Liebe Leserinnen und Leser von H-Soz-Kult,
nachfolgend finden Sie eine Aufstellung der zuletzt neu ins Themenportal Europäische Geschichte eingestellten Artikel, Essays, Materialen und Quellenauszüge.
Essay/Artikel:
Maria Bühner: „[W]ir haben einen Zustand zu analysieren, der uns zu Außenseitern macht“ – Lesbischer Aktivismus in Ost-Berlin in den 1980er-Jahren.
Abstract:
„Aber in Erinnerung an diese erste Frau und im endlich beginnenden Nachdenken, was meine Gefühle gegenüber Frauen betraf, fing ich an, diese Alternative in Erwägung zu ziehen, mit einer Frau zu leben. Ich bildete mir aber ein, in dieser Stadt die einzige Lesbe zu sein – die Lesbe, das war mir damals noch nicht so klar – die einzige Frau zu sein, die so empfindet.“
Diese wenigen Zeilen fassen die Erfahrungen vieler lesbisch begehrender Menschen in der DDR in Worte, oft sprechen sie neben Isolation auch von Angst und Scham. Nach Jahrzehnten der Unsichtbarkeit wurde der Wunsch eben jene Gefühle zu durchbrechen in den 1980er-Jahren zu einer wichtigen Triebfeder für die Entstehung von Homosexuellen- und etwas später auch eigenständiger Lesbengruppen, in denen das Persönliche und das Politische zusammengebracht wurden. Ein entscheidendes Moment für diese Prozesse war auch, Worte und ein Verständnis für das eigene Begehren und Empfinden zu finden und gemeinsam mit anderen zu entwickeln.
Im Mittelpunkt meiner Analyse steht das „Informationspapier vom Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche“ (1985/86), der ersten Lesbengruppe, welche 1982–1983 in Ost-Berlin entstand. Bis in die zweite Hälfte der 1980er-Jahre war die Gruppe die einzige selbstständige Lesbengruppe in der DDR und gab wichtige Impulse für die politische Arbeit der Homosexuellenbewegung. Das Informationspapier ist ein wichtiges Dokument der zu großen Teilen noch unerforschten Geschichte von Lesben in Ostdeutschland. Es gibt einen Einblick in die damaligen Rahmenbedingungen lesbischer Existenz und die in den 1980er-Jahren in der DDR entstehende Lesbenbewegung; ebenso dokumentiert es den Blick der Aktivist_innen auf ihre sexuelle Orientierung und konfrontiert diese mit den Fremddeutungen weiblicher Homosexualität. Leitend für meine Betrachtung der Quelle ist das Konzept der Subjektivierung. Akteur_innen werden zu Subjekten, indem sie, etwa durch Anrufung, unterworfen werden, aber gleichzeitig konstituiert sich das Subjekt selbst, etwa in Form bestimmter Selbsttechniken. ….
In: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, <http://www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-4126>.
Christiane Mende: Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der Belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth.
Abstract:
Im März 1970 übernahm zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Belegschaft ihren Betrieb in eigene Verantwortung. Angesichts des drohenden Verlusts ihrer Arbeitsplätze fanden die Beschäftigten damit eine kollektive Antwort, wie sie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in anderen Industriegesellschaften Westeuropas, allen voran in Italien, Spanien und Frankreich, zu beobachten war. Die nun beginnende Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth in der nordhessischen Kleinstadt Immenhausen wurde zum Politikum. Während sozial-liberale Kreise von einem „in die Zukunft weisende[m] Modell“ erweiterter Mitbestimmung sprachen, so mancher Unternehmer darin erste Anzeichen einer „sozialistischen Machtergreifung“ befürchtete, begrüßten andere hingegen die „rote Hütte“. So unterschiedlich die politischen Deutungen dieses Ereignisses ausfielen, so einig waren sie sich jedoch in einem Punkt: Es waren die Arbeiter, nicht die Arbeiterinnen, die hier als Akteure im Fokus standen. Die erfolgreiche Betriebsübernahme nach monatelangen Auseinandersetzungen mit dem alten Eigentümer und Glaskünstler Richard Süßmuth sowie die vielfältigen, zunehmend radikaleren Proteste im Vorfeld wurden in der Berichterstattung auf eine Gruppe ausschließlich männlicher Facharbeiter zurückgeführt. Und tatsächlich waren es vor allem die gewerkschaftlich aktiven Glasmacher, welche als die größte und mächtigste Beschäftigtengruppe innerhalb des Unternehmens einer interessierten Öffentlichkeit sehr selbstbewusst und kämpferisch gegenüber traten. Dass die knapp 270-köpfige Belegschaft der Glashütte Süßmuth zu einem Drittel aus Frauen bestand, war dagegen höchstens eine Randbemerkung wert. Eine oberflächliche Betrachtung schien zudem auch sehr schnell zu bestätigen, dass diese Arbeiterinnen sowohl in der Zeit der Übernahme als auch während der Selbstverwaltung keine große Rolle spielten. In den verschiedenen neu gegründeten Gremien, in welchen nun die unternehmerischen Entscheidungen beraten wurden, befand sich unter den gewählten Belegschaftsvertretern keine einzige Frau.
In: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, <http://www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-4127>.
Material/Quellenauszug:
Lesben in der Kirche: Informationspapier (1985/86). In: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, <http://www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-4124>.
Über Arbeit und Politik in der Re/Produktion. Die Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth im Gespräch mit Erasmus Schöfer (2. September 1973). In: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, <http://www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-4125>.
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Im Namen der Herausgeberinnen und Herausgeber des Themenportals wünschen ich Ihnen erfolgreiche wie auch erholsame Semesterferien.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Hannes Siegrist (Leipzig), Sprecher des Herausgeberkollegiums
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