W. Schuster u.a. (Hgg.): Entnazifizierung im regionalen Vergleich

Title
Entnazifizierung im regionalen Vergleich.


Editor(s)
Schuster, Walter; Weber, Wolfgang
Published
Extent
726 S.
Price
€ 29,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Cornelia Sulzbacher, Salzburg

Der Nationalsozialismus war nach 1945 lange Zeit kein Thema intensiver geschichtswissenschaftlicher Auseinandersetzung in Österreich. Trotz der in den letzten Jahren stark zunehmenden Forschung auf diesem Gebiet, gibt es noch eine Reihe von Themen, zu denen bis heute keine umfassenden historischen Studien existieren. Mit dem Thema der Entnazifizierung in Österreich beschäftigte sich bisher erst Dieter Stiefel im Jahre 1981 eingehender. Zu dieser Zeit waren viele Bestände im Österreichischen Staatsarchiv und in den Landesarchiven aufgrund der Sperrfristen allerdings noch nicht zugänglich.

Walter Schuster und Wolfgang Weber versuchen mit ihrem Sammelband zur Entnazifizierung in Österreich und den südlichen deutschen Ländern diese Forschungslücke zu schließen. In vierjähriger Arbeit entstand unter der Mitarbeit von Wissenschaftlern aus Österreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten ein Werk, das die Entnazifizierung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Dieses Buch ist der fünfte und vorläufig letzte Band einer Publikationsreihe, die das Archiv der Stadt Linz zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Oberösterreich initiiert hat.

In einem ersten Teil werden in zehn Beiträgen (von Wolfgang Weber, Wilfried Beimrohr, Oskar Dohle, Walter Schuster, Elisabeth Schöggl-Ernst, Wilhelm Wadl, Klaus-Dieter Mulley, Gerhard Baumgartner, Brigitte Rigele, Bernd Vogl) die unterschiedliche Situation in den einzelnen österreichischen Bundesländern unmittelbar nach ihrer Besetzung und die, je nach Besatzungsmacht verschiedenen, Entnazifizierungsmaßnahmen dargestellt. In Wien hatte sich zwar unmittelbar nach der Besetzung durch russische Truppen eine Regierung unter Dr. Karl Renner gebildet, allerdings wurde sie und auch ihre Gesetze zur Entnazifizierung vorerst lediglich von der russischen Besatzung anerkannt.

Die Westmächte setzten in ihren Besatzungszonen ihre eigenen Entnazifizierungsmaßnahmen um, die wiederum erheblich von einander abwichen. Während die französische Besatzungsmacht von ihren Entnazifizierungserfahrungen im eigenen Land ausgingen und den Widerstand in die Entnazifizierung einbanden, wenn auch nur in beratender Funktion, setzten die amerikanischen und die britischen Besatzungsbehörden auf Arrestkategorien. Dass diese Kategorien allerdings nicht auf die lokalen Gegebenheiten abgestimmt waren, zeigt sich besonders deutlich in Oberösterreich, wo mehrere Mitglieder der von der amerikanischen Militärregierung eingesetzten Beamtenregierung nach einigen Wochen im Amt verhaftet und im Anhaltelager Glasenbach interniert wurden. Zu den prominentesten Fällen zählte Landeshauptmann Dr. Adolf Eigl selber, der unter den Nationalsozialisten den Amtstitel „Regierungsdirektor“ erhalten hatte und damit unter die „automatic arrest“ Kategorie der amerikanischen Entnazifizierungsbestimmungen fiel (S. 163-176).

Die ursprüngliche Absicht der einzelnen Besatzungsmächte einen Austausch der nationalsozialistischen Eliten zu erreichen, gelang rückblickend gesehen nicht. Zu groß waren die Probleme, mit denen die Militärbehörden vor Ort zu kämpfen hatten von Nahrungsmittelengpässen bis zur Wohnungsnot. In der Wirtschaft setzte sich relativ bald eine pragmatische Sichtweise durch. Um einen wirtschaftlichen Aufschwung nicht zu gefährden, wurden oft nationalsozialistisch vorbelastete Manager und Facharbeiter in ihren Stellungen belassen. Zu einer restriktiveren Umsetzung der Entnazifizierung kam es in der Verwaltung, allerdings mussten alle vier Besatzungsmächte bald erkennen, dass von österreichischer Seite, sobald die Entnazifizierung in die Hände der einheimischen Behörden überging, die Entnazifizierungsbestimmungen möglichst umgangen und aufgeweicht wurden.

In vier weiteren Beiträgen (von Kurt Tweraser, Siegfried Beer, Barbara Stelzl-Marx und Jürgen Klöckler) wird die Entnazifizierung aus der Perspektive der Besatzungsmächte, ihre Ziele, Maßnahmen und Sichtweisen dargestellt. Die beiden Artikel von Paul Hoser über die Entnazifizierung in Bayern und von Jürgen Klöckler über das Verfahren der „auto-épuration“ in Baden und Württemberg-Hohenzollern runden das Bild ab. Durch die Ausweitung der Themenstellung über die österreichischen Bundesländer hinaus in den süddeutschen Raum lassen sich die Unterschiede zwischen den beiden Staaten Österreich, das sich lange Zeit als erstes Opfer Hitlerdeutschlandes gesehen hat und auch von den Besatzern teilweise so gesehen wurde, und Deutschland ausmachen.

Besonders interessant sind die in jedem Artikel geschilderten Details zu Beständen, die sich in den einzelnen österreichischen, deutschen, amerikanischen, britischen, französischen und russischen Archiven befinden und die Aufforderung vieler Autoren zu weiteren Forschungen verbunden mit Angaben zu bestehenden Forschungslücken. Hervorgehoben sei dabei der Artikel von Rudolf Jeřábek vom Österreichischen Staatsarchiv, der auf die Bestände des Bundes, die einerseits bereits im Staatsarchiv andererseits aber auch noch bei den Ministerien lagern, eingeht.

Ein, für einen historischen Sammelband eher ungewöhnlicher aber umso interessanterer und wichtiger Beitrag, stammt von Martin F. Polaschek, Universitätsprofessor am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung der Universität Graz. Er beschäftigt sich mit den rechtlichen Aspekten bei der Arbeit mit Entnazifizierungsquellen von den Archivsperrfristen bis zu den Datenschutzbestimmungen.

Was geschah nun mit NS-Tätern? Der judizielle Bereich der Entnazifizierung wird in drei Beiträgen von Claudia Kuretsidis-Haider, Konstantin Putz und Marion Wisinger behandelt. Kuretsidis-Haider befasst sich dabei mit den vier in Österreich eingerichteten Volksgerichten an den Sitzen der Oberlandesgerichte in Wien, Linz, Graz und Innsbruck. Als besonders interessant erweisen sich bei ihren Ausführungen ihre Statistiken und Kurzbeschreibungen der 43 Fälle, in denen in Österreich die Todesstrafe verhängt wurde. Marion Wisinger wiederum beleuchtet in ihrem Beitrag den Umgang der Justiz mit NS-Gewalttätern in den 1960er und 1970er-Jahren, der immer mehr in Richtung Amnestierung bzw. keiner weiteren Strafverfolgung der Täter ging.

Zwei interessante historische Projekte werden von Konstantin Putz und Barbara Stelzl-Marx vorgestellt. Putz berichtet über die EDV-gestützte Erschließung der Volksgerichtsakten im Oberösterreichischen Landesarchiv, die den Zugang zu den volksgerichtlichen Akten erheblich vereinfacht. Basierend auf den so genannten „Rüter-Katgorien“ werden Archivbestand, Daten zum Angeklagten wie Geburts- und Sterbedatum, Mitgliedschaft in NS-Organisationen, Verlauf des Verfahrens und Urteil erfasst. Für die übrigen Volksgerichtsbestände in Österreich sind ähnliche Datenbanken geplant.

Barbara Stelzl-Marx geht in ihrem Beitrag zur Rolle der Sowjetunion bei der Entnazifizierung in Österreich auch auf ein Forschungsprojekt des Ludwig Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgen-Forschung in Graz ein. In einer Datenbank werden dabei Informationen aus ehemaligen sowjetischen Archiven zu von den Sowjets verhafteten und verschleppten Zivilisten aus Österreich gesammelt. Zwischen 1997 und 2001 leitete das Institut zudem Rehabilitierungsbescheide der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation an die Betroffenen oder ihre Angehörigen weiter. Gemeinsam mit einer Datenbank zu 127.000 österreichischen Kriegsgefangenen in der ehemaligen Sowjetunion bietet das Institut für Kriegsfolgen-Forschung damit für Angehörige von in Russland vermissten Österreichern eine wichtige Informationsquelle. Aufgrund der schwierigen Bedingungen in Russland durch die Sprachenproblematik und die langjährige Sperre der sowjetischen Archive, die eigene Nachforschungen für Hinterbliebene fast unmöglich machen und angesichts des auch heute noch bestehenden Wunsches vieler Angehöriger über das Schicksal ihrer Väter und Brüder Näheres zu erfahren, sind die Forschungen des Instituts für Kriegsfolgen-Forschung von unschätzbarem Wert.

Ein Manko des vorliegenden Sammelbandes liegt in der Erläuterung der österreichischen Gesetzesgrundlagen im Bezug auf die Entnazifizierung vom Verbotsgesetz und dem Kriegsverbrechergesetz von 1945 bis zum Nationalsozialistengesetz von 1947. In der Mehrzahl der Beiträge werden diese Gesetze mehr oder weniger ausführlich vorgestellt, wodurch beim Leser ein Gefühl der ständigen Wiederholung aufkommt. Eine ausführliche Darstellung der Gesetzesgrundlagen zu Beginn des Bandes, auf die in den anschließenden Beiträgen Bezug genommen wird, wäre wahrscheinlich die bessere Lösung gewesen. Auffallend ist auch im Beitrag von Jürgen Klöckler zur Entnazifizierung in Baden und Württemberg-Hohenzollern, dass er die beiden Werke von Grohnert zur Entnazifizierung in Baden und Henke zur politischen Säuberung unter der französischen Besatzung zur Grundlage seiner Ausführungen macht, auf einen Einzelnachweis aber verzichtet. (S. 513 Anm. 7) Dies fördert zwar einerseits den Lesefluss, weil die Zahl der Anmerkungen signifikant sinkt, macht die Suche nach einzelnen Details in den angeführten Werken aber schwieriger.

Im Großen und Ganzen gesehen ist der vorliegende Sammelband ein wichtiger Schritt in der historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus speziell der Entnazifizierung in Österreich. Einerseits bietet er erstmals einen Überblick über die einzelnen Maßnahmen, die in den österreichischen Bundesländern und den deutschen Regionen Bayern, Baden und Württemberg-Hohenzollern von den Besatzungsmächten gesetzt wurden, andererseits bildet er durch die genaue Vorstellung der inzwischen zugänglichen Archivbestände, aber auch durch die Angabe der in Verlust geratenen bzw. skartierten Bestände zur Entnazifizierung eine wichtige Grundlage für die weitere Forschung. Es ist zu hoffen, dass durch dieses Werk angeregt, in nächster Zeit neue Forschungen im Bereich der Entnazifizierung betrieben und ihre Ergebnisse publiziert werden.

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