M. Brunnermeier u.a. (Hrsg.): Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen

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Titel
Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen


Herausgeber
Brunnermeier, Markus K.; James, Harold; Landau, Jean-Pierre
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
525 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Huhnholz, Institut für Politische Wissenschaft, Leibniz Universität Hannover

Wer ernsthaft versucht, die seit gut zehn Jahren komplex verschmolzenen politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und fiskalischen Krisen der Europäischen Union und des Euro-Raums aus der je eigenen Deutungshoheit ihrer Betreiber zu lösen und deren Diskurshegemonien zu reflektieren, muss sich unweigerlich auf eine Analyse von Narrationen einlassen. Dieser Herausforderung stellen sich die Autoren des hier angezeigten, 2016 im amerikanischen Original verlegten und nun mit allenfalls kleinen Aktualisierungen ins Deutsche übersetzten Werks. Das Dreigestirn aus einem in den USA forschenden deutschen Ökonomen, einem in Princeton lehrenden britischen Wirtschaftshistoriker und einem ehemaligen Vizepräsidenten der Französischen Nationalbank legt damit eine Frage in Buchform vor: die Frage, was die Euro-Krise eigentlich ist.

Vielleicht bildet sich die Einsicht, dass die weiterhin aktuelle europäische Großkrise keine schlicht kausalen Erklärungen nach dem Muster konkurrierender Interessen oder struktureller Defizite zulässt und folglich auch die Krisendynamiken nicht Konsequenzen einseitig verordneter und befolgter respektive unterlaufener Programme sind, in solch transnationalen und interdisziplinären Kleingruppen besonders leicht. Unterschiedliche Verständnisse und nicht-intendierte Zielkonflikte vordergründig gemeinsamer Handlungsstrategien geben sich in ihnen schneller zu erkennen. Das jedenfalls könnte eine Erklärung für den bisherigen Erfolg von EURO sein. „Unser Buch“, reklamieren die drei Autoren unterschiedlicher Herkunft, „arbeitet diese Unterschiede heraus, indem es die Krisen durch verschiedene Brillen betrachtet: die germanische Brille und die lateinische Brille“ (S. 26).

Dieser Zugriff dürfte schon intuitiv insoweit plausibel sein, wie die Erinnerung an die auch hierzulande mit chauvinistischen Stereotypen gegen Griechenland gestaltete Krisenpolitik nicht nur nicht verblasst ist, sondern dieser Monate mit Blick auf Italien wiederauflebt. Die massenpsychologische Wirkmächtigkeit von Narrativen, die ganzen Nationen lasterhafte Wirtschaftsmentalitäten wie Faulheit, Verlogenheit und Verschwendungssucht attestieren, sich selbst indes die entgegengesetzten Tugenden wie Fleiß, Anstand und Sparsamkeit zuschreiben, ist ohne so vorgeprägte und dafür empfängliche Öffentlichkeiten unvorstellbar. Der moralisierende Überschuss dieser Debatten (der Umstand beispielsweise, dass man die Südstaaten mit der mediterranen Flüchtlingskrise lange im Stich gelassen hatte, zugleich aber deren Überforderung verhöhnte und noch die letztlich unumgänglich gewordene massive Nothilfe triumphalistisch ausstellte) spielt in EURO keine hervorstechende Rolle. Vielmehr werden idealtypisierte Differenzen „deutscher“ und „französischer“ Wirtschaftskulturen benannt, wobei die „deutsche“ Seite mit dem ordoliberalen Primat der Solvenz und dem strengen Credo der Eigenverantwortlichkeit zumal in Haftungsfragen, die „französische“ Seite hingegen mit einer mehr keynesianischen Präferenz für Liquidität und für politische Solidarität etikettiert wird.

Damit wird die zeitweise Primärfrage der Euro-Krise in ein dramenreifes Setting gebettet: Die „deutsche“ Seite kann nun als autoritäre Agentin von Haushaltsdisziplin und dezentral aufgestellter Realwirtschaft auftreten, die „französische“ als vergleichsweise flexiblere Anwältin souveräner Politik und Nutzerin entsprechend instrumentalisierter Finanzmärkte. No bail-out vs. bail-in, Austerität vs. haircut, Nichtbeistandsklausel vs. Fiskalunion und dergleichen dualistische Optionen mehr sind damit auf die Bühne geholt. Der Vorteil dieses Zugriffs ist offensichtlich: Spardiktate und Austeritätsdogma werden hier nicht als anrüchige Interessenpolitik wirtschaftlich potenter Krisengewinnler denunziert, Investitions-, Schulden- und staatsfreundliche Strukturförderungsideen nicht als Ausweis korrupten, populistischen oder kopflosen Schlendrians vorgeführt. Bekundungen von Sympathie oder Antipathie bleiben ebenso den Leserinnen und Lesern überlassen wie etwaige Pathologiediagnosen.

Das nach einer Einleitung durch vier Hauptkapitel organisierte Buch rekapituliert zunächst wesentliche „Machtverschiebungen“ in der Euro-Krise: die dezentralisierende Machtverschiebung von Brüssel in die europäischen Hauptstädte einerseits und deren Konzentration in Paris und einem immer hegemonialer agierenden Berlin andererseits. Und mehr noch: die Lethargie europäischer Institutionen, das Fehlen europapolitischer Visionen und die im Kriseneuropa aufgrund ständig wechselnder nationaler Regierungen entstehenden Koordinierungsnachteile ließ die politisch verantwortlichen Akteure den IWF als eine transnationale Extrakraft einbinden, die die kapitalfreundliche deutsche Vormachtstellung stärkte.

In Verbindung mit dem unter den Titel „Monetäre und fiskalische Stabilität: Der Geist von Maastricht“ gestellten zweiten Hauptabschnitt wirken die letzten Passagen des ersten Abschnitts zwar wie ein Buch im Buche und passagenweise wie eine bloß verschriftlichte wirtschafts- und latent finanzwissenschaftliche Vorlesung zur Euro-Krise. Insbesondere dem zweiten Hauptabschnitt gelingt es jedoch diszipliniert, den in der Einleitung beworbenen Dualismus zu veranschaulichen. Dass unterhalb all dessen Klassiker und Evolution wirtschaftstheoretischer Positionen nebst den Standardmodellen wirtschaftlichen Verhaltens fleißig abgehandelt werden, lässt allerdings Reflexion missen, inwiefern diese herkömmlichen Betrachtungsweisen nicht auch selbst zu politischen Orientierungslosigkeiten in einem so präzedenzlosen Wirtschafts- und Währungsraum wie dem gegenwärtigen Europa beitragen.

Der dritte Teil analysiert hingegen die europavertragsgeschichtliche Genese und Prägung der Euro-Krise. Unter dem bezeichnenden Titel „Finanzstabilität: Das Stiefkind des Vertrags von Maastricht“ wird der viel zu gängig gewordene Vorwurf profunde erläutert, dass die europäische Währungsunion als ein vor allem politisches Projekt entworfen worden war und gemeint gewesen ist, darüber jedoch die Frage vernachlässigt worden sei, mit welcher ‚Finanzphilosophie‘ etwaige systembedrohliche Finanzmarktkrisen in einem solch disparaten Wirtschafts- und Währungsraum zu beschreiben sein würden. Ausgerechnet den demokratisch funktionierenden Institutionen des Euro-Raums fehlte, was er bis heute entbehrt: eine politische Theorie des Kapitalismus. So ist es vielleicht kein Zufall, dass schon in der ersten Krise des europäischen Währungssystems nicht europapolitische, geschweige denn demokratisch ordentlich legitimierte Kräfte das Ruder führten, sondern die real- und finanzwirtschaftlich mächtigsten Stimmen Deutungshoheit errangen. Der vierte Teil schließlich reformuliert alle vorgenannten Motive und Spannungen mittels Spiegelungen durch nicht-„germanische“ oder „französische“ Akteure: Italien, die angloamerikanische Sicht, den IWF und die EZB.

EURO wagt es, konventionelle Pfade der Krisenanalyse zu verlassen. Das Buch hinterfragt die politische Bedeutung, die sogenannten „nationalen Interessen“ zugeschrieben wird; Interessen, die häufig auf materielle Interessen reduziert werden. Die Autoren ersetzen diesen vermeintlich objektiven Handlungsrahmen und seine situativen Sachzwänge durch Subjektiveres, durch kollektiv bis kulturell präformierte Deutungsrahmen, die mit Gegendeutungen um Entscheidungsmacht und deren öffentliche Legitimität konkurrieren. Denn die Wirkmächtigkeit von „Ideen“, mithin der politische Fokus der jeweiligen „Brille“, zeigt sich dann am stärksten, wenn sich rationale Akteure veranlasst sehen, bewusst gegen ihre sogenannten materiellen „Interessen“ zu handeln (z.B. S. 13ff.).1 Im Fall ostentativ gemeinsamer Interessen wäre folglich das Unverständnis darüber, dass ein Partner vermeintlich gegen dieses gemeinsame Interesse handelt, ein überzeugendes Verdachtsmoment für einander inkongruente bis oppositionelle „Ideen“ – im hiesigen Fall: Wirtschaftsideen und Ökonomiekulturen. Dass das Buch mit einem kurzen und trotz gelegentlicher Allgemeinheit lesenswerten Katalog von Empfehlungen für eine „Union der ökonomischen Ideen“ schließt, ist konsequent.

Insofern macht auch der deutsche Teiltitel wett, was im Fall der Übersetzung von Samuel Huntingtons Clash of Civilizations mit „Kampf der Kulturen“ einst folgenschwer misslang: „Kampf der Wirtschaftskulturen“, wie die deutsche Version hier lautet, trifft den Inhalt von EURO präziser als das US-amerikanische Original „The Battle of Ideas“, und zugleich gelingt die offensichtliche Anspielung auf Huntington. Denn wenn auch in kleinerem Maßstab als Huntingtons geopolitische Übertheorie, dreht sich EURO um die Frage, an welchen binneneuropäischen Bruchlinien währungspolitisch verstärkte Kohäsions- und Solidaritätskonflikte den Europäern als genuine Macht gegenübertreten.

Überdies ist der deutsche Titel auch konzeptionell präziser, insoweit er nicht von umkämpften „Ideen“ spricht, sondern von „[Wirtschafts-]Kulturen“. Denn tatsächlich meinen die Autoren doch, dass gerade im Fall der Euro-Krise ein erheblicher Teil der innereuropäischen Differenzen nicht aus allzu unterschiedlichen nationalen Interessen resultiere, sondern aus mehr kulturell bedingten Meinungsverschiedenheiten darüber, wie das gemeinsame Interesse am Euro strategisch am besten zu verfolgen sei. Dieser Blickwinkel ermöglicht es, den innereuropäischen Zwist auf der Folie national präformierter Kulturen zu interpretieren, die weniger „Ideen“ denn „Idealtypen“ im Sinne Max Webers zu nennen sind.

Schon die zweite und dritte Textseite des Buchs nutzen in diesem Sinne eine Vielzahl von Formulierungen, um die konfligierenden Positionen zum Euro als divergierende „Meinungen“ und „Einschätzungen“ über „adäquate wirtschaftspolitische Maßnahmen“, als „Ideen“, „Grundanschauungen“, „Wirtschaftskulturen“, „Wirtschaftsphilosophie[n]“, philosophische „Spielarten“ u.a.m. zu plausibilisieren, kulminierend in der Mitteilung, die Leserinnen und Leser mögen das mit all dem Gemeinte im weberianischen Sinne als Methode einer idealtypischen Modellbildung der vor allem deutschen versus der französischen Position verstehen. Die damit ermöglichte Kontrastierung einer „germanische[n]“ und einer „lateinische[n] Brille“ erinnert nicht zufällig an die jüngere Renaissance der Hoffnung auf ein Zerbrechen des deutschen „Brüssel-Europas“, die Transformation in eine „Mittelmeerunion“ oder die Wiedererrichtung eines „Lateinischen Reiches“. Die Autoren freilich machen sich derlei Neo-Kojèvianismus beispielsweise eines Giorgio Agambens keineswegs zu eigen.2 Öffentliche Pointierungen dieser Art führen sie gar als „Verschwörungstheorie“ (S. 20).

Inwieweit sie sich allerdings ihre eigene diskursive Zugehörigkeit zu dieser gleichwohl doch sehr realitätsprägenden (und kürzlich von Wolf Lepenies wieder umfassend erinnerten) geo- und kulturpolitischen Ideengeschichte und deren schillernden bis schrillen Stimmen vergegenwärtigt haben, ist leider kaum erkennbar.3 Als methodologische Standardreflexion zu erwarten gewesen wäre beispielsweise die Einsicht, dass die neueren Wellen politischer Latinität in wirtschaftspsychologischer Hinsicht mehr sind als stolze Abscheu gegenüber kalter „germanischer“ Hyperrationalität. Sowohl der Lateineuropäismus wie auch antirömische Affekte Berlins beerben nicht zuletzt die als „protestantische Ethik“ stilisierten konfessionellen Deutungs- und Konfliktmuster.4

Insofern hat der Umstand, dass das Buch von ebenso namhaften wie unterschiedlichen Autoren verfasst wurde, einen intellektuellen Preis entrichtet. Schon die analytische Kraft und den glänzenden Stil von Harold James wird die eine oder andere zum Buch greifende Person vermissen. Skepsis hervorrufen könnte auch die Unentschiedenheit zwischen zeitgeschichtlicher Dokumentation, wirtschaftswissenschaftlichem Lehrbuchformat und öffentlichem Sachbuch, die einige Teile des keineswegs flüssig geschriebenen Werks prägen. Der Wert einiger analytisch glänzenden Passagen und von außerordentlich hilfreichen Rekapitulationen europäischer Krisendynamiken wird schlicht riskiert durch eine Unzahl bloßer Anekdoten, die metaphorisch sein oder nur verblüffen sollen, letztlich aber ablenken und gelegentlich an eine unsortierte Sammlung schmissiger Unterhaltungsvorträge erinnern. Um etwa historisch-kulturelle Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland zu begründen werden bisweilen wahllos anmutende Klischees bedient. Eine Madame de Staël steht dann neben Elias Canetti, beide neben dem Müller von Sanssouci, und auch Tom Hanks im „eindrucksvollen Spielfilm Bridge of Spies“ muss ran (S. 64f.), bevor die Internationale zitiert werden darf, um etwas über französische Gewerkschaften zu vermitteln (S. 74). Nicht auszuschließen daher, dass ein Werk, dass unter weitgehender Ausblendung Osteuropas viele mit Ausnahme Italiens (Kapitel 12) nichtdeutschsprachige Kontinentalstaaten als südliche „Peripherieländer“ (S. 12) führt, selbst nicht ganz neutral über den Diskursen, Deutungskulturen und Klischees zu schweben vermag.

Anmerkungen:
1 In diesem Sinne etwa auch Matthias Matthijs, Powerful Rules Governing the Euro. The Perverse Logic of German Ideas, in: Journal of European Public Policy 23/3 (2016), S. 375–391.
2 Bündig zur „Religion des Geldes“ in einer deutsch geführten „ideen- und zukunftslose[n] institutionalisierte[n] Lobby“ Brüssel-Europas: Giorgio Agamben, Europa muss kollabieren, in: DIE ZEIT, Nr. 35, 27.8.2015, S. 39f.
3 Wolf Lepenies, Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa, München 2016.
4 Die politökonomische Literatur hat entsprechende Muster versachlicht vielfach untersucht, hier seien nur genannt: Klaus Armingeon / Kai Guthmann / David Weisstanner, How the Euro divides the Union. The Effect of Economic Adjustment on Support for Democracy in Europe, in: Socio-Economic Review 14/1 (2016), S. 1–26; Klaus Armingeon / Skyler Cramner, Position-taking in the Euro crisis, in: Journal of European Public Policy 25/4 (2018), S. 546–566.

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