Polizisten im Nationalsozialismus als Täter und Retter

Polizisten im Nationalsozialismus als Täter und Retter

Organisatoren
Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte der FHöV NRW
Ort
Gelsenkirchen
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.05.2006 - 31.05.2006
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Von
Thomas Köhler, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster

Mehr als 100 Geisteswissenschaftler, Spitzen aus Ministerien, Verwaltung und Polizeibehörden sowie aktive Polizeibeamte nahmen in der Gelsenkirchener Zentrale der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung (FHöV) NRW am Symposium „Polizisten im Nationalsozialismus als Täter und Retter“ teil. Veranstalter war die Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte der FHöV NRW mit Sitz in Münster.

Gerhard Hausmann (Münster) skizzierte als Leiter der Forschungsstelle in seiner Einleitung deren Tätigkeitsfelder und Leitlinien, die er mit dem Schlagwort „Bildungsarbeit als Bewusstseinsbildung“ umriss. Ganzzeitlich will die Forschungseinrichtung dem Beamtennachwuchs in Verwaltung und Polizei jüngere deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt NS-Zeit vermitteln. Ein alltags- und sozialgeschichtlicher methodischer Ansatz stellt dabei das Handeln der damaligen Beamtenschaft in ihrer ganzen Bandbreite in den Mittelpunkt, anstatt nur exponierte Führungspersönlichkeiten zu skizzieren. Geisteswissenschaftliche Nachbardisziplinen werden interdisziplinär integriert - etwa Rechtsgeschichte und Ethik - so dass in der Summe einem kompetenzorientierten Ansatz in der Forschungsstelle der Vorzug vor einem wissensorientierten Lernen gegeben werden soll.

Erweitert auf die gesamte FHöV entwickelte deren Leiter Dieprand von Richthofen Leitlinien „für die Befähigung verantwortlichen Handelns im Rechtsstaat“. Für den Bereich der Polizei erinnerte er an den Bewusstseinswandel der Organisation in den 70er Jahren weg von der Staatspolizei hin zur Bürgerpolizei. Anhand negativer Beispiele polizeilichen Handelns aus der jüngeren Vergangenheit forderte Richthofen ein behördliches wie gesellschaftliches Frühwarnsystem, um Missstände und Fehlverhalten zu verhindern. Schlüssel hierzu sei ein gesteigertes kritisches historisches Bewusstsein, das Grundlage für heutiges polizeiliches und behördliches Handeln sein solle.

Das Polizei-Symposium gliederte sich in zwei Teile. Während im ersten Abschnitt durch Carsten Dams und Harald Welzer Täterhandeln aus historischer und sozialpsychologischer Perspektive analysiert wurde, beschäftigte sich der zweite Part in Vorträgen von Christoph Spieker und Randolph Ochsmann mit Aktion und Motivation von Rettern.

Carsten Dams (Münster) von der Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte lieferte den Teilnehmern in seinem Beitrag „Ganz normale Vollstrecker? Deutsche Polizisten im NS-Staat“ einen konzisen Überblick zur Polizeigeschichte im „Dritten Reich“. Dams ging in seinen Überlegungen von einer arbeitsteiligen, beinahe gesamtgesellschaftlichen Täterthese aus und stellte klar, dass der Völkermord an vor allem Juden und Sinti und Roma kein ausschließlich „bürokratisch-industrieller Vernichtungsprozess“ war, sondern im Hinblick auf die Rolle der deutschen Polizei Massenerschießungen und andere Tötungsexzesse außerhalb der Vernichtungslager einen nicht unerheblichen Teil im Rahmen des mörderischen Rassenwahns darstellten: „Teilweise wurden bei diesen Vernichtungsorgien mehrere tausend Menschen an einem Tag erschossen und die Täter wateten knöcheltief im Blut. Und dies ist buchstäblich zu verstehen und nicht im übertragenen Sinn.“

Dams stellte thesenartig sieben Themenblöcke vor: von der weitgehenden personellen Kontinuität im Übergang von der Weimarer Republik in die Zeitspanne nach der sog. Machtergreifung, über die Abspaltung etwa der Hälfte des Polizeipersonals von der Landespolizei in die Wehrmacht im März 1936, der massiven militärischen und personellen Aufrüstung der Bataillone der Ordnungspolizei im „auswärtigen Einsatz“ als „Fußvolk der Endlösung“ (Klaus-Michael Mallmann), über die im negativen Sinne erfolgreiche weltanschauliche Indoktrination der Truppe im Vernichtungskrieg und an der „Heimatfront“ bis hin zu personellen Kontinuitäten der „alten Kameraden in neuem Gewand“ nach dem Zusammenbruch des NS-Staates. Gesondert behandelte Dams die Rolle von Gestapo und Kriminalpolizei. „Hitlers Kriminalisten“ (Patrick Wagner) bescheinigte er ein hohes Maß an Eigeninitiative bezüglich der Umsetzung rassenhygienischer Staatsgrundsätze - beispielsweise gegen stigmatisierte Gruppierungen wie Homosexuelle, Prostituierte und sog. Arbeitsscheue und Asoziale - und widerlegte deren posthumes Selbstbildnis als unpolitische Kriminalisten. Der teilweise in der medialen Öffentlichkeit immer noch mythenumrankten Geschichte der Geheimen Staatspolizei setzte er schließlich ein nüchterneres Bild von karrierebewussten Beamten gegenüber, die intellektuelle Sachlichkeit mit rassistischen Überzeugungen paarten und somit eine fatale Radikalisierung der Politischen Polizei erzeugten, in der Ideologie in Tat überging.

Harald Welzer, Leiter des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, stellte in gewohnt pointierter Art seine Überlegungen zu Täterverhalten und Tätermotivation in seinem Beitrag „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ vor. Ausgehend von historischem Material – vorwiegend Gerichtsprozessakten gegen das ehem. Polizei-Bataillon 45, rekonstruiert Welzer mit sozialhistorischem Ansatz Tötungsmechanismen, um die Ergebnisse zu gegenwartsbezogenen Überlegungen zu nutzen. Das Bataillon war u.a. für Massenerschießungen von Juden – Männern, Frauen, Kindern und Säuglingen – beginnend in kleineren Orten in Polen bis hin nach Babi Yar und Schepetowka verantwortlich. Welzer verdeutlichte, dass der in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik geschaffene Tätertyp des primitiven „NS-Schlägers“ ein Konstrukt gewesen sei, welches, möglichst weit entfernt von der eigenen Identität und Familie, Distanz zu den Verbrechen des Nationalsozialismus habe schaffen sollen. Beschreibungen von Opfern wiederum schufen subjektiv häufig den Typus des pathologischen und sadistischen Täters. Dies führte ebenso zu einem Distanzierungsschub und verursachte im Ergebnis, dass der unauffällige, aus der Mitte der deutschen Gesellschaft stammende Täter mehr und mehr ausgeblendet werden konnte.

Welzer skizzierte die deutsche Gesellschaftsgeschichte ab 1933 als „Ausgrenzungsgeschichte“ mit Radikalisierungsstufen: beginnend mit Isolation, über Raub, Deportation bis hin zum Völkermord. Eine grundlegende Ungleichheit zwischen „Volksgemeinschaft“ und auszugrenzenden Gruppen wie Juden oder Homosexuellen sei als Ausgangspunkt der NS-Ideologie zu sehen, von dem aus Schritt für Schritt eine „normative Gesamtverschiebung der Gesellschaft“ stattgefunden habe, bei der schließlich rassisch begründeter Mord zum gesellschaftlichen Normalzustand avancieren konnte.

Lässt man sich wie Welzer auf diese aus heutiger Sicht pervertierte nationalsozialistische Moral ein, so wird doch vielleicht ein Stück weit verständlicher, warum „normale“ Menschen im NS-Staat die Tötung Anderer als „anständig“ empfinden konnten. Brutalisierung und Normalisierung seien, so Welzer, damals de facto der gleiche Prozess gewesen, in dem sich auch die zahlreichen Polizei-Bataillone während des „auswärtigen Einsatzes“ befanden. Aufgrund einer Verschiebung des „Referenzrahmens“ wurden sie innerhalb weniger Wochen zu Massenmördern und entwickelten eine „signifikante Dynamik des Tötens“.

Zu Beginn des zweiten Teils des Kolloquiums beschäftigte sich der Historiker Christoph Spieker (Münster), Leiter des Geschichtsortes Villa ten Hompel, mit „Rettungswiderstand“ und „Rettern im grünen Rock“, also Polizisten der uniformierten Polizei. In einer quellenkritischen Analyse verdeutlichte er den Teilnehmern, dass sich prozentual Retter in Uniform bestenfalls im Promillebereich nachweisen lassen: Für die Polizei mit ihren etwa 2,8 Millionen Männern konnte Spieker bisher 47 namentlich bekannte Fälle dokumentieren, bei denen allerdings die Quellenlage zum Teil als nur sehr fragmentarisch zu charakterisieren ist. Vor allem drei Faktoren seien handlungsrelevant für Rettungsmotive gewesen: Ethik, Religion und soziale Nähe, das Nutzen von Handlungsspielräumen in der konkreten Situation und Remonstration als Ausdruck von Opposition gegen NS-Ideologie. Als negativer Handlungsfaktor spielten aber auch materielle Motive eine Rolle.

Anhand dreier Beispiele von „Rettern“ wurden die methodischen Überlegungen konkretisiert. So half der Kommandant bei der Polizei in Krakau, Oswald Bosko, Juden bei der Flucht aus dem Ghetto und organisierte Verstecke außerhalb des Ghettos. Seine Aktivitäten wurden entdeckt und Bosko wurde am 18.9.1944 erschossen. Klaus Hornig verweigerte als Kompaniechef Anfang November 1941 aus kriegsrechtlichen Gründen eine Erschießung 800 russischer Kriegsgefangener durch seinen Zug im Polizeibataillon 306 und berief sich dabei auf § 47 des Militärstrafgesetzbuches, wonach jeder das Recht besitze, einen verbrecherischen Befehl zu verweigern. Er wurde wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt und von Himmler ins KL Buchenwald eingewiesen. Hornig überlebte das Konzentrationslager und trat in Nachkriegsprozessen als Zeuge auf.

Jupp Henneboel diente als Beispiel durchaus problematischer Biographien im Zusammenhang mit „Rettern“. Als „grüner“ Polizist während des Zweiten Weltkrieges in Amsterdam eingesetzt, rettete er am 6. Dezember 1944 eine Gruppe katholischer Geistlicher vor der Deportation. Nach Ende des Krieges reiste Henneboel illegal nach Holland ein, um sich dem Bergbaudienst in Deutschland zu entziehen. Mit Hilfe von Bescheinigungen der von ihm geretteten Priester gelang es ihm, die niederländische Staatsangehörigkeit zu erhalten. Als problematische Ego-Dokumente charakterisierte Spieker vor allem Henneboels in verschiedenen Versionen erschienene autobiographische Schriften, die nicht frei von Selbstinszenierung und -überhöhung, auch in Bezug auf „Rettungstaten“ selbst, seien.

„Was macht Menschen zu Rettern?“ Mit dieser übergreifenden Fragestellung näherte sich der Sozialpsychologe Randolph Ochsmann (Mainz) abschließend dieser schwer zu fassenden Thematik. Ähnlich wie Spieker für den historischen Bereich, so machte Ochsmann auch für die sozialpsychologische Disziplin die Faktoren Ethik, Hilfsbereitschaft, Freundschaft und die situative Nähe und Not, aus denen Mitleid und Rettungsinstinkt hervorgehen, als in erster Linie handlungsrelevante Faktoren aus und unterlegte diese Thesen mit sozialpsychologischen Studien und Testreihen vor allem aus dem angloamerikanischen Bereich. In seinem Fazit verneinte er monokausale und auch stufenartige Erklärungsmodelle, sondern verwies auf ein sich gegenseitig bedingendes Geflecht von Werten, Motiven, Kompetenzen und Situationsanforderungen.

In der Reaktion der Tagungsteilnehmer auf die Referate zeigten sich aufgeschlüsselt nach den Themenfeldern Täter und Retter deutliche Unterschiede in der Bewertung. Wäre wahrscheinlich noch vor wenigen Jahren eine hitzige Diskussion um die Auslegung von Tätertheorien auf breitere gesellschaftliche und berufliche Gruppen zwischen 1933 bis 1945 entbrannt, herrschte hierüber weitgehend Einverständnis, lediglich Überpointierungen und Rückschlüsse auf heutiges moralisches Verhalten sorgten für Diskussionsbedarf. Umgekehrt das Bild in der Retter-Diskussion: Vor einer Aufweichung der Begrifflichkeiten Retter und übergreifend Widerstand wurde gewarnt. Stärkere Klassifizierungen solchen Handelns wurden angemahnt. Indirekt trat bei einigen Diskutanten aber auch der Wunsch nach „unbefleckteren“ Rettern hervor, was jedoch moralisches Wunschdenken bleiben muss, handelte es sich doch bei Rettern in Uniform um einen Personenkreis, der in den Macht-, Unterdrückungs- und Ausrottungsapparat eingebunden war und der, individuell unterschiedlich, im Regelfall eine Mitverantwortung hierfür trug, bevor er sich zu Rettung und Resistenz entschloss.


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