Diagnostische Beobachtungen zum Status quo der Demokratie kommen aktuell zu dramatischen Schlussfolgerungen. Ein Teil der Studien sieht die liberalen, repräsentativen Demokratien durch (rechts-)populistische Bewegungen und Parteien sowie durch unrealistische Erwartungen an das politische System in Gefahr. In einer komplexen und konfliktreichen demokratischen Realität suggerierten die resoluten Lösungsvorschläge der Populisten trügerische Eindeutigkeit. Andere konstatieren dagegen eher eine Entkoppelung sozialer und politischer Eliten von der Gesellschaft, was entweder in verständlichem Protest münde, um angesichts ungleicher Partizipationschancen »wirkliche« Demokratie einzufordern, oder zu Resignation und Frustration führe. Die kapitalismuskritische Variante dieser Deutung besagt, dass im neoliberalen Zeitalter die globale Herrschaft des Marktprinzips die Handlungsmöglichkeiten der Parlamente so stark beschränke, dass eine Erneuerung der Demokratie unwahrscheinlich erscheine und – wenn überhaupt – nur durch zivilgesellschaftliche Akteure und soziale Konflikte erreicht werden könne. Gleichzeitig haben die Enthüllungen zur umfassenden Überwachung durch die US-amerikanische »National Security Agency« (NSA) oder zum fahrlässigen Handeln der deutschen Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit dem Terror des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) dazu beigetragen, die zunehmende Verselbstständigung der Exekutive als eine Untergrabung der Demokratie zu beschreiben. Primär technologiekritisch argumentieren hingegen Autoren, die auf die »Silicon Democracy«, die Machtstellung von datenverarbeitenden Großunternehmen nicht nur im Internet verweisen, und Digitalisierung, »Big Data« sowie »Künstliche Intelligenz« als große Herausforderungen, wenn nicht ernste Bedrohungen für die Demokratie ansehen. Außerdem meldeten sich in den letzten Jahren Wissenschaftler zu Wort, die zentrale demokratische Praktiken in einer grundlegenden Krise sehen und nüchtern die Frage stellen, ob Wahlen und Abstimmungen noch adäquate Formen der politischen Entscheidungsfindung darstellen. Wenn grundlegende Prämissen der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung hinterfragt werden, scheint eine geschichtswissenschaftliche Tiefenbohrung unverzichtbar. Insbesondere Umbrüche, Krisensituationen und Kriege sind aktuell beliebte Untersuchungsgegenstände der historischen Demokratieforschung, da in diesen Zeiten Aushandlungsprozesse und Verschiebungen besonders deutlich zutage treten. Revolutionäre Erhebungen in Europa wie 1789, 1848, 1918 oder 1989 etablierten neue politische Kulturen und Verfassungen. Die Beendigung von Kriegen und der Abschluss von Friedens- und Bündnisverträgen ermöglichten 1918 und 1945 unter jeweils spezifischen Vorzeichen und Voraussetzungen einen politischen Umbruch in Richtung Demokratie. Wirtschaftliche Krisen und soziale Missstände gingen mitunter mit einem Legitimationsverlust des politischen Systems einher, der zum »Scheitern« und zum »Untergang« demokratischer Staaten führen konnte oder aber auch zu einer demokratischen Transformation vormals autoritärer Regime. Jenseits der Ausnahmezustände sind es aber die demokratischen Alltagspraktiken, die zunehmend die Aufmerksamkeit der geschichtswissenschaftlichen Forschung erhalten. Bei der Fokussierung auf die Rahmenbedingungen und Abläufe einzelner Wahlen sowie auf konkrete Aktionsformen der Bürgerinnen und Bürger treten politisch-normative Kontroversen in den Hintergrund. Stattdessen wurden Briefe an Politiker, Petitionen, Straßenwahlkämpfe, Demonstrationen, Parteiorganisationen, parlamentarische Rituale und mediale Inszenierungen als Arenen der Partizipation identifiziert, die sich sowohl parteien- und epochenübergreifend als auch transnational vergleichend untersuchen lassen. Die strategischen Vorstöße und praktischen Erfahrungen in weiteren gesellschaftlichen Teilbereichen (Betriebe, Hochschulen, Gerichte etc.), die auf Beteiligung und Mitbestimmung abzielten, wurden bislang häufig in politikgeschichtlicher Perspektive als Ausweitung der parlamentarischen Demokratie thematisiert. Die Öffnung für kulturgeschichtliche und praxeologische Zugänge, die sich bei den Forschungen zu Protestbewegungen und zur Partizipation am Arbeitsplatz bereits seit einiger Zeit abzeichnet, wäre aus einem demokratiegeschichtlichen Erkenntnisinteresse auch für weitere Felder und Akteure vielversprechend. Ähnliches gilt für die Beschäftigung mit der Rolle von Emotionen in der Politik, die ein produktiver, methodisch herausfordernder Forschungsansatz sein kann, um Vertrauen und Angst, Euphorie, Enttäuschungen und Empörung als wesentliche Komponenten des demokratischen Alltags zu untersuchen. Der aktuelle Band des Archivs für Sozialgeschichte knüpft an diese Forschungen an und beleuchtet politische Praktiken in Westeuropa zwischen dem Ende des 18. und dem Ende des 20. Jahrhunderts. Dabei sind die Arenen über den europäischen Kontinent verteilt, von Großbritannien bis Deutschland und von Dänemark bis Spanien, und die Schwerpunkte liegen auf den Untersuchungen von Praktiken in Parlamenten, Parteien oder Protestbewegungen. Die Beiträge zu ausgewählten Aspekten aus knapp zweieinhalb Jahrhunderten westeuropäischer Demokratiegeschichte machen deutlich, dass sich die Untersuchung des »Doing Democracy« hervorragend als Sonde eignet, um die Konflikte auszuleuchten, die mit der partizipativen Öffnung verschiedener gesellschaftlicher Arenen verknüpft waren. Die zeitgenössisch virulenten normativen und theoretischen Fragen werden mit der gewählten kultur- und sozialgeschichtlichen Herangehensweise kontextualisiert, empirisch unterfüttert und dadurch historisiert. Der Band wird abgerundet durch drei Forschungsberichte, die aktuelle Neuerscheinungen zur deutschen-deutschen Verflechtungsgeschichte, zur Geschichte der Migration sowie zur Entwicklungszusammenarbeit in den Blick nehmen.
Die ausführliche Einleitung von Anja Kruke und Philipp Kufferath gibt es als Volltext online unter: http://library.fes.de/afs-online/afs/ausgaben-online/demokratie-praktizieren/einleitung-krisendiagnosen-meistererzaehlungen-und-alltagspraktiken-aktuelle-forschungen-und-narrationen-zur-demokratiegeschichte-in-westeuropa
Beiträge zum Rahmenthema »Demokratie praktizieren. Arenen, Prozesse und Umbrüche politischer Partizipation in Westeuropa im 19. und 20. Jahrhundert«
Anja Kruke/Philipp KufferathEinleitung: Krisendiagnosen, Meistererzählungen und Alltagspraktiken. Aktuelle Forschungen und Narrationen zur Demokratiegeschichte in Westeuropa S. 3–20
Niels GrüneLändliche Gesellschaft und demokratische Partizipation. Politische Translokalisierung in deutschen Regionen vom späten Ancien Régime bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts S. 21–36
Theo JungAuftritt durch Austritt. Debattenboykotts als parlamentarische Praxis in Großbritannien und Frankreich (1797–1823) [S. 37–67]
Anne Engelst NørgaardA Battle for Democracy. The Concept of Democracy in the Constitutional Struggle, Denmark 1848–1849 S. 69–84
Thomas MergelBetrug, Gewalt, Stimmenkauf. Wahlkulturen in Europa im Übergang zum politischen Massenmarkt, 1860–1914 S. 85–106
Anne HeyerDie ersten Volksparteien? Ein vergleichender Blick auf das Demokratieverständnis früher Parteiorganisationen im Deutschen Kaiserreich, in Großbritannien und in den Niederlanden (1860–1880) S. 107–124
Paul Lukas HähnelMehrebenen-Parlamentarismus im Deutschen Kaiserreich. Eine quantitative und qualitative Bestandsaufnahme parlamentarischer Doppelmandate S. 125–144
James RetallackAugust Bebel. A Life for Social Justice and Democratic Reform S. 145–161
Nathalie Le BouëdecDas Gericht als Arena demokratischen Handelns? Ansätze zur Beteiligung des Volkes an der Rechtsprechung in Deutschland in der frühen Weimarer Republik und den ersten Nachkriegsjahren ab 1945 S. 163–182
Harm KaalThe Voice of the People. Communicative Practices of Popular Political Engagement in the Netherlands, 1950s–1960s S. 183–200
Claudia Christiane GatzkaDie Blüte der Parteiendemokratie. Politisierung als Alltagspraxis in der Bundesrepublik, 1969–1980 S. 201–223
Anna Catharina HofmannDemokratie praktizieren in einer Diktatur? Politische Partizipation und ihre Grenzen im späten Franco-Regime (1966–1973) S. 225–262
Liesbeth van de GriftRepresenting European Society. The Rise of New Representative Claims in 1970s European Politics S. 263–278
Giulia QuaggioSocial Movements and Participatory Democracy. Spanish Protests for Peace during the Last Decade of the Cold War (1981–1986) S. 279–302
Forschungsberichte und Sammelrezensionen
Maren MöhringJenseits des Integrationsparadigmas? Aktuelle Konzepte und Ansätze in der Migrationsforschung S. 305–330
Martin RempeAmbivalenzen allerorten. Neue Forschungen zur Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit S. 331–352
Frank WolffIn der Teilung vereint. Neue Ansätze der deutsch-deutschen Zeitgeschichte S. 353–391