Cover
Titel
Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland


Herausgeber
Lubrich, Oliver
Reihe
Die Andere Bibliothek 240
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Eichborn Verlag
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kersten Schüßler, Berlin

Im Hotel Kaiserhof fährt Georges Simenon mit Hitler Fahrstuhl. Der Kanzlerkandidat wirkt gelassen, obwohl sich auf den Straßen Kommunisten und Nazis jagen. Im Stock über Hitler wohnt Emil Jannings, im Stock darunter lädt die Kaisergattin zum Tee. Das Kaiserhof gibt einen Maskenball und die Mehrheit der Deutschen schaut konzentriert weg. Einige betteln, in vornehme Mäntel gehüllt, diskret um eine Mark. Simenon, für die Fortsetzungs-Reportage ‚Europa 1933’ im Ausland unterwegs, hört von einem bevorstehenden Nazi-Coup. Kurz darauf brennt der Reichstag. Angewidert erlebt er, wie die apathische Mehrheit durch eine radikale Minderheit per Terror auf Linie bringt. Von der Gesellschaft in die Volks-Gemeinschaft – ein kleiner Schritt.

Die Reisen ins Reich, ein Textband des Berliner Literaturwissenschaftlers Oliver Lubrich, beginnen mit Christopher Isherwoods ‚Goodbye to Berlin’ im Frühjahr 1933 und enden mit Theo Findahl Schilderung des 8. Mai 1945 in der völlig zerstörten Reichshauptstadt.

Die Autoren sind Reporter, Schriftsteller, Wissenschaftler, Privatleute, sie schreiben Tagebücher, Novellen, Erzählungen, Berichte und Briefe und kommen aus England, Frankreich, den USA, Belgien, der Schweiz, Norwegen, Dänemark, Ungarn, China. Teils wohlwollend, teils abgestoßen, aber neugierig und fast durchgehend differenziert berichten sie darüber, was in der deutschen Diktatur passiert.

So reist Denis de Rougement 1935 aus der französischen Schweiz in sein „geliebtes Germanien“, um ein Lektorat an der Frankfurter Universität zu übernehmen. Er genießt „die mittelalterlichen Städte“, „Gemütlichkeit“, „Weihnachten“ und ist doch erstaunt von der politischen Hysterie. Als das Rheinland remilitarisiert wird, sprechen die Menschen auf den Straßen von Krieg und schauen, ob französische Flugzeuge am Himmel zu sehen sind. Später wartet er vier Stunden inmitten von 40.000 todernsten Deutschen auf einen Hitler-Auftritt: „Niemand wird ungeduldig, niemand scherzt.“ Die Zelebrierung des fernen Führers im Scheinwerferkegel erlebt Rougement als quasi-sakralen und auto-hypnotischen Akt. „Sie stehen aufrecht, unbeweglich und im Takt brüllend, während sie mit den Augen auf diesen leuchtenden Punkt starren, auf dieses Gesicht mit dem ekstatischen Lächeln, und ihnen im Dunkel Tränen über die Gesichter rinnen.“ (S. 111). Unendlich einsam und ohnmächtig fühlt sich der Schweizer, als ihm klar wird, dass weder das Ausland noch seine eigenen jüdischen deutschen Freunde zu verstehen scheinen, welch gefährlicher Irrationalismus sich Bahn bricht. Schließlich sieht er Hitler keine zwei Meter entfernt. „Ein guter Schütze hätte ihn leicht abknallen können. Aber in hundert ähnlichen Situationen hat sich dieser gute Schütze nie gefunden [...] Man schießt nicht auf einen Kleinbürger, der der Traum von 60 Millionen ist.“

Gut 25 Geschichten wie die Rougements, alle eingeleitet mit einem kurzen Text über Autor und Entstehungszusammenhang, bilden ein buntes Mosaik von Hitlers Reich, weit vielgestaltiger und genauer als es der nicht mehr abreißende Bilderreigen vom Alltag im 3. Reich in Film und Fernsehen vermag. Lubrich hat im Anhang den Quellennachweisen weitere Literaturhinweise angehängt. Mancher möchte vielleicht weiterlesen, wenn Christopher Isherwood von Intellektuellencafés erzählt, aus denen die SA kurz nach der Machtergreifung Menschen herausschleppt, von einem jüdischen Schriftsteller, der die Polizei rufen will, aus der Telefonzelle geprügelt und abgeführt wird und von Auslandskorrespondenten, die das alles schweigend mit ansehen.

Die Beobachtungen der weniger Bekannten wie Martha Dodd scheinen dabei zumeist aufschlussreicher als die zudem sehr kurzen Texte von Größen wie Sartre, Camus, Samuel Beckett. Dodd findet als Tochter des 1933 frisch berufenen US-Botschafters erst einmal alles „friedlich, romantisch, fremdartig, nostalgisch“, die Deutschen sind ihr grundsympathisch. Bis sie Zeugin einer antisemitischen Verfolgung wird. Auf einer Botschafts-Party legt sie das Horst-Wessel-Lied auf, Nazis sehen ihre Hymne entweiht, Nazi-Gegner fühlen sich verunsichert – die Stimmung bricht. Selten berichtet Autoren von kleinen politischen Hoffnungszeichen wie William Shirer, der anekdotisch schildert, wie die überhaupt nicht kriegswilligen Berliner Hitler bei der spontanen Abnahme einer Militärparade den Rücken zukehren. Heinrich Hauser erlebt den letzten Friedenssommer 1939 in Berlin als Tanz auf dem Vulkan ähnlich der „Goldenen Zwanziger“: Boten damals Wirtschaftskrise und Revolutionsstimmung den Kriegs- und Krisengewinnlern Anlass zu kontrastierender Hemmungslosigkeit, ist es nun die allgegenwärtige Spießerei, Spitzelei, Gedrücktheit und Lethargie des Nazi-Reichs, das von Ministerialbürokratie bis Blockwart in Engstirnigkeit dämmert, während die neureichen Umverteilungsgewinner aus Rüstungs-, Stahlindustrie usw. im Nachtleben die Puppen tanzen lassen.

Erschütternd ist, wie viel die Reisenden von den Judenverfolgungen zu berichten wissen. René Juvet erzählt, wie am 9. November 1938 jüdische Freunde aus Nürnberg gegen die Ermordung von des Botschaftsrats Raths in Paris empört sind. Stunden darauf werden sie von der SA umgebracht. Der US-Korrespondent Harry Flannery schreibt 1941 von Deportationen in den Osten, von der Vernichtung durch Arbeit und Hunger „in riesigen Konzentrationslagern“ (S. 286ff.). 1943 schildert der schwedische NS-Radio-Propagandist Gösta Block die alltäglichen Schikanen im Umgang mit Juden und ein SS-Mann berichtet René Juvet von den systematischen Morden in den Konzentrationslager, angeekelt vom eigenen Tun, aber obrigkeitshörig: „[U]ns lassen sie zu Mördern werden!“ Der Schweizer Korrespondent Konrad Wagner berichtet im Herbst 1943 von nächtlichen Deportationen, hört „Weinen und Schreie“ von Kindern und Eltern und hört aus sicherer Quelle von Erschießungen in Massengräbern und davon, dass Juden systematisch „vergast“ werden (S. 338, 342).

Als Hitlers Pressechef Dietrich sieben Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion den unmittelbar bevorstehenden Sieg verkündet, erlebt der Journalist Howard Smith das Entsetzen der anglo-amerikanischen Presse. Die Deutschen hingegen scheinen ihm grenzenlos erleichtert über ein vermeintlich bevorstehendes Kriegsende. In den Fenstern der Buchläden stehen Russisch-Lehrbücher und nicht wenige machen sich Gedanken über Führungsposten in zukünftigen russischen Kolonien. Zwei Jahre darauf kann Smith mit der Kapitulation von Stalingrad auch die seelische Kapitulation beobachten. Die Loyalität bröckelt, larmoyante Bitterkeit macht sich breit. Und angesichts der zunehmend heftiger werdenden Bombardierungen festigt sich auch die Lähmung. Anfang 1945 stellt Theo Findahl enttäuscht fest: „Niemand hat die Kraft, einen Aufruhr gegen Hitler und den totalen Staat anzuzetteln.“ (S. 373) Am 8. Mai 1945 ist das befreite Berlin laut Findahl nichts als ein „stinkender Dschungel“: „Abgerissene Menschenhände und Arme, verstümmelte Leichen und Leichenteile [...] überall der gleiche Anblick: Ruinen, Brandstätten, Tod und Zerstörung.“ (S. 402)

Tatsächlich ist der ethnologische Blick, den Oliver Lubrisch in seiner Einleitung den Autoren attestiert, fremd und teilnehmend zugleich. So sehr sie sich als Liebhaber deutscher „Kultur“ und selbst als Sympathisanten des NS-Regimes zeigen, sind die meisten doch bald schockiert von der deutschen Apathie, der Stumpfheit einer Gesellschaft, der Verrohung, die den schleichenden Zivilisationsbruch begleitet. Selbiges gilt für die gelegentliche Hitler-Faszination. Kurz nach Kriegsausbruch wird der Sympathisant Sven Hedin vom Kriegsherrn unter vier Augen empfangen und ist frappiert: „Was der Fremde meinte und dachte, interessierte ihn nicht im geringsten.“ Die Reisen ins Reich erinnern so subtil an das Wort Ernest Renans, dass Demokratie ein tägliches Plebiszit ist. Von Zivilcourage, von der höflichen und respektvollen Begegnung mit dem Anderen ist in Deutschland umso weniger zu finden je länger das Nazireich währt. Auch wenn mancher Text seltsam anmutend - etwa die teils seltsamen Zeilen von Karen Blixen - , die vielfältigen Blicke der „Reisen ins Reich“ sind ein exzellentes Antidot zu der bis zum Überdruss wiederholten und zu oft selbstgerechten Selbstbespiegelung deutscher Augenzeugen in unserem Geschichtsfernsehen. Die von Lubrich versammelten Autoren zeigen, dass sich Verstehen zumeist aus der Distanz vollzieht. Hitlers Fahrstuhl fuhr, wie der Belgier George Simenon schon Anfang 1933 fürchtete, abwärts.

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