„Zeit-Geschichte(n)“. Zeitwahrnehmungen und -praktiken (ca. 1400–1700)

„Zeit-Geschichte(n)“. Zeitwahrnehmungen und -praktiken (ca. 1400–1700)

Organisatoren
Stefan Hanß, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.06.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Babette Reicherdt, Universität Kassel

Obgleich ihr Untersuchungsinstrument schlechthin, ist Zeit als Analysekategorie in den Geschichtswissenschaften erst in den letzten Jahren verstärkt problematisiert worden. Der Frühneuzeitforschung ist es gelungen, das Konzept der pluralen Temporalitäten, dem (zeitlichen und sozialen) Nebeneinanderbestehen verschiedener Modi von Zeiterleben und Zeitwissen, produktiv zu machen und hiervon ausgehend die bislang geltenden Meistererzählungen über Epochenkonstruktionen wie der longue durée zu hinterfragen.1

Dem Projekt, die Analysekategorie einer radikalen Historisierung zu unterziehen, sah sich auch der im vergangenen Sommer an der FU Berlin stattfindende und von Thomas Safley (Philadelphia) moderierte Workshop „Zeit-Geschichten“ verpflichtet. Stefan Hanß (Berlin) formulierte in seiner Einführung, ausgehend vom Titel des Bob-Dylan-Songs „The Times They Are A-Changin“, die Programmatik der Veranstaltung, in fünf historischen Arbeitsprojekten, anhand der Stichworte Wissen, Wahrnehmung, Praktiken und Repräsentation, der Frage nachzugehen, wie sich Modalitäten von Zeit in ihren lokalen, situativen und sozialen Kontexten an konkreten Zeitpunkten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit beschreiben lassen. Wie wird Zeit zu diesen Zeiten behandelt und wie lässt sich das Phänomen jeweils operationalisieren, ohne der Gefahr zu erlegen, diese jeweils auf eine Vorgeschichte der Moderne zu reduzieren?

NICOLE M. LYON (Cincinnati) erörterte in ihrem Beitrag Zeitwahrnehmungen im 16. und 17. Jahrhundert anlässlich des Jahreswechsels auf der Grundlage von Predigten und Kalendern. Ihrer leitenden Fragestellung, wie in den Quellen konfessionenübergreifend Charakter und Herkunft von Zeit dargestellt und welcher Ort Gott in diesem Gefüge zugesprochen wurde, näherte sich Lyon über die Funktionsweisen verschiedener Jahresanfänge und der Verknüpfung des Jahres- mit dem Weltende an. Die Entwicklung der Jahresanfangsdatierung über das Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit zeige ein Nebeneinander verschiedener Jahresanfänge und -enden. In Referenz auf Landwehrs Pluritemporalitätenkonzept stellt Lyon heraus, es habe dadurch ein Nebeneinander praktizierter Zeiten gegeben, das über eine rein symbolische Vielheit von Zeitschichten hinausgehe. Darüber hinaus diskutierte Lyon die Ermahnungen zum Umgang mit Zeit in den Kalendern und Predigten, die sie als einen „Unterricht in Zeitwahrnehmung“ auffasste, der das Weltende stets vergegenwärtigte und es gleichsam kalendarisierte.

Definitionen von Zeit und die richtige Umgangsweise mit ihr standen im Mittelpunkt des Papers von BERNHARD SCHIRG (Göttingen/ Berlin) über die Thematisierung von Zeit im Dialog „De opportunitate“ des italienischen Humanisten Mario Equicola. Die Schrift führt mithilfe von nach zeitgenössischem Vorbild gestalteten Dialogpartnern gelehrte Debatten unterschiedlicher Fachkulturen über das Wesen der Zeit auf und diskutiert diese vor allem als Parameter von physikalischer Bewegung. Als diskursiven Angelpunkt weist SCHIRG eine innerhalb der Schrift abgebildete Imprese aus, deren Bildzeichen – ein Falke mit einem Bauteil einer mechanischen Uhr im Schnabel – in seiner Verbalisierung (falcon tempo) eine konkrete Handlungsanweisung ausdrückt. Das Diktum vom Ergreifen der rechten Gelegenheit wird daher als die praktische Möglichkeit formuliert, der Unschärfe zu begegnen, die Zeit eigen ist und mündet in ein moralphilosophisches Paradigma guter Lebensführung.

In einer Re-Lektüre verschiedener Selbstzeugnisse des 15. und 16. Jahrhunderts diskutierte GABRIELE JANCKE (Berlin) die Gebundenheit von Zeitkonstruktionen an Erzählungen über die eigene Person und ihr soziales Umfeld. Der Umgang mit Zeitpraktiken wie die Verwendung der Dimension Vergangenheit werde für das Schreiben des eigenen Lebens dort relevant, wo sich schreibende (und erschriebene) Personen in genealogischen Zusammenhängen verschiedenster Verwandtschaftssysteme verorten. In ihrer Funktion als Wissensspeicher für vorbildhaft gelebtes Leben präsentierten die Selbstzeugnisse Zukunftshorizonte für folgende Generationen. Die Verflechtung dieser beiden Zeitdimensionen erfolge exemplarisch an der eigenen Person. Von hieraus ließen sich die Gebrauchsweisen von Zeit als Teil von Sozialität der schreibenden Personen erschließen. Im Hinblick auf eine Lesart von Selbstzeugnissen als Skripte für ihre jeweilige Zukunft sei es daher lohnenswert, ein größeres Sample von Texten auf Zeitwissen und -praktiken zu untersuchen und bisher vor allem makrohistorisch beschriebene Zeit-Geschichten mit ihnen zu konfrontieren.

Mit Visualisierungen von Zeitlichkeit und Genealogie setzte sich der Vortrag von KRISTINA ODENWELLER (Freiburg) zum Uhrenwappen im Codex des venezianischen Diplomaten Giovan Francesco Capodilista auseinander. Entstanden auf dem Basler Konzil 1434/35, beinhaltet der Codex Illustrationen der zur Familie gehörenden Wappen, die als Kontinuitätsnarrativ der Familiengeschichte wirken und zugleich die Höhepunkte ihrer Genealogie markieren. Das Uhrenwappen mit seiner Inschrift, die der Vergänglichkeit von Lebenszeit gemahnt, sei hier leitend für das im Codex begegnende Zeit-Verständnis. Odenweller diskutierte die Repräsentationsversuche Capodilistas im Kontext der zahlreichen weiteren Illustrationen – einer Reihe von Reiterportraits sowie paarweise abgebildeter, miteinander kommunizierender gelehrter Personen jeweils verschiedener Generationen – und darüber hinaus im Zusammenhang mit der berühmten städtischen Uhr, der astronomischen Uhr im Turm des Palazzo del Capitaniato in Padua. In diesem gleichsam adeligen und gelehrten Umfeld stellt Capodilistas eigene Biographie den genealogischen Höhepunkt dar, der in der Zeit-Logik stets vergegenwärtigter ablaufender Lebenszeit den Versuch darstelle, die Familiengeschichte über markante Ereignisse hinweg zu perpetuieren.

STEFAN HANß (Berlin) fragte in seinem Beitrag nach der Thematisierung von Zeit im Trachtenbuch des Augsburger Patriziers Veit Konrad Schwarz sowie der Bedeutung von Zeitdatierungen und Zeitspannen für die Selbstverortung Veits im Kontext des Verfassens von Selbstzeugnissen. Das Trachtenbuch beinhalte eine Vielzahl von Zeit-Praktiken wie die Geburtsdatierung, Altersangaben und Verweise auf Nativitätsschemata und Instrumente zur Zeitmessung, die in Bezug auf die Darstellung des erzählten Lebens sinn- und ordnungsstiftend wirkten und das eigene Leben in einem makroskopischen Gesamtzusammenhang verorteten. Mit der Auswahl von Zeitpunkten kreiere der Verfasser Zeitspannen, die als sozial anerkannte Lebensphasen intelligibel würden. Die Verarbeitung von Zeitwissen und -praktiken gehöre zu den Techniken, in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen eigene Handlungsspielräume innerhalb sozialer Beziehungen zu verhandeln.

In seinen quellennahen Beiträgen, in denen Visualisierungen eine hohe Präsenz zukam sowie den überwiegend praxeologischen Zugängen zum Gegenstand ist es dem Workshop gelungen, nicht nur die Konstruiertheit von Zeit und Temporalität zu verdeutlichen, sondern das Spektrum des Erkenntnisfeldes auszuloten, zu dem historische Analysen von Zeit Einblicke erweisen können. Zeit ist, so zeigte es der Diskussionsstand, unmittelbar verknüpft mit Wissen um Selbstentwürfe, Beziehungskonzepte und Ideen von „richtiger“ Lebensführung. Zeit ist ein untrennbarer Teil von Wissensordnungen, innerhalb und vermittels derer sich Gesellschaften organisieren.

Konferenzübersicht:

Stefan Hanß (Berlin): Einführung. Zeiten ändern sich

Nicole M. Lyon (Cincinnati): Einen guten Rutsch ins Weltende: Zeitwahrnehmungen anlässlich des neuen Jahres in Predigten und Praktiken (1515–ca. 1700)

Bernhard Schirg (Göttingen): „Was ist Zeit?“ Mario Equicolas „De opportunitate“ (1507) als Dialog unterschiedlicher Fachkulturen

Gabriele Jancke (Berlin): Zeithorizonte: Zugehörigkeit, Gebrauchsvergangenheit und Zukunftsorientierung in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit

Kristina Odenweller (Freiburg): Memento quod cito labitur. Das Uhrenwappen des Capodilista-Codex von 1435

Stefan Hanß (Berlin): Zeit und Selbst im Trachtenbuch des Veit Konrad Schwarz (1541–1561)

Anmerkung:
1 Achim Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 9–40.