Die Idee, dass sich die italienische Nation in der Gestalt eines Staates organisieren könne, fand ihren politischen Höhepunkt in der Gründung des Königreichs Italien im Frühjahr 1861. Anlässlich dieses 150. Jahrestages führte nun das deutsch-italienische Zentrum Villa Vigoni vom 14. bis zum 18. Juni 2011 in Loveno di Menaggio eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Tagung zum Thema „Das Risorgimento im europäischen Kontext: Politik – Kultur – Transfer“ durch. Das Ziel dieser Veranstaltung, die in Form eines Seminargesprächs von den drei wissenschaftlichen Koordinatoren, Christian Jansen, Thomas Kroll und Enrico Rusconi konzipiert wurde, war es, den italienischen Nations- und Staatsbildungsprozess und dessen Folgen für die italienische und auch deutsche Gesellschaft zu analysieren. Dabei konnte von den Teilnehmern bei der Vorstellung ihrer Arbeitsthesen und Quellen methodisch sowohl eine komparatistische als auch transnationale Perspektive gewählt werden, um die zentralen politischen Akteure, Trägerschichten und Ideen stärker in einen europäischen Zusammenhang einzuordnen. Durch den Fokus auf eine dezidiert vergleichende Diskussion ausgewählter Themen der neueren Risorgimento-Forschung sollten so die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den nationalen Einigungsbewegungen und Modernisierungsprozessen in Deutschland und Italien ermittelt werden.
In den letzten Jahren zeichnet sich in der Risorgimento-Forschung eine kulturgeschichtliche Neuorientierung ab. Federführend für diese alternative Geschichtsschreibung ist der Historiker ALBERTO MARIO BANTI (Pisa), der seine methodologische Ausrichtung in dem Einführungsvortrag der Tagung vorstellte. Verschiedenste literarische und visuelle Quellen setzen sich für ihn zu einem canone risorgimentale zusammen, durch den die Nation konstruiert, imaginiert und kommuniziert wird. Der daraus resultierende patriotische Diskurs führt zur Entstehung einer nationalen Gemeinschaft – einer Art erweiterter biologisch-politischer Familie – in der Motive der Ehre, Tugend und Scham eine große Rolle spielen. Die Öffentlichkeit konnte demnach ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl für sich entdecken, aus dem Banti die These folgerte, dass es sich beim Risorgimento nicht um eine bürgerlich-adlige Initiative gehandelt habe, sondern um eine Massenbewegung, die über den Bereich der Kultur mit der politischen Zielsetzung vertraut gemacht wurde. Dass dieser kulturalistische Erklärungsansatz für die Durchsetzungsfähigkeit des Risorgimento-Nationalismus durchaus kontrovers diskutiert wird, zeigen die zahlreichen historiographischen Auseinandersetzungen mit Bantis neueren Publikationen.1
Nationsbildung, Nationalismus und konkurrierende Identitäten
Der Vergleich zwischen der deutschen und italienischen Nationsbildung gehört zu den Klassikern der beiden jeweiligen Forschungslandschaften. Seit Heinrich von Treitschke sind dabei historiographisch immer wieder die vermeintlichen Gemeinsamkeiten in der Nationalstaatsgründung Deutschlands und Italiens herausgearbeitet worden, zu denen die Parallelen zwischen Cavour und Bismarck sowie Piemont und Preußen gehören. Auch die historisch und kulturell tief verankerten regionalen und munizipalen Identitäten, die sich einem Vereinigungsnationalismus über einen langen Zeitraum widersetzten – man denke hier nur Bayern und Venedig – gehören zu den üblichen Referenzpunkten des Vergleichs. Gerade aus dieser letzten Parallelität ergibt sich aber auch der entscheidende Unterschied zwischen der deutschen und italienischen Nationalstaatsgründung: Während in Italien ein unitarischer Zentralstaat errichtet wurde, konnte sich in der Schweiz und Deutschland die föderale Option durchsetzen. Diese gravierende Divergenz kommentierte SIEGFRIED WEICHLEIN (Fribourg) und setzte sie in Bezug zu zwei neueren Erklärungsansätzen der comparative politics sowie Kultur- und Ideengeschichte.2 Zum einen ging Weichlein dabei auf Daniel Ziblatts These der infrastructural (in-)capacity ein, die in Italien trotz regionaler und staatlicher Vielfalt keine institutionellen Bedingungen für einen effizienten Bundesstaat gegeben sah. Diese Ansicht durchaus kritisch bewertend, wendete sich Weichlein zum anderen einem sehr viel komplexeren Erklärungsansatz der politischen Ideengeschichte zu, der sich mit der ausgeprägten föderaldemokratischen Tradition in Italien beschäftigt. Die Auseinandersetzung mit den eher aus bürgerlichen Kreisen Norditaliens stammenden Vertretern dieser Bewegung, wie zum Beispiel Carlo Cattaneo, Giuseppe Ferrari und Carlo Pisacane, zeige dabei, dass die föderaldemokratische Position als herrschaftsdestabilisierend eingeschätzt wurde und sich deswegen nicht habe durchsetzen können.3
CHRISTIAN JANSEN (Berlin) überprüfte in seinem Vortrag das Paradigma der „Verspäteten Nationen“ und bettete diesen vermeintlichen Erklärungsansatz in einen europäischen Vergleich ein. Dazu führte er eine Reihe prägnanter Thesen zu den Nationalstaatsprozessen in Deutschland und Italien an und legte demgemäß die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dar. So sei neben den Abweichungen in der sozialen und organisatorischen Struktur des Nationalvereins und der Società nazionale der organisierte Nationalismus in beiden Ländern im Wesentlichen durch die enge Verbindung zwischen Liberalismus und Nationalismus bestimmt gewesen. Auch habe sich den Politikern beider Staaten nach 1861 bzw. 1871 das Problem der inneren Nationsbildung gestellt. Doch diese Aufgabe hätten auch die französischen Politiker bewältigen müssen.4 In Bezug auf Deutschland und Italien von „verspäteten Nationen“ zu sprechen sei deshalb fraglich und im europäischen Vergleich obsolet. Jansen bezeichnete es aber als einen wichtigen Befund, dass die Nationalstaatsgründung sowohl in Deutschland als auch in Italien wesentlich abweichend verlief, als es sich die führenden Nationalisten vorgestellt hätten. Ihre politischen Bestrebungen wären zwischen 1848 und 1866 an den Machtverhältnissen in beiden Ländern gescheitert. Die so entstandenen Nationalstaaten sahen anders aus als es sowohl die jeweiligen Nationalbewegungen als auch die führenden politischen Vertreter – Bismarck und Cavour – erwogen hatten. In seinem Fazit hierzu konstatierte deshalb Jansen, dass der Vergleich der deutschen und italienischen Nationsbildung die „Kontingenz historischer Entwicklungen und die große Bedeutung unintendierter Wirkungen in der Politik“ zeigen würde.
In ihren aufschlussreichen Ausführungen ließ sich CHRISTIANE LIERMANN (Villa Vigoni) auf einen Vergleich zwischen dem Protestantismus in Deutschland und dem Katholizismus in Italien während der Nationalstaatsbildungsprozesse ein. Dieses von der deutsch-italienischen Geschichtswissenschaft bislang noch kaum untersuchte Thema birgt vielseitige Vergleichsmöglichkeiten, die Aufschluss über die Identitätsofferten von Religion im nationalen Zusammenhang geben. So waren fast alle Strömungen innerhalb der italienischen Nationalbewegung davon überzeugt, dass die Schaffung eines nationalen Staates auch die Sphäre des Religiösen positiv beeinflussen musste: Es wurden nicht nur die national-italienische Dynamik und religiöse Metamorphose als interdependent angesehen, sondern man hoffte ferner darauf, dass in der Folge der Nationalstaatsbildung die religiöse Transformation Italiens ebenso Auswirkungen auf die religiöse Situation in ganz Europa haben werde. Auch in Deutschland gab es idealisierte Erwartungen einer religiösen Erneuerung durch den Protestantismus, die im Zusammenhang mit dem Wunsch nach staatlich-monarchischer Restauration und Wiederherstellung der vorrevolutionären Ordnung gesehen werden muss. Ähnlich wie in Italien der nationalpatriotische Katholizismus lebte hierbei der nationalpatriotische Protestantismus von der Konstruktion einer spezifischen Mission der eigenen nationalen Kultur, die religiös-konfessionell legitimiert war.
Im Anschluss an diese geschichtstheologischen Ausführungen ging ANDREA CIAMPANI (Rom) der politischen Dimension der Questione Cattolica nach. Anhand der Quelle „Sulle elezioni Politiche – Adunanza del 30 Nov. 1876“ zeigte Ciampani, dass es innerhalb des Vatikans durchaus politische Positionen gab, welche die Entscheidung des Papstes, die Teilnahme der Katholiken am öffentlichen Leben als ungebührlich (Bulle non expedit) zu erklären, nicht teilten. Die mit den Tagungsteilnehmern gemeinsam diskutierte Quelle zeigte, dass sowohl die politischen Projekte des Vatikans, die zwischen 1876 und 1883 formuliert wurden, als auch die in der Forschung sonst übliche Konzentration auf den religiös-antiliberalen Katholizismus (Ultramontanismus) überdacht werden sollten.
Auf die Bedeutung des Regionalismus und der lokalen Identitäten zwischen Risorgimento und dem Ersten Weltkrieg machte hingegen STEFANO CAVAZZA (Bologna) aufmerksam. Dabei zeichnete er die Konjunkturen des schwerzufassenden Begriff der „Region“ nach und gab zu bedenken, dass die meisten regionalen und lokalen Identitätszuschreibungen das Ergebnis eines ideologischen Prozesses waren, in dessen Verlauf Mythen, Werte und Stereotypen konstruiert wurden.5 Obgleich bei der administrativen Gestaltung des italienischen Königreichs regionale Verwaltungsebenen keine Rolle spielten und Partikularismen von der politischen Führungselite als Gefahr für den neuen Nationalstaat angesehen wurden, trugen später italienische Schriftsteller, Ethnologen und Geographen zu einer „Wiederentdeckung der Region“ in der Età giolittiana bei. Zeitschriften wie Il Secolo, die seit 1887 mit ihrer monatlichen Ausgabe Le Cento città d'Italia auf die Bedeutung der Städte in Italien hinwies, volkskundliche Forschungen und die große ethnographische Ausstellung anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der italienischen Einigung zeigten deutlich, dass man versuchte, die Idee der Region politisch aufzuwerten. In populärwissenschaftliche Publikationen wurden alte, negative Stereotypen von den intellektuellen Eliten ins Positive gekehrt, so dass sich die verschiedenen sozialen Schichten in dieser neuen Konstruktion ihrer regionalen Lebenswelt wiedererkennen konnten. Laut Cavazza war es die Intention der politisch involvierten Kreise, nun die Italiener über den Umweg der Region zu einer nationalen Identität zu führen, deren Fehlen – nicht nur bereits im Jahr 1867 von Massimo D’Azeglio 6 – immer wieder moniert wurde.
Kultur und Mentalität
In ihrem Beitrag nahm ANNE LÜBBERS (Heidelberg) den eingangs formulierten kulturgeschichtlichen Ansatz von Alberto Mario Banti wieder auf. Am Beispiel Alessandro Manzonis verdeutlichte sie dabei, dass die literarischen Werke der italienischen Romantik eine fundamentale Bedeutung für die politische Einigungsbewegung hatten. Insbesondere in seiner Person und Werk – so Lübbers – vereinige sich die literarische und politische Bewegung des 19. Jahrhunderts in Italien, da er sowohl die politischen Impulse der Zeit absorbiert und sie in seinem literarischen Publikationen widergespiegelt habe, als auch die politische-emotionale Mobilisierung der italienischen Patrioten durch sein Werk direkt beeinflusst gewesen sei. Damit stellte sie den Bezug zu der vieldiskutierten Frage her, ob die Literatur dazu beigetragen habe, dass sich das Risorgimento zu einer Massenbewegung entwickeln konnte. Hierbei handelt es sich um eine These, die durchaus in der neueren Forschung kritisch bewertet wird.7
Mit einem wahrlichen Parforceritt führte CHARLOTTE TACKE (Villa Meleto) das Plenum durch ihr neuestes Forschungsprojekt zu Jagd und Nation in Deutschland und Italien. Im Zusammenhang mit der historischen Methode des Vergleichs zeige gerade das Beispiel der Jagd, in welchem Maße die Nationalisierung kultureller Praktiken an historische Bedingungen geknüpft sei. Dabei reiche der Untersuchungsgegenstand der Jagd nicht nur in rechtshistorische Bereiche hinein, sondern nehme auch sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen auf. So vollzog sich zum Beispiel in Italien die nationale Konnotation der Jagd in erster Linie im städtischen Milieu der freien Jäger. Mit der Forderung des städtischen Bürgertums nach freier Jagd mit dem Gewehr wurde die „Nation in Waffen“ beschworen. Zugleich äußerte sich darin die kulturelle und politische Hegemonie der Stadt gegenüber dem Land. In Deutschland hingegen agitierte „das Land“ als Ort der Nation gegen „die Stadt“. Zudem war hier die Jagd in erster Linie ein ständisches Privileg des Adels, der seine herrschaftlichen Jagdrechte gegen Wilderei seitens der Unterschichten zu verteidigen wusste. Erst im Laufe des Jahres 1848 wurden Jagdgesetze erlassen, die das Jagdrecht an den eigenen Grund und Boden banden. Damit kam zwar der antiständische Charakter dieser Regelung zum Ausdruck, aber die bürgerlichen Vertreter in der Paulskirche verließen sich hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Ordnung auf die staatlichen Forstbeamten.
Ausgehend von der These des Althistorikers Arnaldo Momigliano, dass sich die Herausbildung des Nationalbewusstseins der italienischen Juden parallel zur Entstehung des Nationalbewusstseins der nichtjüdischen Bevölkerung in Italien vollzogen habe, konzentrierte ULRICH WYRWA (Berlin) seine Ausführungen zur Geschichte der italienischen Juden auf sechs konzise Thesen. Hierbei stellte er nicht nur zur Disposition, ob es sich bei der parallelen Nationalisierung um eine italienische Besonderheit handele, sondern zweifelte auch den „einzigartigen Grad von Assimilitation, der die Juden in Italien ausgezeichnet habe“, an. Der Vergleich mit anderen Ländern in Europa zeige, – so Wyrwa – dass das jüdische Bürgertum dort ebenfalls durch eine starke Verbürgerlichung und Anpassung geprägt gewesen sei. Zwar sei die soziale und politische Integration der Juden im Liberalen Italien in ihrem Ausmaß eine Besonderheit, die in keinem anderen Land in dieser Deutlichkeit zu sehen gewesen sei, aber bei dem historischen Prozess der Emanzipation habe es sich keineswegs um eine einzigartige Erscheinung gehandelt. Darüber hinaus könne man nicht davon ausgehen, dass eine einzige homogene und geschlossene jüdische Identität für die ganze italienische Halbinsel gegeben habe, sondern vielmehr unterschiedliche – oftmals auch regional bedingte – jüdische Lebensformen existierten. Wyrwa hob hervor, dass das besondere Merkmal der italienischen-jüdischen Geschichte deshalb eher darin zu suchen sei, dass sich die Gegner einer Emanzipation der Juden auf keine politische Kraft beziehen konnten. Weder die katholische Kirche noch das Königreich Piemont-Sardinien standen für diese Position – aus durchaus unterschiedlichen Gründen – hierfür zur Verfügung.
Transnationale Beziehungen
Der methodische Ansatz der transnationalen Beziehungen erlangt für die Geschichte des Risorgimento eine immer größere Bedeutung. Denn obgleich sich die bisherige Geschichtsschreibung in erster Linie auf die nationale Perspektive konzentrierte, war doch die Epoche, die mit der italienischen Nationalstaatsgründung 1861 bzw. 1870 ihren formalen Abschluss fand, durch komplexe politische, wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen mit anderen europäischen und transatlantischen Einflussgrößen geprägt. Diesen multilateralen Wechselwirkungen ging die dritte Sektion der Tagung nach, die durch das aktuelle Forschungsprojekt von FERDINAND GÖHDE (Florenz) eingeführt wurde. In seiner Untersuchung nahm er dazu die Beteiligung deutscher Soldaten in den Armeen und bewaffneten Gruppen des gesamten politischen Spektrums (pro-risorgimentale bewaffnete Gruppen auf Seiten Mazzinis und Garibaldis versus päpstliche und legitimistische Armeen) zwischen 1834 und 1870 vergleichend in den Blick. Aufschlussreich sind diesbezüglich Göhdes Befunde zur Wahrnehmung der Soldaten auf der eigenen wie gegnerischen Seite und der Moralisierung des Soldatenbegriffs, bei der der aus „noblen“ Motiven handelnde Freiwillige scharf gegenüber dem aus „niederen“ Gründen handelnde Söldner abgegrenzt wurde. In Bezug auf die Erfahrungen der deutschen Soldaten in Italien betonte Göhde den aus seiner Sicht aus mehreren Gründen notwendigen neuen Blick auf die kulturellen Welten der sogenannten „Gegner“ des Risorgimento; dieses Feld solle nicht dem verklärenden Blick der sogenannten anti-risorgimentalen Literatur im derzeitigen Italien überlassen bleiben, sondern die aus dem Studium des nationalen Diskurses gewonnenen Einsichten als Fragestellung auch an diese Seiten gerichtet werden. So sei etwa erkennbar, dass der nationale Diskurs nicht nur religiöse Symbole übernehme, sondern diese nun nationalisierten Semantiken, mit den Bedeutungsverschiebungen des Nationalismus versehen, auch ihren Weg zurück in die katholischen und legitimistischen Welten fänden. Der nationale Diskurs greife so auch bei den als Gegnern einer Nationalstaatsbildung bezeichneten Gruppen um sich. Dieser prägte, gemäß Göhde, die Praktiken, Erfahrungen und gegenseitigen Wahrnehmungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten innerhalb der italienischen Armeen; gleichzeitig trug das transnationale Engagement erheblich zur Zirkulation dieser Diskurse bei, in einigen Fällen auch dadurch, dass die Soldaten zwischen den verschiedenen Armeen wechselten. Dieses Hineintragen des nationalen Diskurses in die Armeen und Armeeteile führte dazu, dass sich die nationalen Gruppen innerhalb aller italienischen Armeen kontinuierlich im Hinblick auf Körper- und Emotionskontrolle im Sinne von Männlichkeitsbildern und in Bezug auf militärische Fähigkeiten verglichen.
Im weiteren Verlauf konzentrierte JOHANNES MÜLLER (Köln) seine Ausführungen für das gemeinsame Villa-Vigoni-Gespräch auf die Möglichkeiten und Grenzen eines Vergleichs zwischen den beiden verfassungsgebenden Versammlungen in Frankfurt 1848/49 und Rom 1849. Dabei betonte Müller eingangs, dass zwar die beiden Versammlungen einen Höhepunkt in der jeweiligen revolutionären Entwicklung in Deutschland und Italien darstellten, sich diese aber durch den formalen geographischen Geltungsanspruch unterschieden, bei dem Frankfurt ein nationales, Rom ein einzelstaatliches Mandat zu erfüllen hatte. Anhand der als Diskussionsgrundlage vorgelegten beiden Verfassungsentwürfe zeigte Müller anschließend, dass zum Beispiel sich die Parlamente im Hinblick auf das Wahlrecht und bei den Zahlen zur Wahlbeteiligung sowie in der sozialen Zusammensetzung ähnelten. In beiden dominierte ein großbürgerliches Bildungs- und Besitzbürgertum, das sich als alternative Elite zu den traditionellen Führungsschichten verstand. Während jedoch die Paulskirchenversammlung aufgrund der Einbindung in die staatlichen Strukturen des Deutschen Bundes, wie etwa die Einstellung der Tätigkeit des Bundestags, im Kern kaum mehr als revolutionäre, sondern eher (wie im Selbstverständnis der meisten ihrer Abgeordneten) als reformerische Veranstaltung zu begreifen sei, stelle die römische Konstituente umgekehrt einen auf ein Scheitern von Reformen antwortenden revolutionären Akt dar. Die von Müller auch als Infragestellung seines eigenen vergleichenden Vorgehens selbstkritisch hervorgehobenen erheblichen Unterschiede zwischen den beiden Versammlungen wie auch Verfassungen scheinen sich dabei gerade als Stärken herauszustellen, welche die komparative Perspektive für die laufenden italienischen historiographischen Debatten um eine positive Neubewertung der römischen Republik als höchst fruchtbar erscheinen lassen.
Die intensive Debatte, die im Deutschen Bund über ein mögliches Eintreten in den österreichisch-sardischen Krieg 1859 geführt wurde, stand im Zentrum der Ausführungen von THOMAS KROLL (Jena). Etwa 200 Broschüren widmeten sich, so Kroll, in besagtem Jahr dieser Frage; Ergebnis war eine sehr ausdifferenzierte Debatte zwischen den Befürwortern und Gegnern eines solchen Eingreifens. Während demokratische Vertreter für eine Neutralität plädierten, solange das mit Piemont verbündete Frankreich das Bundesgebiet nicht tangiere, meldeten sich per Publikation auch die deutschen Fürsten zu Wort. Sie gingen damit weit über die klassische Kabinettspolitik hinaus und befürworteten eine Intervention des Deutschen Bundes, wie es Kroll am Beispiel der von Edzard Fischel und Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Cotta 1859 formulierten Streitschrift „Die Despoten als Revolutionäre“ zeigte.
Politische Modelle und Ausstrahlungen des Risorgimento
GIAN ENRICO RUSCONI (Turin) widmete sich in seinem Beitrag dem Vergleich der Führungsstile Camillo Cavours und Otto von Bismarcks. Beide galten schon den Zeitgenossen nach dem Rochau’schen Neologismus als prototypische „Realpolitiker“ mit spezifischen Verhandlungs- und Entscheidungstechniken und unter Einbezug der öffentlichen Meinung. Dies führte dazu, dass die politische Publizistik bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts dazu tendierte, sowohl bei Cavour als auch bei Bismarck und Napoleon III. einen plebiszitär-diktatorischen „Cäsarismus“ am Werk zu sehen. Nicht nur in zeitgenössischen Veröffentlichungen, sondern bisweilen auch in der historiographischen Debatte, dominieren die Stimmen, die mehr die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede zwischen den beiden Persönlichkeiten herausstreichen. Im Gegensatz zu diesem, so Rusconi, zu einfachen Bild, stehen die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den beiden. Zwar entstanden die beiden Nationen in der Tat durch das Geschick und die diplomatischen Fähigkeiten ihrer beiden führenden Politiker. Ein genauerer Blick auf ihren Führungsstil lasse aber zumindest auf unterschiedliche „zwei Seiten des Cäsarismus“8, wenn nicht auf einen stärker „cäsaristischen Bismarckismus“ und einen dem teilweise entgegengesetzten „Cavourismus“ schließen. Cavour war ganz im Sinne seiner liberalen Überzeugungen ein Anhänger des Parlaments, dessen Machtanspruch er gerade auch gegen die außerparlamentarische demokratische Bewegung verteidigte und aus dem er seine Macht als Ministerpräsident bezog. Bismarck beanspruchte dagegen die Macht der Monarchie explizit gegen das Parlament, das er durch die plebiszitären Kurzschlüsse mit dem „wahren“, königstreuen Volk gerade zu entmachten versuchte. Ferner stellte sich Cavour explizit gegen Diktaturen des garibaldinischen Typs. Sein Führungsstil entsprach als Ministerpräsident damit auch eher dem eines „geführten Parlaments“, einer „parlamentarischen Diktatur“ durch Dominanz unter den Abgeordneten und der Wendung der Wucht der parlamentarischen Zustimmung auch gegen den König. Die enorme Anziehungskraft, die dieser „Führertypus“ auf die deutschen Liberalen ausübte, ist das Spiegelbild ihrer erst 1866 überwundenen Bismarck-Skepsis aufgrund des preußischen Heeres- und Verfassungskonflikts. Bismarcks „Cavourismus“ und Cavours „Bismarckismus“ ergaben sich dagegen aus den Gemeinsamkeiten aufgrund der jeweiligen geopolitischen Interessen und Einschätzungen, die zwischen 1859 und 1861 bereits vor Bismarcks Berufung in unterschiedlich motivierter Feindschaft gegenüber Österreich und entsprechend interessegeleitetem Wohlwollen gegenüber Frankreich mündeten. Die auf den Vortrag Rusconis folgende Diskussion befasste sich daraufhin mit der Frage nach dem Stellenwert der Nation für die beiden Staatsmänner.
Die These, die FEDERICO TROCINI (Turin) anschließend für das Plenum erörterte, befasste sich mit der Wirkung des laboratorio risorgimentale und des modello Cavour auf die nationalliberale Publizistik in Deutschland. Trocini hob dabei die besondere Bedeutung der frühen Reiseliteratur für das verklärt-romantische Italienbild der Deutschen hervor. Italien allgemein und Rom insbesondere wurden von den Reisenden oftmals als pittoreske (Erinnerungs-)Topoi der Geschichte und Kultur idealisiert. Gegen diese – mit Stereotypen aufgeladenen – Beschreibungen verwahrte sich schon 1841 Giuseppe Mazzini. Erst parallel zu den politischen Veränderungen auf der italienischen Halbinsel am Ende der 1850er Jahre lasse sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit Italien in der deutschen Publizistik feststellen. Das Risorgimento sei hier als Labor für nationalliberale Aspirationen gedeutet worden, und auch das von Cavour vertretene politische Modell habe auf Vertreter der deutschen Nationalbewegung, wie zum Beispiel August Ludwig von Rochau und Heinrich von Treitschke, einen wichtigen Einfluss gehabt. Dies sei später in der Polemik gegen die klassische liberale Tradition sowie auch in der realpolitischen Orientierung Bismarcks deutlich geworden.
Um die Beschäftigung mit Cavour für die Teilnehmer thematisch abzurunden, erläuterte ANNA MARIA VOCI (Rom) in ihren Ausführungen die Beziehung zwischen Preußen, Deutschland und dem ersten italienischen Ministerpräsidenten. Dabei galt es insbesondere zwei Aspekte darzustellen: Zum einen die diplomatische Annäherung zwischen Piemont und Preußen und zum anderen ihre spätere historiographische Bewertung. So intensivierte Cavour zwischen 1859 und 1861 die diplomatischen Beziehungen zwischen Piemont-Sardinien und Preußen, in dem er einen „natürlichen Alliierten“ für Italien sah, um dem neuen Staat eine dauerhafte Position innerhalb des Europäischen Konzerts der Mächte zu sichern. Cavour, der wiederholt die Gemeinsamkeiten zwischen Piemont und Preußen unterstrich, unterbreitete dem preußischen Gesandten in Turin Anfang Februar 1860 ein politisch-militärisch Bündnisangebot, das in seiner Zielsetzung sowohl antiösterreichisch als auch antifranzösisch ausgerichtet war. Obgleich diese taktischen Bestrebungen Cavours eine zentrale Rolle bei der italienischen Nationalstaatsgründung gespielt haben, hat er in der deutschen Geschichtsschreibung indessen wenig Beachtung gefunden. Ausgehend von Heinrich von Treitschkes Urteil über Cavour zeichnete Voci im zweiten Teil ihres Beitrags die wenigen damaligen zeitgenössischen wie auch späteren geschichtswissenschaftlichen Beurteilungen bis zur – im Jahre 2001 erschienen – neuesten Cavour-Biographie des Züricher Historikers Peter Stadler nach.
Die Tagung mit ihrem innovativen Gesprächskonzept bot einen eindrucksvollen Einblick in aktuelle Forschungsprojekte und die Möglichkeiten des Vergleichs zwischen dem deutschen und italienischen Nations- und Staatsgründungsprozess. Da allen Themen genügend Zeit zur Diskussion eingeräumt wurde, kam die Pluralität der verschiedenen methodologischen Ansätze deutlich zur Geltung. Für die 22 teilnehmenden Historiker, die aus Deutschland, Italien, Österreich und der Schweiz angereist waren, entsprach die stimulierende internationale Arbeitsatmosphäre in der Villa Vigoni deshalb auch stärker einem wissenschaftlichen Studienkurs. Die gewählte Form des Seminargesprächs gestattete dabei nicht nur den Austausch zwischen den unterschiedlichen historiographischen Traditionen und Forschungslandschaften, sondern auch die intensive Debatte über das Risorgimento, das hier wesentlich stärker in einen europäischen Kontext eingebunden wurde. Weiterführende Erkenntnisse über die kulturellen und politischen Wechselwirkungen innerhalb der verschiedenen europäischen Nationsbildungsprozesse sind durch diesen facettenreichen wissenschaftlichen Austausch innerhalb einer trilateralen Konferenzserie zu erhoffen, die von den drei Organisatoren derzeit konzipiert wird.
Konferenzübersicht:
Einführender Vortrag:
Alberto Mario Banti (Rom): Cultura e Politica. Prospettive di ricerca della „nuova“ storia del Risorgimento
Nationsbildung, Nationalismus und konkurrierende Identitäten:
Siegfried Weichlein (Fribourg): Nationsbildung im Herzen Europas in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Italien, die Schweiz und Deutschland
Christian Jansen (Berlin): „Verspätete Nationen“? Einigungsbestrebungen und Nationsbildung 1848-1890 im deutsch-italienischen Vergleich
Christiane Liermann (Villa Vigoni): Zwischen Annäherung und Entfremdung: Religionen und Nationalstaatsbildung im deutsch-italienischen Vergleich
Andrea Ciampani (Rom): I cattolici e il movimento risorgimentale
Stefano Cavazza (Bologna): Lokale Identitäten in Italien zwischen Risorgimento und Erstem Weltkrieg
Kultur und Mentalität
Anne Lübbers (Heidelberg): Romanticismo e Risorgimento – Der Einfluss der Literatur auf die italienische Einigungsbewegung
Charlotte Tacke (Villa Meleto): Jagd und Nation in Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert
Ulrich Wyrwa (Berlin): Die italienischen Juden und das Risorgimento. Überlegungen zu einer Rekapitulation
Transnationale Beziehungen
Ferdinand N. Göhde (Florenz): Risorgimento und Antirisorgimento als transnationale Bewegungen? Deutsche Soldaten in den bewaffneten Auseinandersetzungen in Italien 1834-1870
Johannes Müller (Köln): Verfassungsgebende Versammlungen 1848/49: Rom und Frankfurt
Thomas Kroll (Jena): Die Rezeption des italienischen Kriegs von 1859 in Österreich und Deutschland
Politische Modelle und Ausstrahlungen des Risorgimento
Gian Enrico Rusconi (Turin): Cesarismo e realpolitik: Cavourismo – Bismarckismo – Bonapartismo
Federico Trocini (Turin): Il “laboratorio italiano” e il “modello Cavour”, secondo Rochau e Treitschke
Anna Maria Voci (Rom): La Germania e Cavour. Diplomazia e storiografia
Anmerkungen:
1 Alberto Mario Banti / Paul Ginsborg, Per una nuova storia del Risorgimento, in: Alberto Mario Banti / Paul Ginsborg (Hrsg.), Storia d’Italia, Annali 22, Il Risorgimento, Turin 2007, S. xxiii-xli; Zur Auseinandersetzung mit Bantis Thesen siehe Gianluca Albergoni, Sulla “Nuova Storia” del Risorgimento: Note per una discussione, in: Società e Storia 120 (2008), S. 349-366; Luca Mannori, Il Risorgimento tra “nuova” e “vecchia” storia: Note in margine ad un libro recente, in: Società e Storia 120 (2008), S. 367-379; sowie die Beiträge von Lucy Riall, Alex Körner, Catherine Brice, David Laven und John Breuilly in der Zeitschrift Nations & Nationalism 15/3 (2009). Zu den neueren Tendenzen in der deutschen Risorgimento-Forschung: Werner Daum / Christian Jansen / Ulrich Wyrwa, Deutsche Geschichtsschreibung über Italien im „langen 19. Jahrhundert” (1796-1915). Tendenzen und Perspektiven der Forschung 1995-2006, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 455-484.
2 Daniel Ziblatt, Structuring the State. The Formation of Italy and Germany and the Puzzle of Federalism, Princeton 2006; und Maiken Umbach, History and Federalism in the Age of Nation-State Formation, in: Maiken Umbach (Hrsg.), German Federalism. Past, Present, Future, Basingstoke 2002, S. 42-69.
3 Für die Forderung nach einer föderalen Lösung durch Vertreter des Adelsliberalismus siehe die Studie von Thomas Kroll, Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento, Tübingen 1999. Ebenso Lucy Riall, Elite Resistance to State Formation: The Case of Italy, in: Mary Fulbrook (Hrsg.), National Histories and European Histories, London 1993, S. 46-68.
4 Julian Wright, The Regionalist Movement in France 1890–1914: Jean Charles-Brun and French Political Thought, Oxford 2003. S. xvi u. S. 286.
5 Siehe dazu Stefano Cavazza, Regionalismus und kulturelle Identität in Italien zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Anfang des 20. Jahrhunderts: Das Beispiel der Romagna und die nationale Lage, in: Acta Ethnographica Hungarica 44 /3-4 (1999), S. 379-387, hier S. 380.
6 Massimo D’Azeglio, I miei ricordi, Bd. I, Florenz 1867, S. 7. “E pur troppo si va ogni giorno più verso il polo opposto: pur troppo s’è fatta l’Italia, ma non si fanno gl’Italiani”.
7 Siehe dazu David Laven, Why Patriots wrote and what Reactionaries read: Reflections on Alberto Banti’s La nazione del Risorgimento, in: Nations & Nationalism 15/3 (2009), S. 419-426, hier insbesondere S. 421.
8 Vgl. Hans-Christof Kraus: Risorgimento zwischen liberalem und faschistischen Erbe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.5.2011, S. N 3; und Paolo Mieli: Bismarck e Cavour. Due volti del cesarismo cesarismo. Analogie tra un leader autoritario e uno liberale, in: Corriere della Sera, 25.1.2011 [http://www.corriere.it/unita-italia-150/11_gennaio_25/mieli_bismarck-cavour_d0503166-2879-11e0-8de5-00144f02aabc.shtml - Zugriff am 20.9.2011].