (S. 383-400). Mit Blick auf die unterschiedliche retrospektive Deutung der Vorfälle sprechen Horne und Kramer von einem „unmöglichen Konsens“ (S. 327). Sie legen dar, wie sehr das Thema der „atrocities“ die Beziehungen zwischen Deutschland und Belgien belastete und welche Rolle es in der Auseinandersetzung um die Friedensbestimmungen von Versailles spielte. Die Auslieferung so genannter Kriegsverbrecher, die im Friedensvertrag verlangt wurde, bezog sich nicht nur auf Soldaten, denen konkrete Vergehen angelastet wurden, sondern auch auf die politische und militärische Führung des Reiches. Das stieß in Deutschland auf Ablehnung und Unverständnis. Nachdem Deutschland die Auslieferung beschuldigter Personen abwenden konnte, willigten die Alliierten ein, ausgewählte Fälle vor dem Reichsgericht zu verhandeln. Anhand der Leipziger Kriegsverbrecherprozesse von 1921/22 7 und ihrer öffentlichen Wahrnehmung zeigen die Autoren, wie sehr die verschiedenen Erinnerungskulturen der vormaligen Kriegsgegner noch von der Propaganda bestimmt waren. Horne und Kramer sprechen von „mutual denial“ (S. 419), einer gegenseitigen Verweigerung: Während man in Belgien und Frankreich den Franktireurmythos nicht als Ursache der deutschen Gewaltakte anerkennen wollte, verschloss man sich in Deutschland der Einsicht, dass es überhaupt zu massenhaften Grausamkeiten gekommen war und hielt am Mythos vom belgischen Volkskrieg fest.

4. Resümee: Die nervöse Armee auf dem Vormarsch: Vergeltung für einen Volkskrieg, der keiner war

Eine „nervöse Reizbarkeit“ wurde vor einigen Jahren dem deutschen Kaiserreich attestiert. Sie sei das Merkmal wilhelminischer Politik und Mentalität, das Reich mithin eine „nervöse Großmacht“ 8. Horne und Kramer verfolgen einen ähnlichen Gedankengang, indem sie die „nervousness“ (S. 117) der deutschen Armee ins Zentrum ihres Erklärungsansatzes rücken. Ausgelöst durch einen Freischärlerwahn, entlud sich die Nervosität der Truppe auch bei kleinen Vorfällen in einer ungeahnten Zerstörungswut und regelrechten Massakern. Horne und Kramer haben den Legendenkomplex präzise rekonstruiert, der sich um den belgischen Volkskrieg rankte, und überzeugend nachgewiesen, dass es einen solchen nicht gegeben hat. Ebenso wenig aber gab es, auch das ist ein Ergebnis ihrer Studie, ein systematisches oder befehlsgemäß grausames Vorgehen des deutschen Heeres. Es ist daher abwegig, im Verhalten der deutschen Soldaten von 1914 schon eine „prehistory“9 späterer Wehrmachtsverbrechen in Russland erkennen zu wollen. Allerdings handelte es sich bei den Brutalitäten nicht um vereinzelte Vorkommnisse, sondern um Begleiterscheinungen des deutschen Vormarsches im Westen, bis dieser im Herbst 1914 zum Stillstand kam. Als harte Vergeltung für einen Volkskrieg, der keiner war, bilden die „German Atrocities“ ein dunkles Kapitel des Ersten Weltkriegs, das Horne und Kramer in ihrer zu Recht preisgekrönten Studie gründlich beleuchtet haben.

Anmerkung:
1 Vgl. Marquis, Alice Goldfarb, „Words as Weapons. Propaganda in Britain and Germany During the First World War“, in: Journal of Contemporary History 13, 1978, S. 467-498; Sanders, Michael L.;Taylor; Philip M., Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Berlin 1990; Messinger, Gary S., British Propaganda and the State in the First World War, Manchester 1992.
2 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang, Eine Ruine im Krieg der Geister. Die Bibliothek von Löwen August 1914 bis Mai 1940, Frankfurt am Main 1993.
3 Horne, John, „Les mains coupées. ‚Atrocités allemandes‘ et opinion française en 1914“, in: Becker, Jean-Jacques (Hg.), Guerre et cultures 1914-1918, Paris 1994, S. 123-146; ders. (Hg.), State, Society and Mobilization in Europe during the First World War, Cambridge 1997; Horne, John; Kramer, Alan, „German ‚Atrocities’ and Franco-German Opinion, 1914. The Evidence of German Soldiers’ Diaries“, in: Journal of Modern History 66, 1994, S. 1-33, sowie Kramer, Alan, „’Greueltaten’. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914“, in: Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd (Hgg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 85-114.
4 Zum Beispiel Wieland, Lothar, Belgien 1914. Die Frage des belgischen „Franktireurkrieges“ und die deutsche öffentliche Meinung von 1914 bis 1936, Frankfurt am Main 1984.
5 Hierzu ausführlich: Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien um nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 346-373.
6 Zu Entstehung und Wirkung vgl. Ungern-Sternberg, Jürgen, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996.
7 Hierzu jetzt neu: Hankel, Gerd, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. Vgl. auch Schwengler, Walter, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechern als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982.
8 Ullrich, Volker, Die nervöse Großmacht 1871 – 1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt am Main 1999, S. 14; vgl. auch Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Darmstadt 1998.
9 So Müller, Sven Oliver in seiner Sammelrezension: „The Never Ending Story. The Unbroken Fascination of the History of the First World War“, in: Bulletin of the German Historical Institute London 25, Nr. 1, (2003), S. 22-54, hier S. 51ff.

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