C. Schneider: Abschied von der Vergangenheit?

Cover
Titel
Abschied von der Vergangenheit?. Umgangsweisen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der dritten Generation in Ost- und Westdeutschland


Autor(en)
Schneider, Connie
Reihe
Forum Deutsche Geschichte 3
Erschienen
München 2004: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Moller, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg

In ihrer Studie untersucht die Psychologin und Politologin Connie Schneider das Verhältnis der Enkel der NS-Mitläufer zum Thema Nationalsozialismus. Im Fokus des Interesses stehen „individuelle Haltungen“, „familiale Tradierungen und Brüche“ sowie „die Einflussnahme politischer Diskurse und gesellschaftlicher Veränderungen“ (S. 13). Für diese an der Freien Universität Berlin entstandene Dissertation hat Schneider 16 Angehörige der Jahrgänge 1960-1970 (aus Ost- und Westdeutschland) in biografischen Interviews nach ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus befragt. Die ausführlichen Porträts von vier Befragten bilden den empirischen Hauptteil der Studie, der Schneider zu dem Fazit führt, dass „der Umgang zwischen den Generationen hauptsächlich von einer Vergebung geprägt [ist], der eine vorhergehende Auseinandersetzung fehlt. Darin – vor allem anderen – liegt die Kontinuität der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit über die Generationen hinweg.“ (S. 293)

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Auf den ersten rund 100 Seiten liefert Schneider in drei Kapiteln die theoretischen Grundlagen. Zunächst wird der Problemkomplex der intergenerationellen Tradierung aus psychologischer und psychoanalytischer Perspektive erläutert, und es werden bisherige Forschungsergebnisse vorgestellt. Die Studien, auf die Schneider sich stützt, konstatieren für die erste Generation (der NS-Täter und Mitläufer in Westdeutschland) mangelndes Unrechtsbewusstsein, Verdrängung und Schweigen gegenüber den eigenen Kindern. Für die zweite Generation wird das „sprachlose Eindringen der ersten Generation in die psychische Realität ihrer Nachkommen“ (S. 21) festgehalten, das sich in Schuldgefühlen, aber auch in der unreflektierten Weiterführung von Denk- und Verhaltensweisen der NS-Zeit geäußert habe. Die dritte Generation wird wesentlich auf der Grundlage von Mehrgenerationenstudien vorgestellt: Diese sehen die Enkelgeneration entweder durch die „Abwehr“ der ersten Generation an die problematischen Anteile der Familiengeschichte gebunden und damit psychisch beschädigt, oder sie können auf der Grundlage intrafamilialer Kommunikation nachzeichnen, wie Loyalitätsbindungen das Geschichtsbewusstsein dieser Generation prägen, indem die Rolle der eigenen Vorfahren heroisiert und damit verklärt wird. An diesem Forschungsüberblick fällt auf, dass hier ganz unterschiedliche, zum Teil einander widersprechende Ansätze und Konzepte kommentarlos aneinandermontiert werden, bei denen überdies allein die westdeutschen Generationen im Fokus stehen. Letzteres ist zwar in Teilen der Forschungslage zuzuschreiben; problematisch ist jedoch, dass die Konzentration auf die westdeutsche Erinnerungs- und Generationengeschichte nicht reflektiert wird.1

Als Ost-West-Vergleich angelegt ist dagegen das zweite Kapitel, das mit „Kontinuitäten und Wandlungen in zwei deutschen Öffentlichkeiten“ überschrieben ist. Hier sollen die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in beiden deutschen Staaten hinsichtlich ihrer Bedeutung für die individuelle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit beleuchtet werden. Phasen und markante Ereignisse bereitet Schneider informativ auf. Allerdings orientiert sich die gesamte Darstellung an dem mittlerweile klassischen Text von M. Rainer Lepsius, der für die DDR von einer Externalisierung und für die Bundesrepublik von einer Internalisierung der NS-Vergangenheit sprach.2 Da Schneider diese Zuschreibung als Folie für ihre Darstellung übernimmt, entsteht ein recht hermetischer Text, der alternative und komplexere Aneignungsformen der Vergangenheit vernachlässigt. So stößt man hier und an späteren Stellen der Arbeit immer wieder auf apodiktische Formulierungen wie „In der Bundesrepublik gab es nach 1945 keine Chance, sich als Opfer der Nationalsozialisten darzustellen“ (S. 104) oder „Für die Bundesbürger/innen, die auch in der DDR gelebt haben, ist dieser Abschied [von der NS-Vergangenheit] ein politisches Faktum gewesen“ (S. 283). Die gesamtdeutsche Geschichtspolitik nach 1989 handelt Schneider am Ende des zweiten Kapitels auf einer halben Seite ab.

Als einen weiteren Referenzrahmen ihrer Arbeit zieht Schneider im dritten Kapitel Norbert Elias’ Zivilisationstheorie heran. Sie stellt die Vermutung an, dass die „Selbstzwangapparatur des zivilisierten Individuums“ den DDR-Bürgern/innen bis zum Fall der Mauer versagt geblieben sei (S. 104). Durch verhinderte Modernisierungsschübe und ausgebliebene Individualisierungsprozesse habe sich das „selbstkontrollierte Individuum“ im Osten nicht bzw. erst nach 1989 entwickeln können. Mit Hilfe dieses Ansatzes sollen das nationale Selbstverständnis und veränderte Sozialisationsbedingungen fokussiert werden.

Für den empirischen Hauptteil ihrer Arbeit hat Schneider neun Ostdeutsche und sieben Westdeutsche in leitfadengestützten Interviews befragt. Dabei ging es ihr vor allem um das „Erschließen der Biographie“, die „Beziehungsgestaltung zu Eltern und Großeltern“ sowie um die Bedeutung der „nationalen Zugehörigkeit“ der Befragten (S. 109f.). Rekrutiert hatte Schneider ihre Interviewpartner über Inserate in einem Stadtmagazin. Die so gewonnenen Befragten sind überdurchschnittlich am Thema Nationalsozialismus interessiert. Allein von den vier ausführlich Porträtierten gibt einer zu Protokoll, „mit seinen Eltern habe er fast alle Konzentrationslager besucht“ (sic!, S. 153), während eine andere Interviewte betont, beim Nationalsozialismus handle es sich um ihr „Lebensthema“ (S. 218).

Auf über 150 Seiten entfaltet Schneider schließlich die Porträts von zwei Ost- und zwei Westdeutschen. Sie fächern das überaus spannende und zum Teil skurrile Interviewmaterial gut auf. Für die Ostdeutschen arbeitet Schneider heraus, dass sie in den Interviews eine Form (familien-)biografischer Kontinuität herstellen, die sich auf die Vergangenheit stützt. Unpolitisch seien die eigenen Vorfahren sowohl in der NS- wie auch in der DDR-Zeit gewesen, und unpolitisch sei man bis heute. Bei den befragten westdeutschen Generationsgenossen verhält es sich genau gegenteilig: Hier entspringt die Kontinuität dem „hier und jetzt“ (S. 271), das heißt, die Westdeutschen projizieren ihre gegenwärtige Perspektive auf das Leben ihrer Vorfahren, indem sie „ihre eigene oppositionelle Verhaltensweise in eine familiale Tradition des Widerständigen einreihen“ (S. 270). Das Ergebnis spiegelt damit die Ausgangserwartung wider: „Internalisierung“ des NS-Erbes im Westen versus „Universalisierung“ und „Externalisierung“ im Osten. Teilergebnisse kann Schneider mit Verweis auf neuere Studien untermauern, doch bleibt eine weitere Fundierung durch ihr eigenes empirisches Material erstaunlicherweise aus. Schneider präsentiert zwar noch die demografischen Daten aller Befragten, verliert aber inhaltlich kein Wort über das, was in den anderen zwölf Interviews steht. Auch die Typenbildung, die Schneider auf der Grundlage der Porträts anstellt, wird in dieser Hinsicht nicht fruchtbar gemacht.

Der letzte Teil des Buches beinhaltet schließlich ein zehnseitiges Resümee, das sich als Plädoyer für eine kritischere intergenerationelle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Ost wie West lesen lässt. Conny Schneider hat ein interessantes und engagiertes Buch geschrieben, bei dem man sich an einigen Stellen allerdings eine stärkere Differenzierung gewünscht hätte.

Anmerkungen:
1 Die vorhandenen Studien (die sich auch auf Befragungen mit [ehemaligen] DDR-Bürgern stützen) werden in dieser Hinsicht nicht fruchtbar gemacht oder bleiben unerwähnt. Letzteres gilt z.B. für Arbeiten aus dem Bereich der Oral History und für Mehrgenerationenstudien mit Ost-West-Vergleichen; siehe: Niethammer, Lutz; von Plato, Alexander; Wierling, Dorothee, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991; Wierling, Dorothee, Nationalsozialismus und Krieg in den Lebens-Geschichten der ersten Nachkriegsgeneration der DDR, in: Domansky, Elisabeth; Welzer, Harald (Hgg.), Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit, Tübingen 1999, S. 35-56; Faulenbach, Bernd; Leo, Annette; Weberskirch, Klaus, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland, Essen 2000; Leonhard, Nina, Politik- und Geschichtsbewusstsein im Wandel. Die politische Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Verlauf von drei Generationen in Ost- und Westdeutschland, Münster 2002.
2 Lepsius, M. Rainer, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: Haller, Max; Hoffmann-Nowotny, Hans-Jürgen; Zapf, Wolfgang (Hgg.), Kultur und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1989, S. 247-264.

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