Im Jahr 2010 blicken viele lateinamerikanische Länder auf den Beginn ihrer Unabhängigkeit und ihrer eigenen Verfassungstradition zurück – denn ab 1810 nahm man am Río de la Plata und in anderen amerikanischen Teilen der spanischen Monarchie das politische Schicksal in eigene Hände. Man diskutierte über Regierungsformen und -lehren, über Föderalismus und Gewaltenteilung, über das Verhältnis von Staat und Religion, über Gleichheit, Freiheit und die eigene Identität. Wenige Jahre später erklärte man sich für unabhängig und gab sich Verfassungen.
200 Jahre später scheint diese konstitutionelle Ordnung in der Krise. Über 200 Verfassungen wurden seitdem verkündet und verworfen. Gleichheit, Freiheit und rechtsstaatliche Garantien sind an vielen Orten und für einen Großteil der Bevölkerung Versprechungen geblieben. Dennoch sind die Erwartungen an die Verfassungen hoch: Sie sind heute wie damals ein zentrales Element politischer Reformen. Vor allem in Bolivien, Ecuador und Venezuela ist die indigene Bevölkerung, die große Unbekannte der Verfassungsgeschichtsschreibung, zum Fluchtpunkt einer neuen Verfassungsbewegung geworden; es geht – etwa in der Verfassung von Bolivien, die 2009 in Kraft trat – um einen »plurinationalen Staat«, um kollektive Rechte, um neue Formen des Eigentums.
Liegt in diesen Verfassungen wirklich ein Neubeginn? Ist ein nach westeuropäischen und nordamerikanischen Vorstellungen entworfener Konstitutionalismus an der fremden Wirklichkeit gescheitert? Welche Funktionen erfüllen die Verfassungen in Lateinamerika, in welchem Maße haben sie funktioniert? Wir haben das bicentenario zum Anlass genommen, diese und andere Fragen an Juristen und Historiker aus Europa, Lateinamerika und den USA zu stellen. Die Antworten von über 30 Autorinnen und Autoren finden sich in der Debatte. In den vielfältigen Stellungnahmen findet man kritische Töne hinsichtlich des Konstitutionalismus, wie wir sie in unseren Breitengraden seltener hören, heftige Kritik übrigens auch an einer bloß scheinbar unpolitischen legitimatorischen Tradition der Verfassungsgeschichtsschreibung.
Vieles davon klingt auch im Aufsatz-und Rezensionsteil an. Auch dort haben wir den Schwerpunkt auf die Rechts-, insbesondere die Verfassungsgeschichte der spanischsprachigen Welt gelegt; mehr als einige in die Ferne geworfene Schlaglichter, die uns an fremde rechtshistorische Diskurse heranführen, können es freilich nicht sein.
Rg16 (2010)
Editorial
Debatte
16 Thomas Duve Verfassung und Verfassungsrecht in Lateinamerika im Licht des bicentenario Einleitung zur Debatte
18 Walther L. Bernecker, Rüdiger Zoller Mimesis und fehlender Konsens Anmerkungen zur Verfassungswirklichkeit in Lateinamerika
22 Natalio R. Botana Los pactos constitucionales del Bicentenario
25 Bartolomé Clavero Original Latin American Constitutionalism
29 Manuel Lucena Giraldo Three Meanings of Liberty on the Independence of Spanish America
32 Horst Dippel Braucht Lateinamerika einen neuen Konstitutionalismus?
35 Juan Fernando Segovia Die Entkräftung des hispanoamerikanischen Konstitutionalismus
40 Joaquín García-Huidobro Der schwierige hispanoamerikanische Konstitutionalismus
48 Tamar Herzog Constitution and Constitutional Law in Spanish America in light of the Bicentennial
50 Delia M. Ferreira Rubio The Constitution – Latin America 2010
52 Paola Rudan Una storia impossibile. Duecento anni di Stato e democrazia in America Latina
55 Francisco J. Andrés Santos Zum Thema „Verfassung und Verfassungsrecht in Iberoamerika im Hinblick auf die Zweihundertjahrfeier“
59 Pablo Ruiz-Tagle El constitucionalismo iberoamericano en su bicentenario
62 Horst Pietschmann Anmerkungen zum Thema „200 Jahre lateinamerikanische Verfassungen“
66 Andreas Timmermann „Failed presidencies“ ? Zur Debatte um zwei Jahrhunderte Präsidialismus in Lateinamerika
69 Manuel Chust Calero Die Verfassung von 1812 und der iberoamerikanische Konstitutionalismus. Ein Vergleich
78 Alfonso Santiago Constitutionalism and Spanish-American Bicentennial Constitutional norms and social reality: Juan Bautista Alberdi’s thoughts and Argentina’s historical experience
82 Abelardo Levaggi Three Matters Concerning Argentine Constitutional History
85 Santiago Legarre A Departure from the Rationale behind the American System in the Argentine Constitution
88 Susana T. Ramella Die Repräsentation der Volksrepräsentation bei der Zweihundertjahrfeier der Mai-Revolution in Argentinien
91 Alberto David Leiva Sovereignty and Federalism as Constituent Elements of Argentine Nationality
94 Cristina M. Seghesso de López De Charcas al Río de la Plata. Cultura jurídica y élites políticas revolucionarias (1809–1810)
97 Airton Cerqueira-Leite Seelaender Verfassung und Verfassungsrecht in Brasilien (1824–1988)
104 Luis Ossio Sanjinés, Lorena Ossio Bustillos Kontinuität und historisch-konstitutioneller Umbruch. Der Befreiungsprozess in Bolivien 1809–1810 aus heutiger Perspektive
108 Eric Eduardo Palma González Die moralische Frage bei der Bildung des Verfassungsstaats im 19. Jh.: ein katholischer, liberaler Staat aus praktizierenden Regierenden und Bürgern
111 Natalia Sobrevilla Perea In Search of a Better Society: Constitutions in Peru
114 Rubén Darío Salas Die konstitutionelle Grammatik: ihre Aussichten in Iberoamerika
117 Roberto Di Stefano Religion, Politics and Law in 19th Century Latin America
121 Massimo Meccarelli Die neue Phase der Rechtsgeschichte in Lateinamerika und Ansätze für einen historiographischen Dialog mit Europa
126 Heinz Mohnhaupt Europäische Blicke von Europa über Europa hinaus und zurück. Zur Wahrnehmung südamerikanischer Verfassungen im 18./19. Jahrhundert
Recherche
132 Thomas Duve Das Konzil als Autorisierungsinstanz. Die Priesterweihe von Mestizen vor dem Dritten Limenser Konzil (1582/83) und die Kommunikation über Recht in der spanischen Monarchie
154 Ezequiel Abásolo La militarización borbónica de las Indias como trasfondo de las experiencias políticas revolucionarias rioplatenses
166 Eduardo Zimmermann „Die Härten des Krieges mildern“ Die Rolle der argentinischen Bundesjustiz bei den Provinzaufständen 1860–1880
190 Rodrigo Míguez Núñez Republikanischer Staat und indigenes Land: Die Erfahrungen in der Andenregion im 19. Jahrhundert
212 Jesús M. Casal H. El constitucionalismo latinoamericano y la oleada de reformas constitucionales en la región andina
242 Fernando Martínez Peréz Amparos posesorios e interdictos contra la Administración. Cultura jurisdiccional y revolución burguesa en España
Kritik
258 Daniel Damler Das Meer im Recht Jack P. Greene, Philip D. Morgan (Hg.), Atlantic History. A Critical Appraisal John H. Elliott, Empires of the Atlantic world. Britain and Spain in America 1492–1830 Bernard Bailyn, Atlantic History. Concept and Contours Horst Pietschmann (Hg.), Atlantic History. History of the Atlantic System 1580–1830
267 Jorge Alberto Núñez De Imperios Atlánticos, revoluciones y senderos que se bifurcan Jeremy Adelman, Sovereignty and Revolution in the Iberian Atlantic
269 Luigi Nuzzo Aspettando Geneva Bartolomé Clavero, El Orden de los poderes. Historias constituyentes de la trinidad constitucional
272 Juan Ferrer Una receta para la diversidad Daniel Bonilla Maldonado, La Constitución Multicultural
275 Marta Lorente Sariñena Entre la conquista y D. Benito Juárez, ¿la república? Annick Lempérière, Entre Dieu et le Roi, la République. Mexico, XVIe–XIXe siècles
277 Sergio Angeli Justicia penal Alejandro Agüero, Castigar y perdonar cuando conviene a la República. La justicia penal de Córdoba del Tucumán, siglos XVII y XVIII
279 Francisco J. Andrés Santos Juristas On His Majesty’s Service Enrique García Hernán, Consejero de ambos mundos. Vida y obra de Juan de Solórzano Pereira (1575–1655)
Marginalien
288 Juan B. Cañizares Navarro Cochabamba, Bolivien, Januar 1789 – August 1791. Ein Beitrag zu bildlichen Darstellungen unmenschlicher und entwürdigender Behandlungen
293 Miloš Vec Juristischer Polyzentrismus. Wie unterrichtet man vergleichende europäische Rechtsgeschichte?
302 Abstracts
304 Autoren