Graduiertenschule Religion
Forschungszentrum Gotha
Graduiertenkolleg in Gotha:
Religion und Aufklärung:
Heterodoxie, Dissidenz und Subversion 1650-1750
Dieses Graduiertenkolleg, als einer von drei Kernen der neuen Graduiertenschule Religion der Universität Erfurt
(http://www.uni-erfurt.de/maxwe/schwerpunkte/exzellenz/gradschule_religion.html
) , basiert auf den Kapazitäten des Forschungszentrums Gotha und will
„Untergrundforschung“ betreiben.
Zahlreiche Bestände der Forschungsbibliothek Gotha – insbesondere die von Ernst Salomon Cyprian (1673-1745) zusammengetragenen Materialien – reflektieren die Individualität und Vielfalt der nichtorthodoxen religiösen Strömungen in den deutschen Territorien im späten 17. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Teil dieser Strömungen kann der „religiösen Aufklärung“ zugerechnet werden, wenn man darunter Mischformen versteht, die religiöse Vorstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts – etwa aus der „radikalen Reformation“ transformieren und mit Ideen der Frühaufklärung anreichern. So werden etwa alchemistische, okkultistische, mystische, hermetische Wissensformen benutzt, um „aufgeklärte“ Konzepte von Selbsterlösung, Gewissen, religiöser Individualität, aber auch Bibelkritik zu bilden. Wie das im Einzelnen geschieht, ist oftmals noch nicht erforscht. Doch nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch sozialhistorisch ist der „Untergrund“ (hier vornehmlich in den deutschen Territorien betrachtet) von großem Interesse. Als Untergrund kann man jenen gesellschaftlichen Bereich verstehen, in dem verheimlicht wird: religiöse Identitäten, kritische Ansichten, wahre Absichten; im engeren Sinne stellt der Untergrund eine eigene Halbwelt dar, mit eigenen Kommunikationsstrukturen und eigenen Gruppenzugehörigkeiten.
Das Kolleg möchte Projekte zusammenführen, die jeweils spezifische Untersuchungen über heterodoxe Gestalten, Gruppen und Ideen im Spannungsfeld von Religion und Aufklärung vornehmen. In der Zusammenführung wird sich dann erweisen, ob es im Untergrund (oder den Untergründen?) personelle und thematische Überschneidungen gegeben hat. Hatten antiklerikale Separatisten, Freidenker, Kriminelle, Diplomaten, Spione, Charlatane Gemeinsamkeiten? Haben etwa Freidenker von Separatisten-Netzwerken profitiert? Haben verfolgte Dissidenten dieselben Unterschlüpfe wie Kriminelle suchen müssen? Haben Spione ähnliche Geheimkanäle der Kommunikation benutzt wie Diplomaten? Haben Radikale und Charlatane ähnliche Strategien verfolgt und ähnliche kryptische Erkennungszeichen verwendet? Haben Geheimgesellschaften ähnliche soziale und rituelle Muster entwickelt wie religiöse Sekten oder wie Banden? Hat die Notwendigkeit zu heimlicher Publikation und zu Dissimulation ähnliche psychologische und soziale Wirkungen hervorgerufen? Lässt sich eine Art Kartographie des Untergrundes entwickeln?
Das Doktorandenkolleg wird dezidiert interdisziplinär arbeiten.
Willkommen sind Doktoranden (und in begrenztem Maße auch Post-Doktoranden) aus der Geschichte, Philosophie,- Literatur- und Theologiegeschichte, Religions- und Kirchengeschichte, Sozial- Kultur- und Buchgeschichte mit Projekten, die zu dieser Zielsetzung passen und sich auf eine Arbeit jenseits der Disziplingrenzen einlassen wollen. Gedacht ist an Arbeit mit Primärquellen, also etwa Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, seltene Drucke, Pamphlete usw.
Die Fragestellung lässt sich in drei Bereichen zusammenfassen:
(1) Zusammenhänge von Radikalpietismus und Radikalaufklärung
Eine große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte dürfte in der Zusammenführung von bisher disziplinär getrennten Bereichen der Aufklärungsforschung liegen. Das gilt insbesondere für Forschungen zu separatistischen und teilweise im Untergrund operierenden Strömungen. Hier ist von philosophischer Seite die sogenannte „clandestine“ illegale Literatur zu nennen, von kirchen- und theologiegeschichtlicher Seite die vielfältigen Tendenzen, die unter dem Begriff „Radikalpietismus“ nur unzureichend zusammengefasst sind. Die Bestände der Forschungsbibliothek Gotha mit ihren zahlreichen Manuskripten und Rara ermöglichenes, prosopographisch und thematisch solche Zusammenhänge zu rekonstruieren. Religiöse Aufklärung entsteht in diesen Milieus durch die Entwicklung von institutionenkritischem Bewußtsein, von Abbau religiösen „Aberglaubens“, von Etablierung „innerer“ Kriterien und von neuen religiösen Formen des Zusammenlebens.
(2) Untergrundkommunikation
Wesentliche Voraussetzung für die Aufhellung der kommunikativen Strukturen im religiösen und antireligiösen Untergrund ist der Nachvollzug der Textzirkulationen. Die Provenienz von Manuskripten, der Austausch innerhalb von Korrespondenz und die Signifikanz von paratextuellen Bestandteilen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Außerdem ist die Personenzirkulation entlang der Netzwerke geheimgehaltener religiöser Gruppierungen (etwa der sogenannten Engelsbrüder) zu berücksichtigen. Neuere Forschungen wie diejenigen von John Marshall zur Entstehung des Toleranzbegriffs in den Untergrundmilieus von Holland und England im späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zeigen, wie sehr praktische Notwendigkeiten bei der Herausbildung von Toleranzdenken beteiligt waren. Daher werden die Erfahrungshorizonte innerhalb des religiösen Untergrundes (Migration, Kulturaustausch, Exil) und insbesondere transnationale und interreligiöse Verflechtungen zu erforschen sein. Angestrebt ist die Zusammenarbeit insbesondere mit der niederländischen Separatismusforschung. Das methodische Rüstzeug, das hier einzusetzen ist, reicht von der Sozialgeschichte bis zur Historischen Anthropologie, von der Kommunikationsgeschichte bis zur historischen Semiotik.
(3) Wahrnehmungen anderer Religionen
Ein neues Forschungsfeld ergibt sich auch durch den Blick auf die Zusammenhänge von radikalaufklärerischen oder „radikalpietistischen“ Theoretikern mit früher Orientalistik und Judaistik in Deutschland. Orientalistik wurde bis ins 18. Jahrhundert – zumeist in apologetischer Absicht – fast nur von Theologen betrieben. Das zunehmend reicher werdende Wissen über andere Religionen bot aber radikalen Autoren Potentiale des Vergleichs, der Relativierung und der Kritik christlicher Dogmen und Praktiken. Daher spielte das Interesse an Judentum, am Islam oder am Konfuzianismus eine nicht geringe Rolle in der Entwicklung der religiösen Aufklärung. Die reichen Bestände der Forschungsbibliothek Gotha an orientalischen Manuskripten erlauben es, Schneisen in das noch weitgehend unerforschte Gelände der frühneuzeitlichen Orientalistik zu schlagen und nach den Querbeziehungen zur religiösen Aufklärung zu fragen.
Das Forschungszentrum Gotha ist eine zentrale Einrichtung der Universität Erfurt und ist ab 1. Juli mit dem Lehrstuhl „Wissenskulturen der Frühen Neuzeit“ (Prof. Dr. Martin Mulsow) ausgestattet.
Bewerbungen um ein Stipendium müssen beinhalten:
- ein Exposé des Dissertations- bzw. Postdoc-Projektes (von ca. 5 Seiten, in dem die Fragestellung klar präzisiert wird, Forschungsstand, methodische Herangehensweise und Hypothesen dargestellt werden und ein Arbeits- und Zeitplan enthalten ist)
- einen Lebenslauf
- eine Kopie des ersten Hochschulabschlusses (kann ggf. nachgereicht werden)
- ein Exemplar der Abschluss- bzw. Doktorarbeit und
- ein Empfehlungsschreiben bzw. Gutachten eines Hochschullehrers zu Person bzw. Projekt.
Ein Stipendium beträgt für Doktorand/inn/en 1.000 EUR/Monat und kann für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren gewährt werden. Für die Postdoktoranden/innen beträgt das Stipendium 1.500 EUR/Monat und kann für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren gewährt werden. Hinzu kommen Sach- und Reisemittel. Jedem Stipendiaten wird ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Es besteht Präsenzpflicht sowie die Verpflichtung, an den Veranstaltungen des Doktorandenkollegs teilzunehmen.
Bewerberinnen und Bewerber um ein Doktorandenstipendium, die Mitglieder der Universität Erfurt sind, müssen mit der Bewerbung nachweisen, dass sie sich gleichzeitig bei einem externen Mittelgeber (Förderungswerk, Stiftung o.ä.) beworben haben (Eingangsbestätigung des Förderers). Diese Regel gilt nicht für Bewerberinnen und Bewerber für Post-Doktoranden-Stipendien und generell nicht für auswärtige Bewerberinnen und Bewerber.
Bewerbungen sind bis zum 12. Juli 2008 zu richten an:
Universität Erfurt, Vizepräsidium für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs, Nordhäuser Str. 63, D-99084 Erfurt. Bewerbungen sind schriftlich und elektronisch (vpf@uni-erfurt.de )einzureichen. Die Datei darf 2 MB nicht überschreiten.
Für Rückfragen zum Verfahren stehen Angelika Tetzel und Dr. Thomas Horstmann (angelika.tetzel@uni-erfurt.de/ thomas.horstmann@uni-erfurt.de Tel. 737-5040) zur Verfügung.
Wenn Sie inhaltliche Fragen zum geplanten Doktorandenkolleg in Gotha haben, wenden Sie sich bitte an die Mitarbeiterin des Forschungszentrum Gotha (miriam.rieger@uni-erfurt.de).