J. Dinkel u.a. (Hrsg.): Nord/Süd – Perspektiven auf eine globale Konstellation

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Titel
Nord/Süd – Perspektiven auf eine globale Konstellation.


Herausgeber
Dinkel, Jürgen; Fiebrig, Steffen; Reichherzer, Frank
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 455 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Eric Burton, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

Auf einer Rede im Jahr 1961 teilte der Premierminister Tanganjikas, Julius Nyerere, die Welt mit seiner Rede in zwei Hälften: „[T]he world is still divided between the ‘Haves’ and the ‘Have-nots’. This division is not a division between Capitalists and Socialists, nor between Capitalists and Communists; this division is a division between the poor countries of the world and the rich countries of the world.”1 Mitten im Kalten Krieg war diese Deutung der Welt freilich nicht nur Analyse, sondern auch Ansatzpunkt und Legitimation für einen Politikentwurf, der in Panafrikanismus und Blockfreienbewegung ebenso aufgehen konnte wie in einer solidarischen „Gewerkschaft der Armen“, wie Nyerere später sagen sollte.2 Als er die Rede 1963 in abgewandelter Form auf dem Kongress der Afro-Asian Peoples‘ Solidarity Organisation in Moshi (Tanganjika) noch einmal hielt, sagte er voraus, dass die Bedeutung dieser Arm-Reich-Teilung noch zunehmen werde: „This is the coming division of the world – a class, not an ideological division.“3

Wie kam es zu dieser Sicht einer zweigeteilten Welt, in der die entscheidenden Interessengegensätze – wie Nyerere noch nicht sagte – zwischen „Norden“ und „Süden“ statt „Ost“ und „West“ verortet wurden? Was waren die institutionellen Ausformungen und politischen Potenziale dieses neuen Ordnungsmodells? Das sind Leitfragen des Sammelbandes Nord/Süd. Perspektiven auf eine globale Konstellation. Wie die Herausgeber Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig und Frank Reichherzer in der Einleitung festhalten, besteht über den historischen Stellenwert des Nord-Süd-Konflikts kein Konsens. Handelte es sich um eine ernsthafte Herausforderung westlicher Dominanz, die gar zu tatsächlichen Transformationen führte? Oder war es, was einem länger etablierten Narrativ entspricht, in erster Linie Rhetorik, die angesichts zersplitterter Interessen und fehlendem machtpolitischen Nachdruck weitgehend wirkungslos verpuffte (S. 9)? Rüdiger Graf beschließt den Band – keineswegs repräsentativ für die anderen Beiträge – mit der These, dass der Nord-Süd-Konflikt in den 1970er-Jahren ein „Erwartungsbegriff“ gewesen sei, der jedoch aus heutiger historiographischer Sicht gesprochen „keine wesentliche Konfliktlinie der internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar“ mache (S. 425). Hatte Nyerere mit seiner Vorhersage also unrecht?

Antworten auf die Frage nach den Charakteristika, Ausformungen und Kooperationen bzw. Konflikten der Nord-Süd-Beziehungen hängen nicht zuletzt vom Ansatz und konkreten Untersuchungsgegenstand ab. Hinzu kommt, dass das Denken in Nord-Süd-Konstellationen mit anderen Deutungsmustern wie Entwicklungsländer/entwickelte Länder, Erste, Zweite und Dritte Welt, Supermächte, Satelliten und Blockfreie, oder Zentrum-Peripherie konkurrierte und überlappte (S. 2–3). Dementsprechend betonen die Herausgeber schon in der Einleitung, dass sie die Kategorien von Nord und Süd in erster Linie als zu historisierende Quellenbegriffe, nicht als analytisches Handwerkszeug verstehen. Sie sehen in der Nord-Süd-Konstellation einen „Komplex“, in dem sich mehrere Prozesse im Zuge der Dekolonisierung bündelten und neue Argumentationsmuster für politisches Handeln artikuliert wurden.

Wessen Perspektiven stehen in den insgesamt 17 Beiträgen im Fokus? Schlüsselpersonen wie Raúl Prebisch, Houari Boumedienne oder Willy Brandt finden einige Beachtung; oft geht es jedoch eher um das Nachzeichnen von Debatten und Konfliktlinien in internationalen Organisationen und Foren. Das geschieht einerseits auf Grundlage von Materialien multilateraler Institutionen wie UNCTAD, CEPAL, UNIDO, UNECSO oder OPEC, andererseits mit Akten aus staatlichen Archiven von Rio de Janeiro und Washington über Berlin und Moskau bis New Delhi. Stella Krepp etwa zeigt in ihrem vielschichtigen Aufsatz, wie das lateinamerikanische Zentrum-Peripherie-Modell den Grundstein für eine wirtschaftliche und damit strukturelle Definition des Südens legte, aber dafür auch erst ein institutioneller Raum im Ringen mit westlicher Dominanz erkämpft werden musste. Steffen Fiebrig und Michel Christian nehmen mit der UNCTAD und der UNIDO zwei Institutionen in den Blick, für die das Nord-Süd-Verständnis handlungsleitend war, aber in Bezug auf Definitionen und Umverteilungsforderungen auch immer umstritten blieb. Jonas Kreienbaum legt dar, wie der Fokus auf wirtschaftliche Strukturen der Blockfreienbewegung auf ihrer Konferenz 1970 in Lusaka neues Leben einhauchte und so den Auftakt zu einer zweiten Blütezeit politischer Initiativen bildete. Je selbstbewusster die Forderungen, desto mehr wurde der Süden im Westen dann auch als Bedrohung und Konkurrenz wahrgenommen, wie Andreas Weiß anhand von Reaktionen in den Europäischen Gemeinschaften darstellt.

Erfreulicherweise geht der Band über wirtschafts- und handelspolitische Fragen wie die beabsichtigte Etablierung einer „Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung“4 hinaus. Dabei kommen auch Akteure in den Blick, denen in der Nord-Süd-Historiografie bisher weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde, so zum Beispiel auch indische Literaten, sowjetische Kulturfunktionäre, westafrikanische Filmschaffende oder die Führungsspitzen eines kapitalistischen Unternehmens. Wie Dmitri van den Bersselaar anhand der Protokolle des Leitungsgremiums der Unilever-Tochter United African Company argumentiert, waren multinationale Firmen in Afrika weit mehr mit der Einschätzung konkreter Politiker wie Kwame Nkrumah und der Angst vor dem Sozialismus beschäftigt als mit dem Nord-Süd-Konflikt. Andreas Hilger wiederum zeigt, dass indischen Akteuren die Struktur des bilateralen Handels mit der UdSSR missfiel und Erinnerungen an die Beziehungen zwischen Metropole und Kolonie weckte; gleichzeitig galt das von indischen Gesprächspartnern fallweise beworbene Nord-Süd-Ordnungsmuster im sowjetischen Außenministerium als imperialistische Vernebelungstaktik (S. 105–106).

Das Nord-Süd-Deutungsmuster war also zu keiner Zeit hegemonial – was im Zeitalter des Kalten Krieges und der Dekolonisierung wohl auch verwundern würde. So hält Sarah Stein in ihrem Beitrag zu westafrikanischen Filmschaffenden fest, dass diese die Abhängigkeitsverhältnisse zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zwar deutlich spürten und auch kritisierten – aber vor den 1970er-Jahren nicht mit Begriffen wie „Nord“ und „Süd“ operierten. In vielen Beiträgen wird auch die Heterogenität innerhalb von „Nord“ (bzw. „West“ und „Ost“) und „Süd“ erkennbar: Rumäniens Positionierung als „sozialistisches Entwicklungsland“ seit 1972 etwa, anschaulich dargestellt in Daniel Stahls Beitrag zur Verknüpfung von Abrüstungsforderungen und Entwicklungsfragen, wich selbstbewusst vom sowjetischen Standpunkt ab. Damit wird deutlich, dass die Ost-West-Konkurrenz nur fallweise Erklärungskraft besitzt und erst die Betrachtung komplexer „Beziehungsvielecke“ (Andreas Hilger, S. 87) und konkreter Akteure ein adäquates Verständnis ermöglicht. Es ist also keinesfalls so, dass der Sammelband dazu verleiten würde, ein vielkritisiertes, binäres Ordnungsmuster durch ein anderes zu ersetzen.

Zeitlich liegt der Fokus der meisten Beiträge auf den 1960er- und 1970er-Jahren. Wenngleich diese Jahrzehnte als Hochphase des Nord-Süd-Konflikts gelten, offenbarten sie doch bereits signifikante Interessensunterschiede im Süden. Besonders anschaulich werden diese im Beitrag von Johanna Sackel zur UN-Seerechtskonferenz, in der geografische Gegensätze wie jene von Binnen- und Küstenländern eine schlagkräftige internationalistische Gruppensolidarität der G-77 verhinderten. Das Metanarrativ vom Scheitern, also von Aufstieg und Fall, Aufbruch und Desillusionierung, bildet die dramatische Grammatik der meisten Beiträge. Wo eine zeitlich längere Perspektive eingenommen wird, öffnen sich aber auch Optionen für andere Narrative (die allerdings selten ausbuchstabiert werden). Historische Tiefenbohrungen wie Martin Deuerleins Blick auf die Ursprünge der Idee globaler Interdependenz im 19. Jahrhundert oder Andrea Rehlings Ausführungen zum Konzept von „Global Commons“ eröffnen einen Blick für die longue durée von Weltdeutungen. Ein zweiter Grund, dem Narrativ des Scheiterns skeptisch gegenüberzustehen, sind Fälle von institutionellem Wandel und wissenschaftlicher Innovation. Daniel Maul zeigt, wie die ILO unter anderem von Akteuren aus dem Süden als Entwicklungsagentur (um-)gedeutet wurde und so neue Aufgabenfelder erschloss; folgenreich war auch die Ausformulierung und Popularisierung von Konzepten wie „informeller Sektor“ und einer holistischeren Herangehensweise an Beschäftigungsfragen – womit allerdings auch eine gewisse Entpolitisierung einherging. So konnten Maßnahmen im Sinne einer ausgleichenden und gerechteren Nord-Süd-Politik durchaus eine Reihe langfristiger (beabsichtigter wie unintendierter) Folgen haben – Folgen, die deutlich mehr sind als nur Ruinen eines gescheiterten Experiments.

Mehrere Beitragende enden mit einem Sprung zu gegenwärtigen Ungleichheiten, so zum Beispiel Sönke Kunkel zu den nach wie vor deutlich höheren Opferzahlen nach Naturkatastrophen im globalen Süden als im Norden oder Michael Homberg über eine Verbindungslinie von Forderungen nach einer neuen „Weltinformationsordnung“ hin zur jüngsten Kritik an der „Global Algorithmic Governance“. Katja Naumann analysiert, wie die hegemoniale Wissensordnung in der UNESCO durch (Sozial-)Wissenschaftler aus dem Süden herausgefordert wurde, aber universalistische Muster der Wissensproduktion sich durchsetzten – allerdings nur bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, als eine neue und bisher nicht überwundene Legitimationskrise dieses Modells einsetzte. Insgesamt vermittelt der Sammelband jedoch eher den Eindruck, dass es sich um eine historisch einzigartige und weitgehend abgeschlossene Konstellation handelt. Es gibt nach wie vor ein Nord-Süd-Gefälle, aber kaum Zeichen dafür, dass sich der globale Süden als politische Kraft formiert oder dem Nord-Süd-Denken politische Sprengkraft zukommen würde. Mit Beiträgen von Forschenden aus dem globalen Süden wäre in dieser Frage und auch in Bezug auf Erklärungen des „Scheiterns“ womöglich ein anderer Eindruck entstanden.5

Profitiert hätte die Zugänglichkeit des Bandes von einer Gruppierung der Beiträge nach thematischen oder analytischen Gesichtspunkten sowie einer zeitlichen oder geographischen Ausweitung. Angesichts des Fokus auf die 1960er- und 1970er-Jahre überrascht, dass weitere einflussreiche Ordnungsmodelle wie die von Kuba ausgerufene Tricontinentale oder das maoistische Drei-Welten-Modell keinerlei Beachtung erfahren; das gleiche gilt für Süd-Süd-Verbindungen, die erst im Zuge eines Nord-Süd-Gegensatzes denkbar wurden. Diese Aspekte sind dem thematisch ohnehin schon sehr breit aufgestellten Band kaum als Lücken anzukreiden, sondern sollten vielmehr als Anlass dazu dienen, nicht-hegemonialen Ordnungsmustern und insbesondere Süd-Süd-Initiativen zukünftig noch mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Der Band bietet einen facettenreichen Einblick in die Nord-Süd-Problematik. Auf der wirtschaftspolitischen Analyseebene werden neue Akzente gesetzt, hinzu kommen innovative und aufschlussreiche Querverbindungen zu Themenkomplexen wie Wissenschaft, Abrüstung oder Vorsorge gegen Naturkatastrophen. Dank der Einbeziehung von Sichtweisen verschiedenster Akteure aus unterschiedlichen Weltregionen entsteht ein umfassendes Gesamtbild, das auch widersprüchliche Interpretationen zulässt. Der Sammelband dürfte damit in Auseinandersetzungen zu politischen Weltdeutungen im Allgemeinen und der Nord-Süd-Thematik im Besonderen eine feste Bezugsgröße werden. Ihm ist ein breites Publikum zu wünschen – nicht zuletzt, da es angesichts jüngster Diskussionen über einen neuen Kalten Krieg mit entsprechenden politischen Implikationen weiterhin alternativer Deutungsangebote und ihrer kritischen Historisierung bedarf.

Anmerkungen:
1 Julius K. Nyerere, The Second Scramble for Africa, <https://gwamakatm.wordpress.com/2013/10/15/the-second-scramble-for-africa-julius-k-nyerere/> (02.04.2021).
2 Julius Nyerere, The Plea of the Poor. New Economic Order for the World Community, in: New Directions 4 (1977), S. 16–21, hier S. 21.
3 Julius Nyerere, Freedom and Unity. Uhuru Na Umoja: A Selection from Writings and Speeches, 1952–1965, London 1967, S. 208.
4 Ausführlich dazu etwa die Beiträge in einer Schwerpunktausgabe zum Thema „Toward a History of the New International Economic Order“, in: Humanity 6 (2015). Ebenfalls einschlägig: Christopher R. W. Dietrich, Oil Revolution. Sovereign Rights and the Economic Culture of Decolonization, Cambridge 2017.
5 Man denke etwa an die Stoßrichtung der wichtigsten englischsprachigen Monographie zum Thema: Vijay Prashad, The Poorer Nations: A Possible History of the Global South, London 2013.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/