Das Thema Marketing hat in der deutschen Unternehmensgeschichte weiterhin Konjunktur, wie neue Forschungsansätze, Arbeitsfelder, Tagungen und Veröffentlichungen belegen. Nach den 2004 und 2007 vorgelegten wegweisenden Studien von Kleinschmidt/Triebel, Berghoff und anderen 1 wurde aber schnell deutlich, dass der weitere Weg der Marketinggeschichte über die gewundenen Pfade der Empirie führen wird. Solche empirischen Fallbeispiele, aber auch methodische Anstöße aus den Nachbarwissenschaften bot die 2. Sitzung des Arbeitskreises Marketinggeschichte am 22. Februar 2008.
Eröffnet wurde die Arbeitstagung, die im Museum Strom und Leben im ehemaligen RWE-Umspannwerk Recklinghausen stattfand, durch THEO HORSTMANN (Leiter der Unternehmenskommunikation der RWE AG) und inhaltlich eingeleitet durch CHRISTIAN KLEINSCHMIDT (Vorsitzender des Arbeitskreises, Universität Paderborn).
Der erste Vortrag von GÜNTER SILBERER (Universität Göttingen) beschäftigte sich zunächst damit, Marketinggeschichte als Wissenschaft zu etablieren, im zweiten Teil mit der dazu erforderlichen Quellenbasis. Seiner Ansicht nach sei der gezielte Aufbau von Marketing-Dokumentationen in Unternehmen dringend geboten, um die Marketingpraxis auch zukünftig historisch rekonstruieren zu können. Empirische Analyse und Marketinggeschichte gehörten als unverzichtbare Teile der Marketingwissenschaft, die im Kern eine Erfahrungswissenschaft sei, zusammen. Dabei stand Marketing „für die professionelle zielgerichtete Wahrnehmung von Marktchancen, und zwar für das Erkennen von Marktchancen und für das tatsächliche Ergreifen der erkannten Marktchance, der so genannten Marktbearbeitung.“ Außerdem bestehe Marketing aus einer Mischung zweier elementarer Verhaltenstypen: einerseits ein verdecktes Verhalten, das einer unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich ist (zum Beispiel Wahrnehmungen, Prognosen, Ziele und Strategien), andererseits ein offenes Verhalten aus Handlungen, die einer direkten Beobachtung zumindest prinzipiell zugänglich sind, so zum Beispiel das Angebot von Leistungen, die offene Preisstellung, die Nutzung von Vertriebskanälen und die Werbung. Während letzteres Verhalten von MarketingwissenschaftlerInnen bei vorhandenen Unternehmensarchiven gut untersucht werden kann, sieht es beim verdeckten Verhalten schwieriger aus. Hier empfahl Silberer nach Möglichkeit die noch lebenden Akteure und Kenner bzw. Beobachter nach wissenschaftlichen Standards zu befragen. Doch da das Marketing länger zurückliegender Epochen darauf angewiesen ist, vor allem Dokumente, Berichte und Statistiken zu analysieren, kann das darin nicht erfasste verdeckte Verhalten nur schwer untersucht werden. Daraus schloss Silberer folgerichtig: „Somit sind wichtige Teile des Marketings wie das Marketingverständnis, die Beurteilung des Wettbewerbs und die Chancenerkennung in historischen Konstruktionen des Marketings grundsätzlich unterbelichtet. Angesichts dieser Situation kommt es darauf an zu zeigen, auf welche Weise das Nutzenpotential einer Dokumentation der Marketingpraxis gesteigert werden könnte.“
Auf diese Dokumentation kam Silberer im zweiten Teil zu sprechen. In Standardwerken zum Marketing, zum Beispiel von Heribert Meffert, kommen Dokumentationen häufig zu kurz, bzw. entfallen in neueren Auflagen, da diese analysieren, wie Marketing sein sollte, aber nicht, wie es ist. Es sei aber wichtig, multimediale Rekonstruktionen für die Zukunft zu ermöglichen, zum Beispiel würden Töne, Jingles, Bilder, Geschmacks-, Duft- und Tastsignale bislang kaum erfasst und analysiert. Diese Erscheinungen des Marketings könnten später aber nur erforscht werden, wenn sie zeitgenössisch dokumentiert und archiviert wurden. Beispielsweise könnten Unternehmen intern jetzt Dokumentationen aufbauen zum Smart oder zum Airbus A 380. Hierfür sei die Kooperation der verschiedenen Wissenschaften zwingend notwendig, auch um Trends, Perspektiven und Kontinuitäten zu erkennen. Um die vorhandenen Defizite zu überwinden, müsse erstens Überzeugungsarbeit in Marketingwissenschaft und Geschichte geleistet werden, zweitens im Aufbau solcher Marketing-Archive kooperiert werden und drittens die historische Tiefendimension mitbedacht werden, um die Marketingtheorie zu erweitern. Schließlich müsse ein Instrumentarium entwickelt werden, um Marketing als kulturelle Praxis untersuchen zu können. In diesem recht allgemein gehaltenen Konzept könnte eventuell auch Propaganda und anderes erfasst werden, da auch Politik ein Markt, ein Austauschsystem sei. Als schwieriger wurde die Analyse des Non-Profit-Bereichs und der kleineren bzw. mittelständischen Unternehmen angesehen, wobei die Archivsituation eine wichtige Rolle spielt. Bislang vernachlässigt wurde auch die „Geschichte der Verlierer“ und die Bedeutung von Agenturen, die archivalisch sehr schlecht zugänglich sind.
Einem bislang ebenfalls schlecht erforschten Bereich der Marketinggeschichte wendete sich
ROMAN ROSSFELD (Universität Zürich) in seinem gut strukturierten Vortrag „«Vorwärts! Das sei deine Losung!» Die Reisenden als Schaltstelle zwischen Unternehmen und Markt im 19. und 20. Jahrhundert“ zu. Er verfolgte damit – entsprechend den jüngsten Ergebnissen der historischen Marketingforschung – eine längerfristige Perspektive. Zwar gibt es eine akademische Disziplin Marketing in der Bundesrepublik und eine Implementierung von Marketing in den Unternehmen erst seit den 1960er/1970er-Jahren. Aber mit der Absatzlehre und entsprechenden Unternehmensstrategien (Produkt- und Preispolitik, Werbung, Branding und Vertrieb) lassen sich ähnliche Phänomene bereits im 18. und 19. Jahrhundert entdecken. Dabei nahmen die Handelsreisenden eine wichtige Scharnierfunktion ein, weil sie sowohl für die Vermarktung der Produkte, die Interaktion von Unternehmen und Markt sowie die Schaffung von Märkten bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutsam waren. Vertreter sind bislang kaum in das Blickfeld der deutschen Forschung gelangt2, auch in der Angestelltenforschung3 werden sie nur am Rande erwähnt, obwohl es über sie viele Quellen in Unternehmen, aber auch Handbücher und Ratgeber, öffentlich geführte Diskussionen, Karikaturen, Statistiken und Verbandsorgane gibt.
Eine wachsende Bedeutung erfuhren die Handelsreisenden seit den 1890er-Jahren, im Jahr 1930 wurde mit circa 46.000 Klein- und Großhandelsreisenden die höchste Zahl erreicht, die erst nach 1949 stärker absank. Anknüpfend an Alfred D. Chandler sieht Rossfeld die Reisenden als Teil des Vertriebs, der zur Senkung der Transaktionskosten in die Unternehmen der Schweizer Schokoladenindustrie eingebunden wurde. Die Handelsreisenden waren wichtig für die Bewegung in den Markt hinein, da sie Markt und Unternehmen über ihre Tätigkeit und Berichte miteinander verbanden. Durch ihre große Kundennähe erzielten sie eine Vertrauensbildung und waren unerlässlich für die Anbahnung von Aufträgen. Stereotype und Vorurteile trafen diese Zwischenhändler hart, obwohl es durch den Alltag durchaus zu Ausfällen infolge hohen Alkoholkonsums kam. Erst mit der verbandsmäßigen Organisation strebten sie eine Pflege des Berufsstandes und der Standesehre an. Die Mitgliederzahl des Verbandes reisender Kaufleute der Schweiz stieg seit 1878 mit Ausnahme des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise ständig an. Er übernahm vielfältige Aufgaben, zum Beispiel sollten Standesbedingungen und Image verbessert werden durch die Abgrenzung der Handelsreisenden vom Wanderhandel und Hausierertum, Unterstützungskassen wurden gegründet, die Arbeitsbedingungen diskutiert, ein Stellen- und Vermittlungsbüro, Konkurshilfe und Informationen über Kunden bereitgestellt. Insbesondere in den Ratgebern und Handbüchern der Reisenden wird die Professionalisierung und Ausdifferenzierung des Wissens deutlich. Hier wurden Verhaltensvorschriften für Gesundheit, Hygiene und Bildung publiziert sowie wünschenswerte Charaktereigenschaften herausgestrichen. Dadurch, dass die Reisenden zunächst eine neue Funktion gegenüber den Konsumenten, aber auch dem Handel übernahmen, wurden sie argwöhnisch beobachtet. Damit wurde die Hebung des Images eine wichtige Aufgabe der Standesverbände.
Insgesamt hatten die Vertreter auch eine Kontrollfunktion gegenüber dem Detailhandel, denn sie überwachten den Verkauf der Waren und konnten veränderte Konsumgewohnheiten und das Entstehen von Konkurrenzfirmen gut beobachteten. Möglicherweise verzögerten oder verhinderten sie auch eine Filialisierung des Handels. Analytisch bleibt aber die Abgrenzung der Handelsreisenden zu den Servicefachkräften und zum Teil auch zu den Kaufleuten schwierig.
DAVID ACKERMANN (Universität Zürich) untersuchte in seinem Beitrag „Have you seen this Ad before? Reklame als Grundbaustein des Marketings“ ein wichtiges disziplinäres Fundament des modernen Marketings: die Entstehung der Werbepsychologie. Auf der Grundlage eigener langjähriger praktischer Erfahrungen in der Werbepsychologie verglich er die wichtigsten amerikanischen und deutschen Lehrbücher von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis zu den 1920er-Jahren. Dabei ging er der Frage nach, weshalb sich die damals weltweit führenden deutschen Psychologen im Gegensatz zu ihren deutsch-amerikanischen Kollegen nicht mit Werbung beschäftigten. Als eine der „Geburtsstunden des modernen Marketings“ sah Ackermann einen 1901 von Walter Dill Scott in Chicago gehaltenen Vortrag, obwohl es bereits vorher Versuche gab, psychologische Erkenntnisse zur Förderung des Verkaufs nutzbar zu machen. Das Werk ‚The Theory and Practice of Advertising’ wurde 1903 veröffentlicht – vorerst ohne das Wort „Psychology“ im Titel zu erwähnen. Als ein weiteres wichtiges konzeptionelles Werk im Bereich des Marketings machte Ackermann auf „Advertising: Its Principles and Practice“ aufmerksam. Ein Werbemanager (H. Tipper), ein Psychologe (H. Hollingworth), ein Englisch-Professor (G.B. Hotchkiss) und ein Vertreter einer Kunstschule schrieben dieses interdisziplinäre Werk, das 1915 erstmals in den USA publiziert wurde. Zentral war auch hier – neben einigen theoretischen Darlegungen – die Ausgestaltung des „Ringens um die Aufmerksamkeit des Kunden“.
Schließlich setzte sich der Soziologe KAI-UWE HELLMANN (Technische Universität Berlin) in seinem analytischen Beitrag „4 Ps und die nordische Schule des Marketings“ mit der frühen amerikanischen Marketingwissenschaft und ihren skandinavischen Kritikern auseinander. Von Seiten der Soziologie sei ein Zugang zu diesem Feld erschwert, da es keine spezifisch soziologischen Forschungen zum Marketing gebe. Wissenschaftssoziologisch untersuchte Hellmann daher das wichtige Lehrbuch von William D. Perrault und E. Jerome MacCarthy „Basic Marketing“, das 1960 erstmals veröffentlicht und später 15fach neu aufgelegt wurde. Dieses Lehrbuch kann mit Fug und Recht als Klassiker der Marketingpraxis bezeichnet werden. Darin werde laut Hellmann als „Kernmodell des US-amerikanischen Marketings“ das 4-Säulen-Modell der vier Ps (Product, Price, Place und Promotion) gelehrt, mit dem sich Marketing zu befassen habe. Dass Marketing „gerade in Deutschland ... weitgehend synonym geworden zu sein [scheint] mit dem 4 Ps-Ansatz“, wird von Hellmann allerdings empirisch nicht belegt, da er sich eingehender mit den Kritikern eines solchen eingeschränkten Marketing-Verständnisses auseinandersetzte. Zu diesen Kritikern gehören vor allem die „Nordic School of Marketing“ um die schwedischen Wirtschaftswissenschaftler Christian Groenroos (Chair for Service and Relationship Marketing in Helsinki) und Evert Gummesson (Chair for Service and Relationship Marketing in Stockholm). Beide kamen disziplinär aus dem ‚Service Marketing’ und wiesen auf gravierende Mängel hin, die sich bei der Übertragung des US-amerikanischen Marketingansatzes auf Märkte zeigen, die keine Massenmärkte sind. Seit den 1990er-Jahren sind daher systemische Ansätze wieder im Vormarsch, eine Art Rückgriff auf die 1950er-Jahre, zum Beispiel im „integrated marketing approach“. Denn Groenroos und Gummesson konnten nachweisen, dass das frühe akademische Marketing noch eine Weite des Blicks und eine Multidimensionalität aufwiesen, die später auf die 4 Ps reduziert wurden. Dies geschah aber, wie auch Hellmann konzedierte, nicht zuletzt aus didaktischen Überlegungen und Notwendigkeiten. Mit Groenroos und Gummesson kommt er zu einem erweiterten Marketing-Begriff, der ausgehend vom Service-Marketing, stärker auf die Kundenbeziehung abhebt: “Marketing is to establish and commercialise long-term customer relationships, so that the objectives of parties involved are met. This is done by a mutual exchange and keeping of promises.” Ob auch bei der jüngeren Marketing-Theorie der skandinavischen Kritiker Eigen-Marketing und akademisches PR eine Rolle spielt, müsste allerdings noch genauer erforscht werden. Zumindest der Titel des Klassikers von Gummesson „Relationship-Marketing: von 4Ps zu 30 Rs“ deutet stark darauf hin.
Leider musste der stärker empirisch ausgerichtete Beitrag von MEINHARD NOWAK (Bochum) über „Monopol – Markt – Marketing: Social Marketing in Unternehmen der öffentlichen Energieversorgung nach 1945“ aufgrund von Krankheit entfallen. Denn ein wichtiger Ertrag der Tagung war, dass theoretische Ansätze sich verstärkt in der empirischen Erprobung beweisen müssen. Interessant an der weiteren Arbeit des Arbeitskreises wird daher das Spannungsverhältnis sein, das zwischen diesen beiden Polen entsteht und weitere Forschungen zum Marketing anregt. Hier gibt es eine Reihe innovativer empirischer Fallbeispiele wie die Unternehmenskommunikation in der Zuckerindustrie oder die Entwicklung des frühen Marketings, die zur Untersuchung anstehen. Dabei sollten neben den „klassischen“ Nachbarwissenschaften wie der Ökonomie und der Soziologie auch weitere Disziplinen einbezogen werden. Zu nennen wären hier die Medien- und Kommunikationswissenschaften, die Film- und Fernsehwissenschaften, die Bildwissenschaften, vielleicht sogar die Anthropologie und Ethnologie. Nach einer ausgiebigen Diskussion nahm sich der Arbeitskreis vor, weitere Zugänge zur Marketinggeschichte auszuloten und mit neuen empirischen Fallstudien im nächsten Tagungsprogramm zu kombinieren. Die nächste Sitzung findet 2009 in München statt.
Kurzübersicht
Dr. Theo Horstmann (Leiter der Unternehmenskommunikation der RWE AG) Begrüßung
Prof. Dr. Christian Kleinschmidt (Vorsitzender des Arbeitskreises, Universität Paderborn) Einleitung
Prof. Dr. Günter Silberer (Universität Göttingen) „Zur zeitgenössischen Dokumentation und historischen Rekonstruktion der Marketingpraxis“
Dr. Roman Rossfeld (Universität Zürich) „«Vorwärts! Das sei deine Losung!» Die Reisenden als Schaltstelle zwischen Unternehmen und Markt im 19. und 20. Jahrhundert“
Dr. David Ackermann (Universität Zürich) „Have you seen this Ad before? Reklame als Grundbaustein des Marketings“
PD Dr. Kai-Uwe Hellmann (Technische Universität Berlin) „4 Ps und die nordische Schule des Marketings“
Meinhard Nowak (Bochum) „Monopol – Markt – Marketing: Social Marketing in Unternehmen der öffentlichen Energieversorgung nach 1945“ (krankheitsbedingt entfallen)
Anmerkungen:
1 Berghoff, Hartmut (Hrsg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt am Main u.a.O. 2007; Triebel, Florian; Christian Kleinschmidt (Hrsg.), Marketing – historische Aspekte der Wettbewerbs- und Absatzpolitik, Essen 2004.
2 Führend ist auf diesem Feld die US-amerikanische Forschung mit Walter A. Friedman, Birth of a Salesman: The Transformation of Selling in America, Cambridge 2004 und Timothy B. Spears, 100 Years on the Road. The Travelling Salesman in American Culture, New Haven 1994, daneben gibt es verschiedene Aufsätze, die Einzelaspekte behandeln.
3 Kocka, Jürgen, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850-1980, Göttingen 1981 und Ders., Angestellte im europäischen Vergleich, Göttingen 1981; König, Mario, Die Angestellten zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung, Zürich 1984; Pierenkemper, Toni, Angestellte und Arbeitsmarkt im Deutschen Kaiserreich 1880-1913, Stuttgart 1987; Schulz, Günther, Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert, München 2000.