Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Es folgte ein Vernichtungskrieg mit mehr als 25 Millionen Toten auf sowjetischer Seite. Im gleichen Jahr, am 1. Sep-tember 1941, verpflichtete die „Polizeiverordnung über die Kenn-zeichnung der Juden“ Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 rechtlich als Juden galten, zum Tragen eines gelben Sterns. Vor nunmehr 60 Jahren stand Adolf Eichmann, der Organisator der nationalsozialistischen Judenvernichtung, in Jerusalem vor Gericht und wurde am 15. Dezember 1961 zum Tode verurteilt. Wie aber verhielten sich die Kirchen in diesen brisanten historischen Situationen? Wie deuteten sie die Ereignisse? In der vorliegenden Ausgabe der „Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ gehen drei Autor*innen diesen Fragen nach. Die Historikerin Dagmar Pöpping zeigt anhand zahlreicher Quellen, wie deutsche Kriegspfarrer auf den Ostfeldzug Hitlers blickten. Die von ihr präsentierten Ausschnitte aus Tagebüchern und Tätigkeitsberichten der katholischen und evangelischen Wehrmachtpfarrer zeigen, „dass ein enges Bedingungsverhältnis von christlicher Sinnstiftung und einem desaströsen Vernichtungskrieg bestand“. In seinem Beitrag zu den kirchlichen Reaktionen auf die Sternverordnung kommt der Kirchenhistoriker Siegfried Hermle zu dem Schluss, dass die evangelischen Kirchen die mit dieser Verordnung gegebene Herausforderung nicht bestanden haben. Der Potsdamer Historiker Thomas Brechenmacher untersucht die Reaktionen der evangelischen und der katholischen Kirche auf den Eichmann-Prozess 1961 als „Streckenpunkte“ auf dem Weg der Vergangenheitsaufarbeitung und der Verhältnisbestimmung zu Juden und Judentum. Drei weitere Aufsätze in dieser Ausgabe widmen sich Entwick-lungen in Österreich, der SBZ und DDR sowie der Berliner Republik. Der Wiener Kirchenhistoriker Leonhard Jungwirth zeigt, wie der oberösterreichische Bauernkrieg von 1626 im österreichischen Protestantismus immer wieder „als zentraler Referenzpunkt selbstviktimisierender Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung“ diente. Stefanie Siedek-Strunk, Historikerin an der Universität Siegen, beschreibt erstmals die seel- und fürsorgerliche Arbeit von Vikarinnen und Fürsorgerinnen im Strafvollzug der SBZ und frühen DDR. Die Religionswissenschaftlerin Sabine Exner-Krikorian widmet sich einem Thema der jüngsten Zeitgeschichte. Sie analysiert, wie die Evangelische Kirche in Deutschland an den Aushandlungsprozessen um die Lebenspartnerschaft und die gleichgeschlechtliche Ehe beteiligt war. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass „die Ethisierung und Emotionalisierung der gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen, die auch von der EKD mit ‚der Ehe als ethisch‘ Ding‘ vorgenommen wurde, zu einer Entsexualisierung dieser Beziehungen geführt hat.“ Die noch immer anhaltende Corona-Pandemie erschwert den Zugang zu archivalischen Quellen und damit die historische For-schungsarbeit. Ob man in einigen Jahren von der „Corona-Delle“ in der zeithistorischen Forschungsentwicklung sprechen wird? Nur gut, dass einige Quellen auch bereits editiert vorliegen. So gibt Karl-Heinz Fix einen profunden Überblick über die Quellensammlungen zur Geschichte der evangelischen Landeskirchen in der NS-Zeit. Die Berichte über laufende Forschungsprojekte belegen ein weiteres Mal die Themenbreite der Kirchlichen Zeitgeschichte. Untersucht wird die evangelische Frauenordination im geteilten Deutschland (Carlotta Israel), die Biografie und Theologie des Jenaer Theologen Gerhard Gloege (Maximilian Rosin), die ostdeutsche Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“ (Karl-Christoph Goldammer) sowie die Haltung des bundesdeutschen Protestantismus zur elek-tronischen Datenverarbeitung (Johann Meyer). Am Ende des Berichtteils stellen Andreas Holzem und Frank Kleinehagenbrock das ambitionierte Programm der DFG-Forschergruppe „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland“ vor. Den Abschluss des Heftes bilden Nachrichten über zeithistorische Aktivitäten und Publikationen verschiedener Einrichtungen. Damit soll der Informationsfluss gewährleistet und zu Kooperationen angeregt werden – hoffentlich bald auch wieder in Präsenz. Eine erkenntnisbringende Lektüre wünschen alle Beteiligte, die dieses Heft auf den Weg gebracht haben.
INHALT
Aufsätze
„Das bedeutet für uns Umwälzung und Katastrophe“. Die Evangelische Kirche und die Einführung des „Judensterns“ im September 1941 Siegfried Hermle
Das österreichisch-protestantische Opfernarrativ und seine Wandlungen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Eine Studie zu evangelischer Erinnerungskultur und Geschichtspolitik am Beispiel des oberösterreichischen Bauernkriegs von 1626 Leonhard Jungwirth
1961: Die Kirchen zum Eichmann-Prozess Thomas Brechenmacher
Evangelische Seelsorgerinnen und Fürsorgerinnen im Strafvollzug der SBZ und der frühen DDR (1945–1955) Stefanie Siedek-Strunk
Die Ehe ist ein ethisch‘ Ding? – Die Evangelische Kirche in den Aushandlungsprozessen um die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland Sabine Exner-Krikorian
Dokumentation
Christliche Sinnstiftung im Vernichtungskrieg. Wie deutsche Kriegspfarrer 1941 den Angriff auf die Sowjetunion erlebten und deuteten Dagmar Pöpping
Literaturbericht
Quellensammlungen zur Geschichte der Landeskirchen in der NS-Zeit (mit besonderer Berücksichtigung Bayerns) Karl-Heinz Fix Forschungsberichte
Evangelische Frauenordination im geteilten Deutschland Carlotta Israel (München)
Theologische Existenz zwischen den Fronten. Gerhard Gloege in den politischen und kirchenpolitischen Konflikten seiner Zeit (1946–1961) Maximilian Rosin (Jena)
Kirchliche Publizistik in der DDR. Die Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“ 1946–1989 Karl-Christoph Goldammer (Jena)
Zwischen „Datengott“ und „Datenaskese“. Bundesdeutscher Protestantismus und elektronische Datenverarbeitung (EDV) Johann Meyer (Leipzig)
Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken, Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965–1989/90 Andreas Holzem / Frank Kleinehagenbrock
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