Wie wirken die Medien, mit denen der Historiker seine Arbeit leistet, auf die Geschichte, die er schreibt zurück? Wie lässt sich, beachtet man diese Frage, eine Geschichte der Medien schreiben? Die Zusammenhänge von Medien, Historie und Historiographie, das „Wechselverhältnis von ‚Mediengeschichte’ und ‚Geschichtsmedien’“, ist Thema des in Weimar angesiedelten Graduiertenkollegs Mediale Historiographien. Mit der Tagung ‚Stehende Gewässer. Medien und Zeitlichkeiten der Stagnation’ wurden entsprechende Fragen nach den Konstitutionsbedingungen historischen Wissens unter dem Gesichtspunkt einer medienhistorischen Epistemologie der Stagnation ins Visier genommen.1
Die Metaphorik des Wassers ist überschäumend, mag sich auf sich selbst beziehen, lässt aber produktive Erkenntnisse flottieren. So kann man die Metapher der ‚stehenden Gewässer’, der ‚Flüsse und Seen’ auf die Geschichtsschreibung anwenden, auf ‚Politiken des Stillstands’, auf ‚epistemische Praktiken des Verzögerns und Stillstellens’ und auf ‚Wirkungsfelder des Anachronistischen’. So werden Problematiken sichtbar, die im Spannungsfeld von Medien und Geschichte vormals unbeachtet blieben.
In seiner Einleitung parallelisierte der Sprecher des Graduiertenkollegs, Bernhard Siegert (Weimar), das Aufhalten, das Stillstellen und das Stocken mit dem Karneval, dem Atavismus und dem Generalstreik. Passenderweise lässt sich, wie Siegert ausführte, der Namen der Stadt Weimar aus den altgermanischen Worten ‚wih’ und ‚mar’ herleiten, was soviel bedeutet wie ‚Heiliger Sumpf’. Auch der Tagungssaal war passend gewählt, erinnerte er doch zumindest ansatzweise an ein Aquarium – allerdings wurde die Wasserfüllung durch zahlreiche inspirierende Ideen ersetzt.
Friedrich Balke (Weimar/Köln) gelang es, das weite Feld der Zusammenhänge von Stillständen, Historiographie und Medien mit der Frage zu eröffnen, was sich dem Erzählen von Geschichte entgegenstellt. Durch die Kontrastierung von Ereignis- und Strukturgeschichte im französischen Kontext der nouvelle histoire erläuterte Balke die Veränderung von Darstellungsweisen und medialen Grundlagen einer ‚Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung’ und ihre Probleme mit nicht alphanumerisch-codierten Medien. So gelangte auch die Maschinerie der Stillstellung und Verlangsamung der Zeit durch die neue Geschichte ins Blickfeld, die Balke an den Mittelmeerforschungen von Fernand Braudel und gleichzeitig an den überlaufenden Regierungs- und Schreibtischpraktiken des ‚Papierkönigs’ Philipp II imposant verdeutlichte.
Damit waren drei Ebenen benannt, um die sich die folgenden Vorträge gruppieren ließen. Zunächst eine medientheoretische Ebene: Medien oszillieren, wie sich historisch herausarbeiten lässt, zwischen Stillstellung und Verflüssigung. Man denke nur an den Film, der durch die Projektion von stillstehenden Einzelbildern den Eindruck von Bewegung schafft. Auf einer zweiten, historiographischen Ebene verhandelte die Tagung Fragen des historischen Stillstands und des Stillstellens durch das Schreiben von Geschichte. Beide Ebenen kulminieren in einer philosophischen, die den Zusammenhang von Ereignis und Wiederholung auf die Frage ausrichtet, wie sich Zeitlichkeit denken lässt – um damit die anderen Fragen ins Boot zu holen.
Markus Sandl (Konstanz) eröffnete den zweiten Tag mit einer Gegenüberstellung von ‚kleindeutscher’ und ‚großdeutscher’ Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, die beide die Frage nach einem passenden Modell für die Einheit des deutschen Reiches aufwarfen. Sandl verband diese Geschichtsmodelle mit unterschiedlichen Positionen, was die Korrespondenz zwischen der Rolle von Medien und Theorien der Geschichte angeht. So zentriere die großdeutsche Geschichte den Stillstand und die Beharrung im geschichtlichen Prozess, reflektiere dabei aber nicht über ihre eigene Geschichtlichkeit und ihre medialen Bedingungen. Daraus resultiere, so Sandl, dass ihre mangelnde politisch Tragweite zur ‚Abstrafung’ geführt habe.
Claus Pias (Wien) rasanter Vortrag leitete die Ökologiebewegung aus militärischer Grundlagenforschung ab. Anhand der Limnologie, der Wissenschaft von den stehenden Gewässern, und ihrer Verbindungen zur Kybernetik erarbeitete Pias, wie das ‚Wissen vom Tümpel’ mit dem Wissen von der Welt als Mikrokosmos in Zusammenhang steht. Dieses Selbstbild unseres Planeten wird jedoch erst in dem Moment sichtbar, in dem die Erde von außen betrachtbar ist: Raumfahrt und ‚stehende Gewässer’ kulminieren in der Raumstation als autarker Lebenseinheit, die durch die Stillstellung der Veränderungen wiederum das ‚Ende der Geschichte’ in den Plänen der NASA aus nicht immer ganz stillen Gewässern auftauchen lässt („Durch die NASA wird die Weltenseele flügge.“).
Der Vergleich eines Stausees und angeschlossenem Kraftwerk mit der Datenbank und ihrer Verarbeitung beherrschte den Vortrag von David Gugerli (Zürich), ging aber nicht ganz auf, weil der Prozess der Datengewinnung schon eine Stillstellung dessen beinhaltet, was verarbeitet werden kann. Es wäre einleuchtender gewesen, wie auch Gugerli selbst anmerkte, sich auf die ‚Politik des Staus und des Flusses’ zu konzentrieren, wie sie mit der Datenbanktechnik als grundlegender Kulturtechnik virulent wird. Eine Geschichte der Datenbanken, wie von Gugerli angestrebt, dürfte sich dennoch als ertragreiches Projekt erweisen.
Ausgehend von und mit stetigem Bezug auf die Philosophie Kierkegaards bearbeitete Marc Rölli (Darmstadt) die Struktur der Wiederholung in Abgrenzung und Durchdringung der Fragen nach Zeit und dem Begriff des Ereignisses mit dem Ziel, das Paradox des Auftauchens des Neuen durch die Wiederholung zu betrachten. Der Exkurs führte über Benjamins geschichtsphilosophische Betrachtungen zum Glück über eine Phänomenologie der Wiederholung bis hin zu Freuds Wiederholungszwang und Nietzsches ewiger Wiederkunft. Auf diesem Weg erfolgte die Situierung des Begriffs der Wiederholung in der – in Weiterentwicklung von Kierkegaards Theorie – von der Transzendenz befreiten Immanenz und mündete in der Differenzphilosophie Gilles Deleuze’, aus der abschließend die These eines stets unbewusst stattfindenden Wiederholungsprozesses gewonnen wurde. Dieser hole die Seltenheit ein, die normalerweise mit dem Ereignis verbunden wird. Der philosophische Abriss wurde durch die anschließende Diskussion über die Fragen nach Medien und Wiederholung und über die Denkbarkeit einer Geschichte der Singularitäten in den Tagungskontext situiert.
Den Umbruch vom klassischem zum modernen Kino zeigte Mary Ann Doane (Providence) an der Großaufnahme auf. In Heranziehung der einschlägigen Filmtheorien von Münsterberg bis Deleuze diskutierte sie die besondere Stellung der Großaufnahme, welche durch die Herauslösung aus den raum-zeitlichen Koordinaten bestimmt ist und damit die Frage nach Oberfläche und Tiefe, Innerlichkeit und Äußerlichkeit thematisiert. Mit einem Filmausschnitt aus dem Western Once Upon a Time in the West von Sergio Leone visualisierte sie ihre Theorien.
Die Zuschreibung von Indexikalität beispielsweise für den Dokumentarfilm ist eine historisch gewachsene Konvention, so der Tenor des Vortrags von Philip Rosen (Providence). Anhand eines frühen Films von Dziga Vertov arbeitete er die Verbindung von Dokumentarfilm und Historiographie heraus, denn die ‚Zeugenschaft’ des Bildes verbürge seinen Charakter als Dokument und konstituiere so eine Formation historischen Wissens.
Ludolf Kuchenbuchs (Hagen) lebendiger Vortrag ‚Über die Widerständigkeit mittelalterlicher Schriftstücke und die Remedien ihrer Nutzbarmachung’ erwies sich als exzellenter Einstieg in den Morgen des dritten Tagungstages. Kuchenbuch erarbeitete, wie Texte über die reine Funktion der Schrift hinaus durch unterschiedliche Strategien der Visualisierung, Steigerung, Auffüllung der Leerstellen auf dem Papier sowie der Anreicherung der Buchstabenwelt ‚verlebendigt’ wurden, um so ihre Nutzbarkeit als Wissensspeicher sicherzustellen.
Mit der Zeitlichkeit von Dingen und Wörtern setzte sich Leora Auslander (Chicago) auseinander. Ihr stark visuell ausgerichteter Vortrag betrachtete die Praktiken und Diskurse rund um die Kleidung der Staatsbürger in Belgisch-Kongo und ihre Aneignung kolonialer, europäisch-westlicher Strategien. Leider ging sie dabei, trotz eines ansonsten ansprechenden Vortrags, nicht über gängige Thesen hinaus, so dass der Vortrag durchaus als ‚thesenfrei’ empfunden werden konnte.
Die Bedeutung der Einschreibung, der Übersetzung und der Beschreibung für microhistories beschrieb Paul Eiss (Pittsburgh) in seinem Vortrag über den Befreiungskampf im mexikanischen Yukatán anhand eines Überfalls auf eine Hacienda am 4. Mai 1913. Die Einschreibungen der Freiheitskämpfer auf den Artefakten, die der Historiker betrachtet, seien, so Eiss, nicht nur als ereignishafte Festschriften ihrer Bestrebungen zu verstehen, sondern als Versuche, die Befreiung als fortzusetzenden Prozess zu kommunizieren – was wiederum durch den Mikrohistoriker zu erzählen sei.
Götz Großklaus (Karlsruhe) kontrastierte die moderne Erzählform der Uchronie mit der Heterochronie: Beide seien nur als mediale Ausdrucksformen der Beschleunigung denkbar, aber während die Uchronie den Zeitfluss beschleunige, staue die Heterochronie die Zeit an einem anderen Ort an. Anhand der Fotographien von Atget und dem Film Im Lauf der Zeit von Wim Wenders versuchte Großklaus, die unterschiedlichen Darstellungsweisen der Heterochronie abhängig von ihren Medien zu bestimmen, um so herauszuarbeiten, dass die Heterochronie als ästhetisches Verfahren den verfallenden Dingen ihren historischen Sinn zurückerstatte. Allerdings blieb auch in der Diskussion offen, ob es Großklaus gelang, die Medienspezifik seiner Gegenstände genügend zu erfassen. So fragt sich, ob es angesichts der Tagungsthematik geschickt war, nur Standbilder von Wenders Filmen zu zeigen.
Elisabeth von Samsonows (Wien) Vortrag ‚Sondermüll. Sorge um die Entsorgung oder wo überwintert die Funktion?’ stellte die Frage, wo sich das befindet, was in einer Kultur vergessen wird, aber trotzdem nicht verschwindet. Stagnation manifestiere sich in den Dingen selbst, und damit werde das Ding zur Repräsentation von Geschichte, indem es nicht mehr genutzte Funktionen weitertransportiere. Am Beispiel des Teppichklopfers zeigte von Samsonow, dass das Bearbeiten des latenten Gedächtnisses nicht ohne seine Artefakte zu denken ist. So integriert der Teppichklopfer neben seiner Funktion als präelektronischer Staubsauger in der Form des Knotens eine Reaktualisierung mamelukischer Knotenkunst.
Eine gelungene Abrundung fand die Tagung in Wolfgang Hagens (Berlin) Vortrag ‚Medienäther – Äthermedien’. Anhand physikalischer Theorien von Newton bis Einstein und deren Gegenentwürfen ging es Hagen, um noch einmal auf die Wassermetaphorik zurückzukommen, darum, ein Aussagekraftwerk zu beschreiben, das im Foucaultschen Sinne Wahrheiten über physikalische Beobachtungen durch Zeichensysteme produziert und so einen Pool von Konzepten füllt, der in verschiedenste Richtungen weiterfließt und sich nicht zuletzt wieder in das Kraftwerk einspeist. Dabei betonte Hagen, dass ähnlich wie die Physik weiterhin auf anachronistische Konzepte des Äthers zurückgreift, auch die Medientheorie in vielen Fällen die Frage einer direkten Einwirkung behandelt oder aber auf einen mesmeristischen Medienbegriff aufbaut.
In der anschließenden, furiosen Diskussion fand das Thema der ‚Stehenden Gewässer’ eine Rückbesinnung nicht nur auf die Frage nach der Formierung historischen Wissens durch Stillstellung historischen Fließens, sondern auch in Bezug auf die Historiographie und ihre medialen Bedingungen: Eine Geschichtsschreibung, die ‚stehende Gewässer’ aufruft, könnte ein anderes Historikersubjekt integrieren und das Subjekt selbst als ‚stehendes Gewässer’ formulieren. Dem gegenüber stände eine Verflüssigung eines Subjekts, das sich nicht mehr auf feste Böden und historische Tatsachen berufen kann, sondern im Bewusstsein der eigenen Kontingenz die Frage nach dem Organisationszusammenhang historischer und medialer Selbstbedingungen stellt. Handelt es sich dabei um einen medialen Historiographen, vervielfachen sich die Probleme und Fragestellungen, aber auch die Antwortmöglichkeiten.
So fand eine Tagung ihr Ende, deren Schlaglichter treffend gesetzt und vor allem von den Tagungsteilnehmern sowohl in den Vorträgen als auch in den Diskussionen produktiv entfaltet wurden.2 Das vielfältige Angebot an fachübergreifenden Herangehensweisen machte deutlich, dass die Thematik der ‚stehenden Gewässer’ sich nicht nur für die Geschichtswissenschaft als produktiv erwiesen hat und in Zukunft vertieft werden sollte. Dass der Blick aus dem aquarienartig angelegten Raum auf einen Park mit Tümpeln und Teichen fiel, wenn er nicht gerade auf einem geschickt inszenierten Spielzeugaquarium ruhte, sei hiermit auch noch erwähnt.
Anmerkungen:
1 Programm siehe H-Soz-u-Kult unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=5311
2 Die Aufnahmen der Vorträge werden demnächst als Audiofiles auf der Homepage des Graduiertenkollegs unter http://www.mediale-historiographien.de zur Verfügung gestellt.