Jede Ordnung geht, so könnte sowohl gestalt- oder systemtheoretisch als auch dialektisch formuliert werden, mit einer Unordnung einher. Indem die Grenzen eines Wissensgebietes formuliert und festgeschrieben werden, bestimmt diese Grenzziehung zugleich Ein- und Ausschluss. Diese Grenzen sind aber nicht simple Setzungen, sondern verschieben sich in historischen Abläufen auf ganz unterschiedliche Weisen, geleitet von Erkenntnisinteressen, Begehrensstrukturen oder materiellen Bedingungen. Dabei können Überlappungen und Neuanordnungen zu ständig wechselnden Inklusionen und Exklusionen führen. Welche Wechselspiele, welches gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein, welches Bedingungsgefüge oder welche zentralen Medientechniken bei solchen Konstellationen eine Rolle spielen, untersuchte die Bochumer Tagung „Nicht Fisch, nicht Fleisch – Ordnungen und ihre Störfälle“ vom 18. bis zum 20. Dezember 2008 an unterschiedlichten historischen Beispielen, ohne dabei die Frage zu vergessen, ob diejenigen, die die Geschichte eines solchen Verhältnisses beschreiben, die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung nicht selbst erst ziehen.
Eröffnet wurde die Tagung von CHRISTINA LECHTERMANNs (Berlin) Vortrag über die Ordnung und Unordnung von Einheit und Uneinheit poetischer Werke des Mittelalters. Die Konstitution einer poetischen Geschlossenheit wie etwa im Fall der Trojanerkrieg-Handschriften verfahre mittels historisch variabler Verfahren des Aus- und Einschlusses, die aus dem Korpus der Handschriften immer wieder neue Anordnungen extrahiere und so die Grenze zum Unpassenden, ästhetisch oder normativ Falschen ständig verschiebe. Welche Geschichte dabei erzählt wird kann sich sehr unterscheiden, wie Lechtermann an der Figur der Helena verdeutlichte.
Ordnungen des Erzählens standen auch im Mittelpunkt des anschließenden Vortrags des Mitveranstalters BENJAMIN BÜHLER (Konstanz), allerdings in etwas anderem Sinne: Die Naturordnungen der verschiedensten scalae naturae, die Menschen, Tiere, Pflanzen und Mineralien über ihre Eigenschaften seit Aristoteles klassifizieren sollten, rekurrierten immer wieder auf alphabetische oder narrative Ordnungsstrukturen, solange sich die Ordnung nicht aus der Natur selbst ergeben konnte. Durch die Überlappung mehrerer Ordnungen werden, so Bühler, Interferenzen wirkmächtig, wie etwa im Falle des Polypen, der in keine Klasse so recht hineinpassen will. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Zuordnung der Lebewesen nicht allein ein nomenklatorisches Problem ist, sondern philosophische Probleme der Kausalität und der Theologie umfasst. Denn Gott garantiert, so der ins Spiel kommende Leibniz, die Kausalität und Kontinuität der Kette der Wesen auch dann, wenn sie nicht klassifikatorisch darstellbar sein mag, denn alle Darstellungen sind diskontinuierlich.
Einen materialreichen Einblick in die Ordnungen des Schreibens und des Papiers in den Notizen Carl von Linnés gab STAFFAN MÜLLER-WILLE (Exeter). Die Aufnahme und Verarbeitung von Informationsströmen aus der ganzen Welt zwecks Generierung eines Weltkatalogs der bekannten Pflanzenarten benötigte verschiedenste Verfahren der Bindung und Zusammenfassung von Papierbergen, um dem Komplexitätsanstieg der Exzerpte im Laufe der Zeit und auf der Flucht vor der Endlichkeit des Papiers Herr zu werden. Als eine Art Steckkasten auf Papier und in Buchform verwendete Linné Loseblattsammlungen, Exzerpte und Bücher je nach ihrer Eignung für das jeweils angestrebte Ordnungssystem.
ARMIN SCHÄFERs (Wien) morgendlicher Exkurs zu Goethes Morphologie, vor allem zum Zwischenkieferknochen, der Mensch und Tier in eine Genealogie stellt, eröffnete den zweiten Tagungstag so anspruchsvoll, wie er mit der letzten Diskussion geendet hatte. Goethes Konzeption des Organismus als einer emergenten, systemischen Einheit mit einer verborgenen Funktionsorganisation etablierte ein eigenes Ordnungssystem, das auch Goethe selbst erlaubte, sein eigenes Leben neu zu ordnen. So fließt die Morphologie in die Goethesche Selbsthistorisierung ein, indem seine Texte von ihm selbst als Schnitte durch die Totalität ‚Goethe’ und damit durch die Natur beschrieben werden.
Die „eucharistische Ordnung“ des Nikolaus von Cues und des Novalis stand im Mittelpunkt des Vortrags von THOMAS BÄUMLER (Konstanz). Anhand der Erzeugung und der Vernichtung von Differenz in der Eucharistie und dem „Ähnlichmachen zu Gott“ zeigte Bäumler, wie sehr das Eingehen in die religiöse Gemeinschaft der Menschen mit einem Ausschluss aus dem Unendlichen einhergehen muss. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit seit Cusanus Theologie resultiere in einer inhärenten Zeichenpraxis der Eucharistie.
Die Vorträge von JULIA VOSS (Frankfurt/Main) und DIETMAR SCHMIDT (Erfurt) ergänzten sich im thematischen Umfeld der Evolutionstheorie, in der Störungen ihren vielleicht prominentesten Ort finden, insofern die Selektion von Lebewesen Störfälle und Mutationen entweder aussterben oder aber zum Beginn einer neuen Entwicklungslinie werden lässt. Voss zeigte in einer historischen Kontextualisierung, wie sehr Darwins Arbeit von den britischen Sammlungen aus der Neuen Welt und ihrem ständig vom Chaos bedrohten Begehren nach Ordnung geprägt war. Schmidt hingegen erarbeitete Kontexte der Evolutionstheorie als Rückkopplungen von Symbolisierungsweisen, und zwar anhand der Beispiele des Vergessens bei Darwin (etwa dem ‚missing link’, das auf untergegangene Arten verweist), dem ‚Tagebuch eines Hundes’ von Oskar Panizza, in dem Ordnungsfragen aus einer anderen Perspektive als der des Menschen gestellt werden, und schließlich der Beschreibung von mnemotechnischen und taxonomischen Störfällen bei Viktor Sklovskij. In der Diskussion beider Vorträge wurde deutlich, wie sehr gerade eine kulturwissenschaftliche Kompetenz die Evolutionstheorie in neuem Licht erscheinen lassen kann.
Patentgeschichte ist ein Medium der Wissensgeschichte, so CHRISTIAN KASSUNG (Berlin) überzeugende These. Patente explizieren in der Technik implizites Wissen und ermöglichen damit zukünftige Entwicklungen, indem sie dieses Wissen tradierbar machen – und das gilt gleichermaßen für die abgelehnten Patente, die Störfälle dieses Wissens. In Patentschriften wird neues Wissen präsentiert und der Nachvollzug dieses Wissens angestrebt. Die Beispiele Windselbstschreiber, Füllfederhalter und Glühbirne machten den enormen Gewinn einer solchen Perspektive deutlich, denn sie erlaubt, Patentgeschichte nicht als Apparategeschichte zu schreiben, sondern technische Apparate als Kollektive von Aktanten zu begreifen.
UTE HOLLs (Weimar) Vortrag über Gehirnfilme machte explizit auf die Schwierigkeit aufmerksam, eine Störung aus historiographischer Perspektive überhaupt als solche formulieren zu können. Anhand des Flicker-Films „Sun in your head“ von Volf Vostell aus den 1960er-Jahren arbeitete sie eine Inanspruchnahme des Mediums Film heraus, das den Eigen-Sinn des Auges und den Inhalt anderer Medien parasitär vereinnahmt. Flicker-Filme machen die Instabilität der sinnlichen Wahrnehmung und die Wirkung des Films auf das Gehirn mittels flackernder Bilder und verzerrtem Ton selbst zum Inhalt und erscheinen so je nach Perspektive als Störungen oder Ordnungsgeneratoren.
Den Zusammenhang von (Wissens-)Ordnungen und epistemischen Dingen beleuchtete HANS-JÖRG RHEINBERGER (Berlin) anhand dreier Beispiele aus der Biologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Wandlungen des Stellenwerts von Experimentalanordnungen und Wissensproduktion gehe einher mit ständig neuen Spielräumen für Störfälle und produktive Fehlgriffe, die einem ‚Eigensinn der Technik’ (Claus Pias) unterliegen. So lässt sich zeigen, dass Kontrolle und Planung durch den Wissenschaftler nicht zwangsläufig zum Erfolg führen. Vielmehr geben Improvisation und Zufall häufig Anlass für einen produktiven Umgang mit Nicht-Wissen.
MICHAEL ANDREAS (Bochum) Vortrag Von Chamäleons, Camouflage und Chiaroscuro. Mimesis/Mimikry als Störfall verfolgte die Haut als Signifikanten quer durch verschiedenste Wissensgebiete. Von der Biologie des 19. Jahrhunderts, die in der Haut des Chamäleons mittels Mikroskopie das (dort farblose) Pigment entdeckt, führte so ein stringenter Weg zum Rassismus, der sich immer wieder in diese Haut eingeschrieben hat. Der den Störfall filternde Blick werde zum politischen Instrument. Die Postcolonial Studies hätten, so Andreas, im Umkehrschluss das Phänomen der Mimese und der Mimikry, also der biologischen Anpassung an einen Hintergrund, zur Subversion umcodiert, um mit ihr kulturelle Verhaltensweisen außerhalb des Hautfarbe-Diskurses beschreibbar zu machen.
Der abschließende Vortrag des Veranstalters STEFAN RIEGER (Bochum) über Flüssigkristalle präsentierte die verschiedensten Relationen von Ordnung und Unordnung anhand des Eigentlichen und Uneigentlichen der streuenden Metaphorik von ‚flüssigen’ Kristalle und ihren Aporien. Störend ist dabei einerseits die Zusammenbringung von Kristallen und Flüssigkeiten, aber auch die bedenkenswerte wissenschaftliche Querulanz, mit der solch unordentliche Themen oftmals einhergehen, und die einer eigenen Tagung bedürfte.
Es lassen sich zusammengefasst wenigstens drei Zentren bestimmen, um die herum Ordnung und Störfall verhandelt wurden: Erstens die Prekarität des Zwischen in taxonomischen Einheiten, also der Wissensraum, in dem Störfälle überhaupt erst auftauchen können. Zweitens wurde das Begehren nach Ordnung thematisiert, das wiederum ganz eigene Störfälle und Abweichungen hervorruft. Drittens standen historische Transformationen von Regelhaftigkeiten auf dem Plan. Wenn sich, um das am besten untersuchte Beispiel heranzuziehen, die Grenzziehung zwischen Mensch, Tier und Pflanze verschiebt, dann erscheinen neue Mischwesen und Störfälle in einer Gemengelage von Differenzen und Wiederholungen, die auch politische Funktion haben können.
Und so machte die Tagung Hoffnung, mehr über Unordnung zu erfahren. Ganz und gar ordentlich organisiert, hervorragend kuratiert und durchwegs anregend von CLAUS PIAS (Wien) bestens moderiert, eröffnete sie in den Vorträgen und Diskussionen Anknüpfungspunkte und Querverweise, die niemand vorausgesehen hatte, und die immer dann entstehen, wenn Ordnungen – denn jeder Vortrag hat seine eigene Ordnung – aufeinandertreffen. Eben dieses Potential der Unordnung (und der Interdisziplinarität) wusste man weidlich auszunutzen.
Konferenzübersicht:
Christina Lechtermann (Berlin): Die Rückkehr der Unordnung. Zur Karriere der Mischgestalten
Benjamin Bühler (Konstanz): Ordnung durch Erzählen: Das Wuchern der Systeme und die scala naturae
Staffan Müller-Wille (Exeter): Vom Exzerptbuch zur Karteikarte. Carl von Linné (1707-1778) bei der Arbeit
Armin Schäfer (Berlin/Konstanz): Mannigfaltige Ordnung: Goethes Morphologie
Thomas Bäumler (Konstanz): Von der „Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brod des ewigen Lebens zu seyn“. Novalis’ eucharistische Ordnung der Dinge
Julia Voss (Frankfurt/M.): Die Entdeckung der Unordnung. Charles Darwin und naturkundliches Sammeln im 19. Jahrhundert
Dietmar Schmidt (Erfurt): Adaptive Charaktere. Zur Vakanz naturgeschichtlicher Ordnung im Zeitalter der Evolutionstheorie
Christian Kassung (Berlin) Die Zukunft des Wissens und die Geschichte der Patente
Ute Holl (Berlin): Gehirnfilme: Zur Ordnung des Lichts in Intermissionen
Hans-Jörg Rheinberger (Berlin): Ordnung und epistemisches Ding
Michael Andreas (Bochum): Von Chamäleons, Camouflage und Chiaroscuro. Mimesis/Mimikry als Störfall.
Stefan Rieger (Bochum): Der Schein des Lebens. Flüssige Kristalle und die Unordnung im Organischen
Moderation: Claus Pias