J. Schlumbohm u.a. (Hg.), Die Entstehung der Geburtsklinik

Titel
Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751-1850. Göttingen, Kassel, Braunschweig


Herausgeber
Schlumbohm, Jürgen; Wiesemann, Claudia
Erschienen
Göttingen 2004: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 19,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christoph Seidel, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Die deutschsprachige Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahren die frühen Entbindungsanstalten als hochinteressante Phänomene der europäischen Sozial-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts entdeckt.1 Zwar blieb die Krankenhausgeburt bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts unter quantitativen Gesichtspunkten eine Randerscheinung, aber in der Geschichte der Entbindungsanstalten bündeln sich gleichwohl wichtige Entwicklungsstränge der Medikalisierung der europäischen Gesellschaften. Für die Geschichte der Entbindungsanstalten herrschten lange zwei polare Deutungsmuster vor, an denen sich auch die Beiträge dieses Bandes reiben. In der einen Sichtweise stehen die Entbindungsanstalten am Anfang eines erfolgreichen Kampfes der akademischen Ärzte gegen den mütterlichen und kindlichen Tod in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. In der anderen Sichtweise waren die frühen Entbindungsanstalten ein wichtiger Entwicklungsschritt hin zu einer „Enteignung“ des weiblichen Körpers durch die männlich dominierte medizinische Wissenschaft.

Der zu besprechende schmale Band von 144 Seiten ist aus einem Symposium hervorgegangen, das 2001 zum 250. Jahrestag der Gründung der Göttinger Entbindungsklinik abgehalten worden ist. Im Jahr 1751 wurde in Göttingen die erste akademische Entbindungsanstalt in Deutschland, in der angehende Ärzte eine praktische geburtshilfliche Ausbildung erhielten, eröffnet. Drei Beiträge beschäftigen sich mit dieser Göttinger Einrichtung, je ein weiterer mit dem Kasseler und dem Braunschweiger Gebärhaus, zwei anderen Gründungen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Kurz eingeleitet wird der Band zunächst durch Claudia Wiesemann, die die Göttinger Gründung unter der Perspektive des medizinischen Fortschrittes einzuordnen versucht. Sie nennt die Entstehung der Geburtsklinik in einem Atemzug mit der Entdeckung der Asepsis und Narkose oder der Anwendung des Ultraschalls während der Schwangerschaft. Medizinischen Fortschritt begreift sie dabei als Transfer wissenschaftlich-experimentell gewonnener Erkenntnis in die Lebenspraxis der Individuen und die Bewährung dieser Erkenntnis dort. Dies scheint in diesem Zusammenhang insofern etwas problematisch, als dass sich in der Geburtshilfe des späteren 18. und frühen 19. Jahrhunderts experimentelles und lebensweltliches Wissen nicht trennen und dementsprechend solch einseitige Transferleistungen kaum ausmachen lassen.

Isabelle von Bueltzingsloewen stellt die Göttinger Gründung in den Kontext der Entstehung des klinischen Unterrichts an den deutschen Universitäten. Überzeugend erklärt sie die Gründung der akademischen Entbindungsanstalt einerseits aus dem Interesse der Göttinger Reformuniversität an einer Institutionalisierung des klinischen Unterrichts, der nicht zuletzt auch von den Studierenden eingefordert wurde, sowie aus der politischen Forderung der hannoverschen Landesregierung nach einer Verbesserung der Geburtshilfe andererseits.

Jürgen Schlumbohm beschäftigt sich mit der medizinischen und sozialen Praxis in der Göttinger Entbindungsklinik und fragt u.a. nach dem Sozialprofil der zumeist ledigen Gebärenden, der Rolle der Gebärklinik für den Aufstieg der wissenschaftlichen Geburtshilfe sowie den Reaktionen der Patientinnen auf ihre Situation. Der Beitrag, der allerdings bereits einige Jahre zuvor in „Social History of Medicine“ in englischer Sprache veröffentlicht worden ist, ist sicherlich ein Glanzstück des Bandes. Schlumbohm gelingt es, die geburtshilfliche Praxis in der Göttinger Entbindungsanstalt sehr plastisch darzustellen. Er kann dabei aus einer ziemlich einmaligen Quelle schöpfen: dem Kliniktagebuch, in dem der Klinikdirektor die einzelnen Fallgeschichten ausführlich festhielt. Es wird deutlich, in welchem Maß die Geburten für die Zwecke des geburtshilflichen Unterrichts instrumentalisiert wurden. Schlumbohm zeigt aber ebenso, dass die Unterwerfung der Schwangeren und Gebärenden unter die Klinikdisziplin nicht völlig gelang. Manchen Frauen gelang es, die Vorteile der Klinik - freie Unterkunft und Verpflegung in einer Notsituation - für sich zu nutzen und gleichzeitig den Nachteilen - den Ärzten und Studenten als „Übungspuppe“ zu dienen - weitgehend aus dem Wege zu gehen. Insgesamt trug die Entbindungsklinik erheblich dazu bei, dass die Ärzte im Laufe des 19. Jahrhunderts nach und nach ihr Ziel erreichten, die praktische Geburtshilfe zwar nicht vollständig zu übernehmen, aber sehr weitgehend unter ihren Einfluss zu bringen. Zur Senkung der Mütter- und Neugeborenensterblichkeit, betont Schlumbohm, leisteten die Entbindungshospitäler im 18. und 19. Jahrhundert dagegen keinen Beitrag.

Ein Beitrag von Christine Loytved stellt die außergewöhnlich umfangreiche Sammlung von geburtshilflichen Instrumenten, Modellen, Präparaten etc., die in Göttingen zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und 1862 von den Klinikdirektoren zusammengetragen wurde, in den Mittelpunkt. Loytved bemüht sich, den „klassisch“ medizinhistorischen Untersuchungsgegenstand einer Sammlung für sozialgeschichtlich motivierte Untersuchungsinteressen nutzbar zu machen, indem sie danach fragt, welche Wirkung die Sammlungsobjekte auf diejenigen hatten, die mit ihrer Hilfe in der Geburtshilfe unterrichtet wurden. Leider gelingt dieser Brückenschlag m.E. nicht. Loytved greift diese Fragestellung erst am Ende ihres Artikels in allerdings weitgehend spekulativer Art wieder auf. Die These, dass die Nutzung menschlicher Präparate im klinischen Unterricht einen besonderen „Entfremdungseffekt“ hatte und die Grenze zwischen „Phantomen“ und Lebenden verwischte, mag eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen. Loytved vermag aber hier weder einen Nachweis zu führen, noch methodische Wege zu einem solchen aufzuzeigen.

Christine Vanja schreibt über die Gründungsgeschichte des Kasseler Accouchier- und Findelhauses, widmet sich der Biografie seines ärztlichen Leiters und rekonstruiert schließlich aus Kirchenbüchern und Aufnahmeregistern Aspekte des Alltags in der Einrichtung. Letzteres führt Vanja zu ihrer Hauptaussage, dass die zuerst von Ute Frevert angeführte These, nach der die frühen Entbindungsanstalten als Experimentierfelder der Mediziner dienten, für das Kasseler Beispiel keine Bestätigung findet. Die Geburten in der Kasseler Entbindungsanstalt wurden weder für Unterricht noch Wissenschaft einigermaßen intensiv genutzt. Nur: Damit - wie auch mit der institutionellen Verbindung von einer Entbindungsanstalt mit einem Findelhaus - stellte Kassel in der Landschaft der deutschen Entbindungsanstalten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts einen relativen Sonderfall dar. Auch die kurze Existenzdauer der Kasseler Einrichtung von lediglich 24 Jahren (1763-1787) verdeutlicht die Marginalität dieses Typus von Entbindungs- und Findelanstalt in Deutschland. Leider vernachlässigt Vanja diesen Kontext und verzichtet darauf, die Besonderheit der Kasseler Einrichtung zu begründen.

Ein knapp gehaltener Beitrag von Gabriele Beisswanger über das 1767 gegründete Braunschweiger Entbindungshospital beschließt den Band. Beisswanger beschreibt die Braunschweiger Gründung als Teil einer grundlegenden Reform des gesamten Medizinalwesens. Der Zustand der Entbindungsanstalt war allerdings, wie auch andernorts, zunächst kläglich, und es fehlte selbst an den notwendigsten Dingen. Der Hauptzweck der Einrichtung blieb die praktische Unterweisung von Hebammen und Chirurgen in der Geburtshilfe. Dabei, so Beisswanger, gerieten die Schwangeren und Gebärenden aber in weniger starkem Maße zu Objekten „medizinisch-chirurgischer Experimentierfreude“, als dies in den akademischen Entbindungsanstalten wie in Göttingen der Fall war.

Trotz der angesprochenen Kritikpunkte zu den Einzelbeiträgen bietet der Band insgesamt eine nützliche und gut lesbare Einführung in die Geschichte der frühen deutschen Entbindungsanstalten.

Anmerkung:
1 Vgl. Schlumbohm, Jürgen; Duden, Barbara; Gélis, Jacques; Veit, Patrice (Hgg.), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte, München 1998 ; Metz-Becker, Marita, Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1997; Pawlowsky, Verena, Mutter ledig - Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784-1910; Seidel, Hans-Christoph, Eine neue „Kultur des Gebärens“. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart 1998. Außerdem liegt inzwischen eine recht umfangreiche Aufsatzliteratur zu einzelnen Entbindungsanstalten vor.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch