Im Mai 2012 wird die Opernklasse der Schola Cantorum Basiliensis Francesca Caccinis Oper La liberazione di Ruggiero dall’isola di Alcina zur Aufführung bringen. Die Produktion ist ein erster Teilschritt im Forschungsprojekt "Gender Transgressionen", das vom Eidgenössischen Bundesamt für Berufsbildung und Technologie massgeblich unterstützt wird. Ziel des Projekts, dessen Konzeption und Leitung in der Hand von SNF-Förderprofessorin Fischer liegen, ist es, die Generierung und Anwendung von Genderwissen an der Schola Cantorum Basiliensis sowie dessen Vermittlung an eine breite Öffentlichkeit zu fördern.
Christine Fischer widmet sich seit 2007 in einem interdisziplinären Forschungsprojekt unter Beteiligung von Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft der Erschließung des historischen Kontexts von Barockoper. Neben theoretischen Untersuchungen zur Methodik und der Auswertung neuer Quellen zur italienischen Oper an deutschsprachigen Höfen steht die Frage nach dem Einfluss wissenschaftlicher Forschung auf Operninszenierungen im Sinne einer historisch informierten Aufführungspraxis im Zentrum der Projektarbeit. Die erste Probenphase zu Caccinis Opern-Balletto, dessen Handlung an Ariosts Orlando furioso und Torquato Tassos Gerusalemme liberata angelehnte, eröffnete nun mit einem Symposium unter Beteiligung internationaler Fachleute aus Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Romanistik. Ziel war es, den Austausch zwischen Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit, der die Aufführungsarbeit reflektierend begleiten soll, zu initiieren. Dabei wurden Fragen zu historischem Spielort, Aufführungsgeschehen, Libretto sowie politischem und höfischem Kontext von La Liberazione in wissenschaftlichen Vorträgen thematisiert. In anschließenden Workshops rückte die musikalische und szenische Praxis in den Fokus.
Die Gender-Thematik ist in La Liberazione in mehrfacher Weise präsent. Nicht nur, dass die Oper unter der Ägide einer weiblichen Regentin, Erzherzogin Maria Magdalena von Österreich, zur Aufführung kam, sie wurde auch von einer Frau komponiert: von Francesca Caccini, die nach dem Tod ihres Vaters und Lehrers Giulio eine der führenden Persönlichkeiten des Florentiner Musiklebens war. Nicht von ungefähr hatte Maria Magdalena, die seit 1621 für ihren noch unmündigen Sohn Ferdinando das Herzogtum Toskana regierte, den Kompositionsauftrag an eine Frau vergeben, lässt sich doch die Demonstration weiblicher Machtansprüche und kreativer Kompetenzen als maßgeblicher Aspekt des ganzen Vorhabens ausmachen. Ort der Aufführung war die bei Florenz gelegene Villa Poggio Imperiale, die sich die Erzherzogin zwischen 1622 und 1625 durch den Architekten und Theaterdekorateur Giulio Parigi zu einem repräsentativen Landsitz im Stil der traditionellen mediceischen Villa hatte ausbauen lassen. Festanlass war der Besuch des Neffen der Erzherzogin, des Kronprinzen Wladislaw von Polen, den die streng katholische Fürstin nicht nur für eine militärische Allianz gegen Protestantismus und Islam gewinnen, sondern zur Stärkung der dynastischen Interessen Habsburgs auch mit ihrer zweitältesten Tochter Margaretha verheiraten wollte. Zugleich richteten sich die glanzvolle Aufführung und die darin vermittelten Inhalte an den toskanischen Hofadel und nicht zuletzt an das Volk, das zwar von der im Innenhof der Villa inszenierten Oper ausgeschlossen war, aber immerhin das anschließend im Vorhof ausgerichtete Pferdeballett als „Zaungast“ miterleben durfte.
Diese historische Folie des Opern-Balletto in ihren komplexen Konnotationen zu fassen und für eine aktuelle Dramaturgie fruchtbar zu machen, war Aufgabe des Symposiumstages. Die Fachvorträge am Vormittag eröffnete ILARIA HOPPE (Berlin) mit Ausführungen zur baulichen Disposition und Ausstattung der Villa Poggio Imperiale, die zwar durch die Jahrhunderte mehrere Umgestaltungen erlebte, in wesentlichen Teilen jedoch den unter Maria Magdalena geschaffenen Zustand bewahrt hat. Das Bildprogramm der Ausmalungen in den Wohn- und Repräsentationsräumen der Regentin und ihres Sohnes, die von Matteo Roselli und seiner Werkstatt geschaffen wurden und Szenen aus dem Leben bedeutender Frauen aus Antike und Christentum vorstellen, wurde im Vortrag als Legitimationsmittel weiblicher Machtausübung kenntlich gemacht. Zugleich verdichtete sich die Vorstellung von den räumlichen Voraussetzungen und Abläufen während der Aufführung der Oper. Im Anschluss daran referierte KELLEY HARNESS (Minneapolis) über Tradition, Durchführung und ikonographische Bedeutung von Pferdeballetten und Schlacht-Inszenierungen am mediceischen Hof. Das „balletto a cavallo“ am Ende von La Liberazione wurde hierbei in einen Bedeutungszusammenhang gestellt, der auf die Demonstration militärischer und politischer Stärke ausgerichtet war. ADRIAN LA SALVIA (Erlangen) setzte das vom Hofpoeten Ferdinando Saracinello verfasste Libretto in Bezug zu dessen literarischen Vorlagen. Die Bearbeitung Saracinellos erwies sich dabei als komprimierte und vereinfachte Version des vorgegebenen Stoffes, deren Handlungsabläufe auf spezifische, von der Auftraggeberin intendierte Bedeutungsgehalte zugeschnitten waren. La Salvia riet dazu, bei der Inszenierung von La Liberazione Aspekte aus den Vorgängertexten zu integrieren und somit Handlung und Charaktere in einem weiter gefassten Zusammenhang zu interpretieren. Als vorrangigen Aspekt stellte er hierbei Prozesse des „Othering“ im Libretto heraus, des Prinzips der Selbstdefinition durch Abgrenzung vom Fremdartigen, das sich bei Ariost und Tasso durch unterschiedliche ethnische Zugehörigkeiten der Protagonisten kenntlich macht. Den Vormittag beschloss SUZANNE CUSICK (New York), die in ihrem Vortrag die Opernhandlung von La Liberazione als Reaktion auf eine über Generationen bestehende Gender-Problematik im toskanischen Adel und deren gesellschaftliche Folgen deutete, eine Problematik, der Maria Magdalena zur Durchsetzung ihrer religionspolitischen und dynastischen Interessen auf künstlerisch-propagandistischer Ebene begegnen wollte.
Der Nachmittag war der praktischen Arbeit gewidmet. Ziel des ersten Workshops mit dem musikalischen Leiter der Produktion, GIORGIO PARONUZZI (Basel), war es, vorzustellen, wie ein praktischer Umgang mit den Quellen des um 1600 in Florenz als neu proklamierten Musikstils gestaltet werden kann. Ausgehend von dem durch Giulio Caccini, den Vater Francesca Caccinis, geprägten Begriff des „recitar cantando“ stellt Paronuzzi den Umgang mit Sprache ins Zentrum seiner Arbeit. Wie er an ausgewählten Passagen aus La Liberazione gemeinsam mit den Sängerinnen und Sängern der Produktion vorführte, besteht ein grundlegender Schritt der Annäherung an diesen Stil darin, sich als Interpret dem Affektgehalt des Textes anzunähern und sich darauf aufbauend eine Freiheit im Umgang mit dem musikalisch Vorgegebenen, vor allem aber mit dem Deklamationstempo anzueignen. Er sieht in einer Verinnerlichung dieser Verfahrensweise, die bei jeder InterpretIn unterschiedlich vonstattengeht, auch eine Facette der „nobil sprezzatura“, der vornehmen Kunst, natürlich zu wirken, die Giulio Caccini für die Umsetzung des von ihm beschriebenen Stilideals einfordert.
Der zweite Workshop stand im Zeichen der Fragestellung, wie sich wissenschaftlich Erarbeitetes konkret auf szenische Umsetzungen – im Sinne der Übersetzung ursprünglicher Wirkungsweisen für ein heutiges Publikum – auswirken kann. Zu diesem Zweck wurden aus den Referaten des Vormittags zwei im historischen Kontext möglicherweise komplementäre, aber unterschiedliche Deutungen der „Befreiungsszene“ aus La Liberazione abgeleitet: Die gute Zauberin Melissa tritt in Gestalt Atlantes, des Mentors Ruggieros auf, um diesen von der Zauberinsel, auf der er durch die liebevolle Zuwendung und die Magie ihrer Herrscherin Alcina festgehalten wird, zu befreien. Melissa hat Erfolg: Ruggiero willigt ein, wieder zu seiner eigentlichen Bestimmung, dem Dasein als Krieger, zurück zu kehren. Bevor sie jedoch aufbrechen können, bitten verzauberte Pflanzen, die sich als Gefangene Alcinas entpuppen, darum, ebenfalls befreit zu werden.
In einer Art Versuchsanordnung setzte Regisseurin CHRISTINE CYRIS (Luzern) die beiden wissenschaftliche Vorgaben - zunächst eine Deutung der Befreiung Ruggieros als Loslösung von stereotypen Geschlechterrollen, danach als Prozess der Selbstdefinition durch othering - szenisch um. Dabei erwies sich besonders die Darstellung der Pflanzen als zentrales Mittel, dieser Handlungskonstellation Bedeutungsnuancen zu geben: Als Ausdruck des Gefangenseins in Geschlechterstereotypen wurden sie als Pin up-girls drapiert, in der zweiten szenischen Anordnung als sittenstreng verhüllte Figuren mit Kopftuch. Auch die Frage, was nach der Befreiung den Wechsel in der Wahrnehmung der Pflanzen auslöste – Ruggieros verändertes Sensorium oder eine objektive Wandlung auch der Pflanzen durch den Befreiungsakt – stand im Zentrum. Es wurde deutlich, wie sehr wissenschaftliche Interpretationen die Übersetzung ins Szenische beeinflussen, diese als letztendlich künstlerischen Prozess jedoch nicht determinieren sollen und können. Die durch den Workshop gegebene seltene Möglichkeit, den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis nachvollziehbar zu machen, gab Anlass zu ertragreichen Diskussionen und bereitete den Boden für zentrale Aspekte der Inszenierungs- und Probenarbeit, deren Beginn sich direkt an den Symposiumstag anschloss.
Konferenzübersicht:
Ilaria Hoppe (Berlin), Die Räume der Regentin und der Ort der Oper: Die Villa Poggio Imperiale unter Maria Magdalena von Österreich
Kelley Harness (Minneapolis), „Nata à maneggi & essercizii grandi”: Archduchess Maria Magdalena and Equestrian Entertainments in Florence, 1608-1625
Adrian La Salvia (Erlangen), Überlegungen zum Libretto Ferdinando Saracinellos
Susan Cusick (New York), Gender, Politics and the Music of La Liberazione
Giorgio Paronuzzi (Basel), Workshop “recitar cantando” in La Liberazione
Christine Cyris (Luzern), Workshop Perspektivenvielfalt, praktischer Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen
Premiere der Produktion von La Liberazione am 11.5.2012