Der unübersehbare Trend zur Medialisierung historischer Ereignisse bleibt auch im Jahr 2004 ungebrochen, wie neben Dokumentationen zur Landung der alliierten Truppenverbände in der Normandie auch diverse Fernsehproduktionen zur 60sten Wiederkehr des 20. Juli 1944 zeigen. Dem Widerstand von unten wird sich ein Kinofilm über die Edelweißpiraten widmen. 1 Zu diesem Thema präsentiert auch das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln vom 23. April bis zum 23. August 2004 unter dem Titel: „Von Navajos und Edelweißpiraten – unangepasstes Jugendverhalten in Köln 1933-1945“ eine Sonderausstellung <http://www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0404_edelweiss>.
Das nonkonforme Jugendverhalten der Edelweißpiraten während des Nationalsozialismus wurde erst seit Ende der 70er Jahre im Rahmen regionaler Oral-History Projekte für eine breitere Öffentlichkeit wiederentdeckt. Durch das Studium der Akten nationalsozialistischer Verfolgungsbehörden, namentlich der Gestapo, gelang es, die Jugendcliquen vom lange Zeit vorherrschenden Stigma (rein) krimineller Jugendbanden zu befreien. Die Edelweißpiraten wurden jetzt entweder in die Tradition der Bündischen Jugend gestellt (von Hellfeld) oder nach dem Vorbild der britischen Cultural Studies eindeutig der proletarischen Subkultur zugeordnet (Peukert).2 Seit Ende der 80er Jahre hat sich eine differenziertere und am spezifischen Fall orientierte Lesart sowie die Einordnung der Edelweißpiraten in den breiter gefassten Kontext proletarischer Jugendbewegungen von der Weimarer Republik („Wilde Cliquen“) bis hinein in die Nachkriegszeit („Halbstarke“) durchgesetzt (Kenkmann). 3 Parallel zur wissenschaftlichen Erforschung der Jugendgruppen forderten Bürgerinitiativen sowie engagierte Journalisten und Historiker seit den 80er Jahren am Beispiel der 6 im November 1944 hingerichteten jugendlichen Mitglieder einer Gruppe von Edelweißpiraten aus dem Kölner Stadtteil Ehrenfeld eine Anerkennung dieser als aktive Widerstandskämpfer. 4 Den wiederholt vorgetragenen Forderungen wurde von staatlicher Seite schließlich und endlich entsprochen: Der Kölner Regierungspräsident würdigte die Ehrenfelder Edelweißpiraten im Frühjahr 2004 erstmals als Widerstandskämpfer.5
Bei der Webseite zur Edelweißpiraten-Ausstellung im Kölner NS-Dokumentationszentrum handelt es sich nicht um ein explizit wissenschaftliches Angebot. Die Darstellung im Internet ist auf eine allgemein am Thema bzw. an der Ausstellung interessierte Öffentlichkeit zugeschnitten. Der relativ einfach strukturierte Aufbau der Hauptseite und der untergeordneten Präsentationseinheiten gibt bereits einen Hinweis darauf, dass es sich nicht um ein ergänzendes inhaltliches Angebot handelt, sondern ein „erste(r) kleine(r) Einblick in die angesprochenen Themen“ (vgl. Startseite) auch virtuell präsentiert werden soll. Als Ausstellungsergänzung ist dagegen die eigentliche Hauptkomponente der Internetseite, die in die Darstellung integrierte Datenbank, zu betrachten. Auf die beiden Teile der Präsentation soll deshalb im Folgenden zuerst getrennt eingegangen werden.
Die Ausstellung
Im Mittelpunkt der Darstellung stehen 11 farbige Symbole, die jeweils einzelnen Aspekten des Lebens der Edelweißpiraten wie „Verfolgung“, „Treffpunkte“, „Erkennungszeichen“ oder „Musik“ zugeteilt sind. Die graphische Gestaltung sowie die Benutzerführung sind klar und eindeutig: Die Rubrik „Ausflüge“ ist zum Beispiel durch einen Wanderrucksack gekennzeichnet, der Rubrik „Musik“ eine entsprechende (Wander-)Gitarre zugeordnet. Die einzelnen Themenfelder unterteilen sich wiederum in bis zu 7 weitere Unterabschnitte. So enthält beispielsweise Rubrik 1, die Chronik (Symbol Sanduhr), kurze Informationen zu den Themen „HJ – Der Weg zur Staatsjugend“, „Verbote“, „Verdrängung“, „Gegenwehr“, „Krieg in Köln“, und „Jugend im Krieg“, während sich Rubrik 4, die Erkennungszeichen, mit den Themen „Kluft“, „Abzeichen“ und „Signale“ beschäftigt. Die einzelnen Beiträge in den Unterabschnitten sind ausnahmslos knapp formuliert, enthalten aber die benötigten Basisinformationen. Von hohem Wert für den Nutzer ist es dabei, dass die inhaltliche Darstellung fast durchgehend illustriert ist. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die große Anzahl an zeitgenössischen Originalfotos, die zum einen das (Freizeit-)Leben der Edelweißpiraten optisch erfahrbar machen und zum anderen für eine Personalisierung sorgen, d.h. einzelne Beteiligte aus der Anonymität der Gruppe herauslösen. Insgesamt ist der Informationsgehalt der einzelnen Rubriken für einen Einstieg in das Thema als ausreichend zu bezeichnen, mit dem Sachgebiet bereits Vertraute dürften sich eher für das bereitgestellte Fotomaterial und die Datenbank interessieren.
Die Datenbank
Über ein entsprechendes Feld auf der Hauptseite gelangt man zum zweiten und vom Innovations- wie Informationsgehalt weitaus höher einzuschätzenden Angebot der Webseite, einer Datenbank mit dem Titel „Jugendpolitik und Jugendverhalten 1933-1945: Chronik, Gruppen, Lieder. Die Datenbank“. Der Bereich der Datenbank ist optisch entsprechend der Hauptseite gestaltet und für den Benutzer wiederum leicht handhabbar. Die Datenbank gliedert sich in vier vollständig miteinander vernetzte Bereiche, die mit „Chronik“, „Gruppen“, „Lieder“ und „Lexikon“ betitelt sind. Im Bereich der Chronik können für jedes Jahr zwischen 1933 und 1945 eine Vielzahl von Aufrufen, Zeitungsartikeln, Gestapo-Berichten etc. für den Raum Köln abgerufen werden. Die historischen Dokumente sind zumeist in Auszügen dargestellt und zur leichteren Einordnung teilweise mit Fotos oder Bildern illustriert. Unter dem Stichwort „Gruppen“ gelangt man zu unterschiedlichen Kölner Cliquen von Nerothern, Navajos und Edelweißpiraten, die jeweils nach ihrem Viertel bzw. ihrem lokalen Treffpunkt benannt sind. In diesem Bereich der Webseite ist es zusätzlich möglich, auf Informationen zu einzelnen Mitgliedern und eine Topographie der Treffpunkte im Kölner Stadtgebiet zuzugreifen. Die weiter oben von mir bereits angedeutete Personalisierung und unmittelbare „Erfahrbarkeit“ des Ausstellungsthemas wird durch die sehr detaillierten und äußerst informativen – zum Teil auch sehr persönlichen – Textbeiträge im Rahmen der Datenbank noch einmal verstärkt. Den dritten Bereich bilden die Lieder der Edelweißpiraten. Diese sind in unterschiedlicher Qualität aufgearbeitet worden, manche nur mit Titel und vermutetem Ursprung, andere mit vollem Entstehungskontext, Text und Melodie. Hervorzuheben ist, dass einige der Lieder sogar in der „offiziellen“ und in der Kölner Version vorgestellt werden. Auch an dieser Stelle ist wieder ein Zugriff zu einzelnen Gruppen bzw. Gruppenmitgliedern möglich. Der vierte Punkt, also das Lexikon, „schwebt“ gleichsam über den anderen drei Rubriken: Die eingeblendete Lexikon-Funktion zeigt dem Nutzer jeweils die Begriffe an, zu denen in der Datenbank weitere Informationen bzw. Erklärungen vorhanden sind.
Trotz vieler innovativer Ideen ergeben sich bei der Beschäftigung der Internetseite leider auch eine Reihe kritischer Anmerkungen. Durch Unachtsamkeiten bei der technischen Umsetzung treten Probleme auf, welche die Nutzung des Angebotes unnötig erschweren, so lässt zum Beispiel der Faktor „Lesefreundlichkeit“ deutlich zu wünschen übrig. Die Randstreifen sind zu breit gestaltet, der Ansichtsbereich in der Mitte dagegen viel zu schmal. Weil (anscheinend) keine Optimierung für alle Bildschirmarten (600x800) vorliegt, sind bei der Anzeige der Hauptseite – je nach verwendetem Monitor – bis zu 3 der 11 Symbole nicht sichtbar. Gängige Navigationshilfen wie eine einfache Rückkehrfunktion innerhalb der Seite sind nur in der Datenbank vorhanden, Fotos können ebenfalls nur dort vergrößert werden. Allerdings fehlt eine Verlinkung, die es ermöglicht aus der Datenbank wieder auf die Hauptseite zurückzukehren. Einzelne Beiträge oder Fotos sind nicht ohne größere Umstände zu speichern oder herunterzuladen. Weder in die Darstellung auf der Hauptseite noch in der Datenbank wurde eine Suchfunktion integriert.
Letzten Endes fällt das Urteil trotz der beeindruckenden und innovativen Grundideen eher zwiespältig aus: Das Ziel, mit der Ausstellung „eine differenzierteres Bild der damaligen Situation zu zeichnen“ (vgl. Startseite) ist auch mit der Internetseite im Großen und Ganzen erreicht worden. Zu dieser Bewertung steuert die Datenbank allerdings einen ungleich höheren Anteil hinzu. Der Versuch, das breite Spektrum unangepassten Jugendverhaltens in Köln für den Zeitraum von 1933 bis 1945 zu präsentieren, bringt aber auch einige Tücken mit sich. So fehlen dezidierte Hinweise darauf, dass es sich bei den Edelweißpiraten um ein Phänomen gehandelt hat, welches nicht nur Köln, sondern das gesamte Rhein-Ruhr-Gebiet betroffen hat und sich zudem über 1945 hinaus nachweisen lässt.6 Die Reduzierung auf den Kölner Kontext ist zwar aus ausstellungstechnischen Gründen verständlich, unklar bleibt aber, warum trotz des reichlich vorhandenen Angebotes gerade im Bereich des Nationalsozialismus auf eine Verlinkung der Internetseite mit korrespondierenden Seiten oder Themenportalen von vorneherein verzichtet wurde. So findet sich nicht einmal der Hinweis, ob im Rahmen der Ausstellung zumindest ein Katalog erschienen ist. Ein entsprechendes Nachschlagewerk wäre auch deshalb dringend notwendig, da die gesamte Internetpräsentation und auch weite Teile der Datenbank ohne jegliche Quellenangaben auskommen. Zwar lässt sich bei der Mehrzahl der Fotos der ungefähre Entstehungskontext „erahnen“, weiterführende (wissenschaftliche) Forschung ist auf dieser Basis allerdings nur eingeschränkt möglich. Dies ist sehr schade, weil im Rahmen der Ausstellung – wie auch die Präsentation im Internet zeigt – eine nicht geringe Menge an für die historische Forschung bedeutsamen Material bereitgestellt worden ist, das in dieser konzentrierten Form bisher nicht vorhanden war.
Anmerkungen:
1 Informationen zu diesem Filmprojekt finden sich auf der Internetseite der Produktionsfirma PALLADIO Film unter <http://www.edelweisspiraten.com>.
2 Matthias von Hellfeld, Edelweißpiraten in Köln. Jugendrebellion gegen das 3. Reich. Das Beispiel Köln-Ehrenfeld, Köln 1981. Detlev J.K. Peukert, Die Edelweißpiraten. Protestbewegung jugendlicher Arbeiter im „Dritten Reich“. Eine Dokumentation, Köln 1980 (3., erweiterte Auflage 1988).
3 Alfons Kenkmann, Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen 1996.
4 Ein kurzer Überblick über die Diskussion findet sich unter der Rubrik „Zeitungsartikel“ auf der allerdings unvollendeten privaten Internetseite „Die Edelweißpiraten – Das kurze Leben des Widerstandskämpfers Bartholomäus Schink“ <http://www.edelweisspiraten.de>.
5 Siehe Süddeutsche Zeitung, 11. Juni 2004, S. 10.
6 Vgl. Kenkmann, Wilde Jugend, S. 255-302 (wie Anmerkung 3).