: Architektur, Macht, Erinnerung. Stellungnahmen 1984 bis 2004. München 2004 : Prestel Verlag, ISBN 3-7913-3227-9 191 S. € 29,95

: Deutsche Architektur seit 1900. . München 2005 : Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 3-421-03438-9 592 S., 850 Abb. € 49,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Tietz, Berlin

Wolfgang Pehnt gehört zu den profiliertesten Vertretern der deutschsprachigen Architekturkritik der Gegenwart und kann zugleich auf eine Vielzahl eigener Forschungsarbeiten zur Architekturgeschichte verweisen. Im Auftrag der Ludwigsburger Wüstenrotstiftung hat er sich nun eines Mammutthemas angenommen: ein Überblickswerk zur deutschen Architektur seit 1900. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist beeindruckend. Denn auf rund 600 Seiten liefert Pehnt nicht weniger als ein Standardwerk zur deutschen Architekturgeschichte ab, das auf Jahrzehnte Gültigkeit haben dürfte. Pehnt gelingt das scheinbar Einfache, das in Wirklichkeit so ungeheuer schwer ist: Er hat eine spannend zu lesende Architekturgeschichte geschrieben, mit der er seine Leser an sicherer Hand durch das schwierige Gelände von gut 100 Jahren Architektur führt. Ohne sich hinter Fachausdrücken zu verschanzen, präsentiert er anschaulich die unterschiedlichen Facetten der Architektur des vergangenen Jahrhunderts.

Elegant umgeht Pehnt die Fallstricke, die ein solches Überblickswerk besitzt. Denn natürlich kann eine Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht ohne den Blick zurück auf das 19. Jahrhundert geschrieben werden. Geschickt wählt Pehnt jene Tendenzen aus der Zeit vor 1900 aus, die ihn zu seinem eigentlichen Thema führen: Das gilt für den malerischen Historismus eines Ludwig Hoffmann (Märkisches Museum, Berlin 1901/07) ebenso wie für die staatstragenden Bauten Franz Heinrich Schwechtens (Kaiserliches Schloss in Posen, 1905/11) oder die zarten Blüten einer aufkeimenden Moderne, die sich auf der Darmstädter Mathildenhöhe gleich zum Auftakt des neuen Jahrhunderts zeigte. Zudem stellt Pehnt die deutsche Entwicklung stets in den internationalen Zusammenhang – wäre der 1907 gegründete Werkbund doch ohne die „Arts and Crafts“ Bewegung eines William Morris ebensowenig denkbar wie Hermann Muthesius ohne das englische Landhaus oder die (west-)deutsche Nachkriegsarchitektur ohne ihre amerikanischen, skandinavischen oder schweizerischen Vorbilder.

Naturgemäß sind weder Vollständigkeit noch vertiefende Detailuntersuchungen die Aufgabe eines solchen Überblickswerks. Vielmehr geht es darum, Schwerpunkte zu setzen und die Bedeutung eines architektonischen Entwicklungszeitraums angemessen zu gewichten. So ist es völlig gerechtfertigt, dass Pehnt den 15 Jahren von 1918 bis 1933, in denen die Moderne sich explosionsartig entwickelt hat, annähernd die gleiche Seitenzahl widmet wie der gesamten deutschen Nachkriegsarchitektur bis 1970. Dabei bewegt sich Pehnt stets auf der Höhe der aktuellen Forschung, etwa wenn er sich ausführlich den „Variationen der Moderne“ widmet, von Hans Heinrich Müllers Berliner Bewag Ab- und Umspannwerken bis zu Hubert Ritters Arbeiten in Leipzig (Großmarkthalle 1927/29). Immer wieder stellt er Projekte vor, die nur wenigen bekannt sein dürften, aber eine größere Aufmerksamkeit verdienen. Dazu zählt das sensationelle Fabrikationsgebäude der Firma Steiff in Giengen an der Brenz (1903/10), das Mies van der Rohes Glashausvisionen vorwegnahm. Gleiches gilt für den Entwurf eines Stadions von Bodo und Heinz Rasch aus dem Jahr 1927, der sich in seiner filigranen Leichtigkeit an konstruktivistische Entwürfe anlehnte und über eine zeltartige Überdachung verfügen sollte. „Das Münchner Stadion für die Olympischen Spiele 1972 wirkt wie eine Weiterentwicklung dieses Gedankens“, urteilt Pehnt (S. 174).

Mit Blick auf das „Dritte Reich“ arbeitet Pehnt heraus, dass die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 Einschnitt und Kontinuität zugleich bedeutete: „Auch die Avantgarde, die nun keine mehr sein sollte, strengte sich an, den Nationalsozialisten klarzumachen, wie sehr sie als Elite taugte.“ (S. 197) Selbst die beiden einstigen Bauhaus-Leiter Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius, die später emigrierten, versuchten zunächst, sich mit den NS-Machthabern zu arrangieren. Pehnts umfassender Blick auf das Baugeschehen dieser Jahre beschränkt sich nicht auf die bekannte Gigantomanie Albert Speers oder die Architektur der Blut-und-Boden-Anbiederer. Er schaut auch auf die Bunkeranlagen am Atlantikwall sowie auf die Entstehungsbedingungen von NS-Bauten durch Ausbeutung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, deren Tod billigend in Kauf genommen wurde. Einen eigenen Abschnitt widmet er den Architekten im Exil – ein Thema, das aufbauend auf der Exil-Forschung in der deutschen Baugeschichte derzeit einen Forschungsschwerpunkt bildet.

Mit der Nachkriegszeit setzt der Blick auf die architektonische Entwicklung in zwei deutschen Staaten ein. Sie verlief keineswegs parallel, auch wenn sich nach 1945 zunächst die gleichen Fragen stellten: Was geschieht mit den Ruinen, und wie wird dem Wohnraummangel begegnet? Während das Thema Wohnraum mit dem Ende des sozialen Wohnungsbaus zumindest aus heutiger Sicht als gelöst gilt, steht eine letztgültige Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit zerstörten Bauten weiter aus, wie das Bespiel der jüngst rekonstruierten Dresdner Frauenkirche zeigt. Schon unmittelbar nach 1945 wurde das Thema Rekonstruktion kontrovers diskutiert. Mit Blick auf den Wiederaufbau des Frankfurter Goethehauses zeichnet Pehnt die Argumentationsketten jener Jahre nach: „Hatte es nicht seine bittere Logik, dass das Goethehaus in Trümmer gesunken war?“ (S. 260) Und natürlich zitiert er das Urteil, das der Publizisten Walter Dierks im Angesicht der Ruinen fällte: „Nur eines ist angemessen und groß: den Spruch der Geschichte anzunehmen. Er ist endgültig…“ (S. 260) Die Praxis wurde diesem hohen moralischen Anspruch jedoch nicht immer gerecht. Vor allem erwies sich der Umgang mit den Kriegsruinen als durchaus wechselhaft: Mal wurde im Sinne einer schöpferischen Denkmalpflege wieder aufgebaut, aber uminterpretiert (Paulskirche, Frankfurt am Main; Pinakothek, München), mal wurde rekonstruiert (Goethehaus, Frankfurt am Main; Kronprinzenpalais, Berlin), mal hingegen abgerissen (Schlösser in Berlin und Braunschweig), mal aber auch die Ruine als Ruine belassen (Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Berlin; Frauenkirche, Dresden).

Diese unterschiedlichen Ansätze sind für die „Strategien des Wiederaufbaus“ (S. 266) in Ost und West generell kennzeichnend. Anschaulich führt Pehnt vor, wie die Architekten in den Nachkriegsjahren den Horizont des internationalen Baugeschehens sichteten. Dabei ging der Blick vom Westen aus zumeist in Richtung Amerika, während man vom Osten aus zum großen Bruder nach Moskau schaute. Hier reichte die Einflussnahme gar bis zum Diktat: Eine Reise einiger Architekten und Planer im Mai 1950 in die sowjetische Hauptstadt führte zum vollständigen Paradigmenwechsel. Danach „wurde in der DDR anders gedacht, argumentiert, geplant und gebaut“ (S. 287) als noch einen Monat zuvor. Der Siegeszug der „nationalen Tradition“ und des Zuckerbäckerstils Stalinscher Prägung bestimmte für ein Jahrzehnt das Baugeschehen in der DDR. Einstige Modernisten wie Richard Paulick oder Hermann Henselmann wurden zu Traditionalisten umgebogen.

Im Westen dagegen breiteten sich die „Happy Fifties“ aus, die Wirtschaftswunderarchitektur, die weit mehr bot als bloßes Nierentischambiente. Als Wirtschaftsfaktor wie als Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses war die Architektur am Aufschwung der jungen Bundesrepublik maßgeblich beteiligt. Zugleich spiegelte sich auch im architektonischen Geschehen die Konfrontation des Kalten Krieges bis hin zum „Wettstreit der Systeme“ wider, der sich in Berlin im Bau des Hansaviertels (West) und der Stalinallee (Ost) zuspitzte. Der Kirchenbau, dem sich Pehnt ausführlich widmet, blieb dagegen eine originär westdeutsche Bauaufgabe.

Entsprechend der internationalen Entwicklung in der westlichen Welt kam es auch in der Bundesrepublik in den 1960er-Jahren zur Wiederentdeckung der Dichte und nachfolgend zu jenen postmodernen Protesten, die schließlich in der vielschichtigen Gegenwartsarchitektur münden. Wie bereits für den Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt Pehnt auch für dessen Ende auf, wie sich Berlin in den 1990er-Jahren erneut als Zentrum der architektonischen Bewegung im wiedervereinten Deutschland herauskristallisierte. Zeichen setzten der Regierungsumzug vom Rhein an die Spree und die „kritische Rekonstruktion“ der neuen alten Hauptstadt, bei der sich freilich „zunehmend das ‚kritische’ Potential“ verlor (S. 447). Zu Recht fragt Pehnt daher, ob denn die Vertreter der Berlinischen Architektur je Werner Hegemann gelesen haben, auf dessen „steinernes Berlin“ sie sich bezogen – formulierte Hegemann mit seinem gleichnamigen Buch in den 1920er-Jahren doch eine Fundamentalkritik am unmenschlichen (steinernen) Berlin der Mietskasernen (S. 448). Aus seiner Ablehnung dieser Berliner Naturstein-Einfallslosigkeiten macht Pehnt denn auch keinen Hehl, wenn er Hans Kollhoffs und Helga Timmermanns Charlottenburger betongraue Leibniz-Kolonnaden (1997/2000) in Verbindung mit einem Zitat des großen Erich Mendelsohn bringt: „Ein klarer Himmel ohne Sonne und tot wie Julius Caesar.“ (S. 448)

Und die Zukunft? Auch sie ist bei Pehnt ein Thema. Längst ist Architektur zum Exportfaktor auf einem globalen Markt avanciert. Doch Deutschland importiert inzwischen nicht mehr nur die gebauten Landmarken der Global Player im Architekturzirkus. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommt auch der deutsche Architekturexport in Gang. Der Einfluss, den die deutsche Architektur zu Beginn der Moderne besaß, ist freilich nur noch Erinnerung. Das Jahrhundert der Architektur, das mit dem Dualismus zwischen konservativem Kaiserreich und innovativem Aufbruch in die Moderne begann, endet für Pehnt mit der Sehnsucht nach gebauter Qualität: „Woran die Bauwelt leidet, sind weder die Stararchitekten noch der angemessene Gebrauchsbau. Es sind die Grauzonen der Gedankenlosigkeit, die blindwütige Geschäftemacherei, die vielen Quadratmeter bebauten Landes, auf die nie ein Architekt oder zumindest nie ein Architekt mit Widerstandsvermögen seinen Fuß gesetzt hat.“ (S. 514)

Pehnts famoses Buch schärft den Blick auf die gebaute Umwelt und liefert eine fundierte Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Dabei wird anschaulich, dass die Architektur in Deutschland ein kulturelles Leitmedium des vergangenen Jahrhunderts war. Eng mit den politischen Strömungen verknüpft, erweist sich die Baukunst trotz ihrer dauerhaften Materialien wie Stein, Stahl oder Beton als ein feinnerviger Seismograf, der gesellschaftliche Veränderungen unmittelbar widerspiegelt. Eine besondere Qualität kommt dem Buch auch durch seinen umfangreichen Anhang mit Architekten- und Literaturregister zu, der sich als eine wahre Fundgrube erweist und so den Wert dieses vergleichsweise kostengünstigen Buches noch unterstreicht.

In seinem prägnanten Kapitel zur Architektur im „Dritten Reich“ zeigt Pehnt das Ungleichgewicht zwischen der eher geringen architektonischen Qualität der meisten Bauten dieser Zeit und ihrer nicht zu vernachlässigenden historischen und baugeschichtlichen Bedeutung als Zeitdokumente auf. Winfried Nerdingers Aufsätze zu „Architektur, Macht, Erinnerung“ hingegen widmen sich allein diesem Abschnitt der deutschen Architektur und Geschichte. Kaum ein anderer deutscher Architekturhistoriker hat sich so ausführlich und so differenziert mit dem Bauen im „Dritten Reich“ auseinandergesetzt wie Nerdinger. Zu seinem 60. Geburtstag ist eine Sammlung seiner Aufsätze erschienen. Ganz bewusst lautet der Untertitel der von Christoph Hölz und Regina Prinz herausgegebenen Sammlung: „Stellungnahmen 1984-2004“. Denn bei aller wissenschaftlichen Akribie bezieht Nerdinger in seinen Texten stets deutlich Position und beschränkt den Blick auf das Bauschaffen des NS-Regimes nicht auf eine bloße positivistische Bestandsaufnahme. Architekturgeschichtliche Forschung ist für Nerdinger ein wichtiger Teil einer umfassenden Strategie der Erinnerung, steht also in allgemeinhistorischen Zusammenhängen, die andere Architekturhistoriker häufig ausblenden.

Zu den versammelten Beiträgen gehört auch jener, der den Katalog zur Ausstellung „Bauen im Nationalsozialismus“ in Bayern einleitete. Nach Bauaufgaben gegliedert, bot diese Schau 1993 erstmals einen Gesamtüberblick über das Bauschaffen der NS-Zeit in einem deutschen Bundesland. Dabei arbeitete Nerdinger heraus, dass der kollektiven Nichtbeachtung der NS-Architektur im Nachkriegsalltag eine „kunsthistorisch ideologiekritische Analyse“ von Einzelobjekten gegenüberstand. Es bleibt bis heute das Verdienst von Nerdingers bayerischer Bestandsaufnahme, erstmals umfassend aufgezeigt zu haben, dass auch die Baupolitik mit dem „alles dominierenden Hauptziel des NS-Staates, dem Aufbau von Rüstungsindustrie und Militär“ verbunden war (S. 111).

Mit differenzierter Argumentation und geschärftem Blick auf architektonische Details versteht es Nerdinger, in seinem Essay „Baustile im Nationalsozialismus: zwischen Internationalem Klassizismus und Regionalismus“ jene Forschungsansätze zu widerlegen, die sich bemühen, die NS-Architektur durch einen Vergleich mit zeitgleichen neoklassizistischen Strömungen der 1930er-Jahre zu verharmlosen oder zumindest zu relativieren. Sein Vergleich zwischen „Palazzo Littorio und Reichskanzlei“ arbeitet im Gegenteil die architektonische Mittelmäßigkeit etlicher NS-Projekte auf. Angesichts von Grünpflanzen und Sofakissen zeigt für ihn selbst die schiere Größe von Bauten wie Albert Speers Neuer Reichskanzlei lediglich „eine neureiche Spießigkeit sowie ein Protzen in luxuriösen Materialien“ (S. 76). Am Beispiel der Verwendung von Achse, Symmetrie und Monumentalität in den 1920er-Jahren sowie im „Dritten Reich“ führt Nerdinger vor, dass bei der Bewertung von Architektur der Blick auf den gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang entscheidend ist. Nicht die Verwendung von Achsen an sich sei verdammenswert, sondern deren kultur- und gesellschaftspolitische Funktion sei kritisch zu hinterfragen. Gleiches gilt aus Nerdingers Sicht auch für die gläserne Architektur, die eben nicht von sich aus demokratisch ist.

Dass solche Feststellungen weit mehr sind als bloße Binsenweisheiten, verdeutlicht ein Blick auf die jüngere deutsche Architekturgeschichtsforschung. Denn dort sind Tendenzen zu beobachten, die Architektur des „Dritten Reiches“ nur unter stilistischen Überlegungen zu betrachten und sie dabei ihres politischen Kontextes zu entkleiden. Vor diesem Hintergrund kommt Nerdingers Aufsatz über „Giuseppe Terragni und die Verantwortung des Architekten“, der in dem vorliegenden Band zum ersten Mal veröffentlicht wird, eine besondere Bedeutung zu. Der Text verdeutlicht, dass eine rein auf das Formenvokabular Terragnis ausgerichtete Würdigung seines architektonischen Schaffens eine fatale Verkürzung bedeutet. Architektur ist – wie jede Kunst – für Nerdinger stets in ihrem kulturgeschichtlichen und politischen Kontext zu bewerten. Auch in diesem Sinne bieten seine Essays eine dringend benötigte geistige Grundnahrung.

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