Cover
Titel
Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung


Autor(en)
Butterweck, Hellmut
Erschienen
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Krösche, Institut für Geschichte, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg

Im Gedenkjahr 2005 findet auch der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher seinen Platz. Er wurde im Juli mit einer internationalen Konferenz in Nürnberg gewürdigt.1 Die Bedeutung des Internationalen Gerichtshofs liegt vor allem darin, dass in Nürnberg erstmals Angehörige einer Staatsführung wegen völkerrechtswidriger Vergehen persönlich zur Verantwortung gezogen wurden. Grundlage des Verfahrens bildete das Londoner Statut, in dem drei verschiedene Verbrechenskomplexe festgelegt worden waren: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Hiervon war nur die Verfolgung von Kriegsverbrechen seit 1907 in der Haager Landkriegsordnung verankert und somit völkerrechtlich reglementiert. Die rückwirkende Anwendung des Londoner Statuts bildete von Anfang an den Kern der Kritik an den Rechtsprinzipien von Nürnberg, zu denen sich schließlich auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1946 bekannte.

Trotz einer Vielzahl zumeist älterer Literatur zum Nürnberger Prozess ist eine neuere Darstellung der Prozessereignisse längst überfällig. Aber ob eine „Entmystifizierung“ des Verfahrens, die Hellmut Butterweck sich im Titel seiner Monografie zum Ziel setzt, gelingen kann bzw. notwendig ist, erscheint mehr als fraglich. Skepsis an dem Vorhaben entsteht schon, wenn im Vorwort der Verzicht auf eigene Forschungsergebnisse ausdrücklich eingestanden und stattdessen eine „neue Sicht [...] auf den Nürnberger Prozess“ angekündigt wird (S. 10). Schließlich ist das Quellenmaterial zum Internationalen Militärgerichtshof immer noch nicht vollständig erschlossen.2 Allerdings ist Butterweck kein Historiker, sondern Journalist, und seine Publikation richtet sich weniger an die wissenschaftliche Öffentlichkeit als an „zeitgeschichtlich Interessierte“ (S. 12).

Im Mittelpunkt des Buches steht der allgemeine Prozessverlauf, dem chronologisch gefolgt wird. Die Darstellung geht jedoch nicht über bereits vorliegende Monografien hinaus. Zudem ist die Lektüre aufgrund der seitenlangen Zitate, die jeder in den heute gut zugänglichen Prozessprotokollen selbst nachlesen kann, teilweise ermüdend. Hervorzuheben sind dagegen das zweite und das vierzehnte Kapitel, in denen Butterweck sich mit der Rechtsgrundlage des Nürnberger Prozesses auseinandersetzt und zeigt, dass der Diskussionsbedarf in dieser Hinsicht immer noch groß ist. Er unterscheidet dabei zwischen einer politischen und einer kriminellen Anklage; es sei im Grunde ein doppelter Prozess gewesen: „Ein politischer Prozess wegen Verbrechen gegen den Frieden und ein Mordprozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ (S. 11) Butterweck versucht nachzuweisen, dass die nachträgliche Gesetzgebung hinsichtlich eines Angriffskrieges völkerrechtlich notwendig war, aber gescheitert ist, weil sie weder in den Verhandlungen noch in der Urteilsbegründung eine herausragende Rolle spielte.

Einen profunden Überblick gibt die Publikation zu den ersten Überlegungen, wie mit den NS-Verbrechern nach Kriegsende umgegangen werden sollte. Diese Auseinandersetzung begann noch während des Zweiten Weltkrieges, und dass sich die Alliierten am Ende auf einen internationalen Prozess einigten, in dem den Angeklagten die Möglichkeit zur Verteidigung eingeräumt wurde, war nicht selbstverständlich. Butterwecks Verdienst ist es, Licht in die verschiedenen, sich häufig widersprechenden Darstellungen dieses Abschnitts der Prozessgeschichte zu bringen. Er kommt zu dem Schluss, dass es keine Alternative zum Internationalen Gerichtshof gegeben hätte, auch nicht in Form eines deutschen Gerichts. Neben dem Mangel an unbelasteten Richtern im Nachkriegsdeutschland argumentiert Butterweck damit, dass deutsche Verfahren unter der Aufsicht der Besatzungsmächte gestanden hätten und somit „nur Marionettenprozesse von Gnaden der Sieger“ gewesen wären (S. 67). Diesen bis heute strittigen Punkt hätte er durchaus eingehender diskutieren können. Ausgeklammert bleibt vor allem die Frage, ob ein deutsches Gericht eine Auseinandersetzung der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit begünstigt hätte. Aus heutiger Perspektive wäre ein solches Experiment, die Urteilsfindung über die Verantwortlichen für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in deutsche Hände zu legen, wohl zu gewagt gewesen und von der internationalen Öffentlichkeit auch kaum akzeptiert worden. Unter Verweis auf die negativen Erfahrungen mit den Leipziger Prozessen nach dem Ersten Weltkrieg3 wurde ein Prozess unter deutschem Vorsitz in der zeitgenössischen Entscheidungssituation besonders von amerikanischer Seite abgelehnt.

Den Stellenwert des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher als zentrales Medienereignis der unmittelbaren Nachkriegszeit berührt Butterweck nur marginal. Zu den Rezeptionsbedingungen stellt er fest, dass in Nürnberg zwei Lebenswelten nebeneinander existierten: Den internationalen Prozessteilnehmern stand die deutsche Bevölkerung gegenüber, deren Alltag von Hunger und Wohnungsnot geprägt war. Dass vor diesem Hintergrund das öffentliche Interesse am Prozess (mit Ausnahme der Medien) nicht besonders groß war, ist bekannt.4 Auf die konkreten Reaktionsmuster der verschiedenen Öffentlichkeitsbereiche wird in der Darstellung jedoch nicht näher eingegangen. Dagegen macht Butterweck darauf aufmerksam, dass die alliierten Prozessteilnehmer ebenso wenig Interesse an den Einwohnern von Nürnberg und ihren Alltagssorgen zeigten wie diese an dem Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher.

In seiner Bilanz übt Butterweck Kritik an den USA. Ihre zentrale Rolle beim Zustandekommen des Nürnberger Prozesses und vor allem bei der Durchsetzung der ersten beiden Anklagepunkte (Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden) steht tatsächlich in einem traurigen Gegensatz zu amerikanischen Verbrechen im Vietnam- und Irakkrieg. Butterweck konstatiert: „Der Prozess der Ankläger wurde […] zum Menetekel für Amerika, das in Nürnberg die Führung von Angriffskriegen als strafbares Delikt etablieren wollte und dessen Invasion des Irak alle Kriterien eines klassischen unprovozierten Angriffskrieges im Sinne der in Nürnberg vorgetragenen amerikanischen Anklagen erfüllt.“ (S. 416)

Der Begriff „Entmystifizierung“ im Titel des Buchs ist für den Leser ausgesprochen irreführend. An der Bedeutung des Nürnberger Prozesses in der Geschichte der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen zweifelt Butterweck nämlich keineswegs. Sein Ziel ist es vielmehr, Licht in das Wirrwarr der vielen Legenden zu bringen, die durch die Historiografie des Prozesses geistern. Dieser Anspruch wird jedoch nicht überzeugend umgesetzt. Gerecht wird Butterweck ihm nur in Hinsicht auf die Darstellung der Diskussion, die der Konstituierung des Internationalen Gerichtshofes vorausgegangen war.

Anmerkungen:
1 Rückkehr in den Gerichtssaal 600 zum 60. Jahrestag der Nürnberger Prozesse. Internationale Konferenz anlässlich des 60. Jahrestages des Beginns des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher im Gerichtssaal 600 des Justizpalastes in Nürnberg vom 17. bis zum 20. Juli 2005 (http://www.nuernberger-konferenz-2005.de).
2 Das wurde zuletzt anhand der Veröffentlichung der Verhörprotokolle deutlich. Vgl. Overy, Richard, Verhöre. Die NS-Elite in den Händen der Alliierten 1945, München 2002.
3 Vgl. Hankel, Gerd, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003.
4 Vgl. z.B. Rudder, Anneke de, „Warum das ganze Theater?“ Der Nürnberger Prozeß in den Augen der Zeitgenossen, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), S. 218-242.

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