Der Studienkurs des Deutschen Studienzentrums in Venedig (DSZV) war 2014 dem Thema „Armut, Krankheit und soziale Not in Venedig“ gewidmet. Ermöglicht wurde der Studienkurs durch eine großzügige Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung. Die wissenschaftliche Leitung lag bei Klaus Bergdolt (Köln) sowie Robert Jütte (Stuttgart). Vom 8. bis zum 13. September behandelten fortgeschrittene Studenten der Fächer Geschichte und Kunstgeschichte Aspekte dieses Themas. Ergänzt wurden die Vorträge durch kleinere Referate bei Exkursionen in der Stadt und der Lagune.
KATRIN SCHULZE-NAUMBURG (München) eröffnete die erste Sektion zu den vulnerablen Gruppen mit ihrem Vortrag über Fremde in Venedig. Im Fokus stand dabei besonders die räumliche Isolation einzelner Gruppen wie Juden, Griechen, Kaufleute oder Pilger. Dauerhaft ansässige Gruppen, wie Juden oder die nach dem Fall Konstantinopels eingewanderten Griechen, erhielten eigene Räume wie das Wohngebiet Gettore im Stadtteil Cannaregio für die Juden oder die Kirche San Giorgio dei Greci für die griechischen Migranten. Für Reisende, wie Kaufleute oder Pilger, gab es nach Nationen zugeteilte Quartiere, so zum Beispiel den Fondaco dei Tedeschi am Canal Grande.
Eine weitere Gruppe, die armen Frauen, stellte NINA SCHEUSS (Wuppertal) vor. Dabei konzentrierte sie sich besonders auf Prostituierte und Domestiken. Ähnlich den Fremden kam es auch bei der Gruppe der Prostituierten zu einer Separierung. Ihnen wurde ein Areal nahe der Rialto-Brücke um die Ponte delle Tette zugewiesen. ‚Gefallene Mädchen‘, die Läuterung anstrebten, fanden ab den 1530er-Jahren Aufnahme im Convento delle Convertite. Für die Gruppe der Domestiken skizzierte sie die Lebensphase vor der Heirat. 90 Prozent dieser Frauen lebten für diese fünf bis sieben Jahre im Arbeitshaushalt und bildeten untereinander Netzwerke. Diese sowie die mögliche Patronage durch die Arbeitgeberfamilien bildeten ihr Sozialkapital.
Der Versorgung von armen Kindern, besonders Waisen und Findelkindern, widmete sich der Vortrag von LISA KLOCKE (Mainz). Diese übernahmen in der Frühen Neuzeit in Venedig vor allem die großen Ospedaletti. Diese Spitäler nahmen neben Kranken auch Waisen- und Findelkinder auf und ließen den Mädchen bei entsprechendem Talent eine musikalische Ausbildung in Gesang oder am Instrument zukommen. Die Einnahmen aus Auftritten der Mädchen wurden für deren Ausbildung und Mitgift oder für den Unterhalt der Spitäler verwandt. Die Ospedaletti waren in der Regel private Gründungen. Sie finanzierten sich neben den Konzerteinnahmen zumeist durch Spenden.
Mit einem Vortrag über Geisteskrankheiten eröffnete MANUEL FÖRG (München) die Sektion Krankheiten und Seuchen. Neben Menschen mit ansteckenden Krankheiten separierte man auch die als gefährlich eingestuften Geisteskranken. Dazu diente seit dem 16. Jahrhundert die Fusta, eine kleine Galeere, die im Gewässer vor San Marco lag. Dort wurden männliche Personen untergebracht, die man für geisteskrank hielt. Auf Kosten der Familien erhielten Geisteskranke beiderlei Geschlechts eine bessere Unterbringung auf der Insel San Servolo. Ausschließlich Frauen wiederum wurden auf der Insel San Clemente untergebracht. Stand bei der Fusta die Ausbildung zu Ruderern im Vordergrund, dienten die beiden anderen Einrichtungen der reinen Verwahrung. Diese wurde erst im 20. Jahrhundert langsam durch Therapien wie Elektroschocks abgelöst.
FRIEDERIKE PFISTER (Heidelberg) konzentrierte sich in ihrem Beitrag zur Pest vor allem auf den Umgang der Obrigkeit mit den seit 1349 in Venedig immer wieder auftretenden Pestwellen. Auch hier wurde eine Isolation der Kranken angestrebt. Venedigs besondere Lage ermöglichte die Unterbringung auf Inseln. Vorgestellt wurden die zwei ‚Pestinseln‘ Lazzaretto nuovo (Quarantänestation für Waren und Menschen) sowie Lazzaretto vecchio (zur Behandlung Erkrankter). Des Weiteren versuchte der Senat die durch Tod und Flucht stark reduzierten Bevölkerungszahlen nach solchen Krankheitswellen mittels Vergünstigungen für Zuwanderer wieder anzuheben.
Ergänzt wurden dieser Vortrag durch MARIA ARESIN (Frankfurt am Main). In ihren Ausführungen zur Pest in der Bildenden Kunst ging sie besonders auf die Darstellungen von Pestheiligen ein. So stellen die Pfeile auf den Bildnissen des Heiligen Sebastian symbolisch die Übertragung der Pest durch Miasmen dar. Der Heilige Rochus andererseits wird mit Pestbeulen in der Leistengegend charakterisiert. Venedig ist auch Ort zweier Votivkirchen. Eine davon, die Santa Maria della Salute, war Ausdruck des Danks für das Ende der Pest im Jahr 1630. Noch heute wird mit einer jährlichen Prozession am 21. November die Madonna della Salute geehrt.
Mit ihren Betrag zur Lepra stellte ANDREA PETRUESCU (Wien) die älteste der hier behandelten Seuchen vor. Bereits 1179 wurde auf dem Dritten Laterankonzil die Unterbringung der an Lepra Erkrankten in Kolonien mit eigenen Kirchen beschlossen. Die Diagnose erfolgte zunächst durch den Priester; erst später gab es sogenannte ‚Schauen‘. 1224 eröffnete in Venedig die Chiesa dei Mendicanti zur Unterbringung der Leprakranken. Die Behandlung der Krankheit erfolgte vor allem mit dem Universalheilmittel Theriak, für dessen Herstellung Venedig eines der Zentren war.
Die Sektion schloss ANNE PHIELER (Stuttgart) mit einem Vortrag über die Syphilis. Diese trat Ende des 15. Jahrhundert erstmals im Heer Karls V. in Neapel auf und erreichte nach wenigen Monaten Venedig. Der Vortrag konzentrierte sich auf die humoralpathologische Diagnostik sowie die Behandlung. Die zwei wichtigsten Therapiekonzepte gegen die zeitgenössisch vor allem als ‚Franzosenkrankheit‘ bezeichnete Erkrankung waren Quecksilberpräparate für die innere und äußere Anwendung sowie das Guajak, ein südamerikanisches Holz, welches abgekocht und als Sud getrunken wurde. Vor allem die Therapie mit dem teuren ‚Pockholz‘ erfolgte in Venedig – teilweise unter obrigkeitlichem Zwang – konzentriert im Ospedale degli Incurabili.
Eine wichtige Säule in der Versorgung von Armen und Kranken stellten in Venedig die Scuole grandi e piccole dar, die ALEXANDER RÖSTEL (London) in der Sektion zu den Institutionen näher betrachtete. Der Begriff der Scuola meint im Italienischen eine Bruderschaft. In Venedig gab es vier große sowie rund 900 kleine Einrichtungen dieser Art, die sich häufig Bettelorden anschlossen. Ihren Ursprung hatten die Bruderschaften in der Flagellantenbewegung. Die großen Bruderschaften fungierten zunehmend als Sozialfürsorgeeinrichtungen für ihre Mitglieder und später auch für Außenstehende. Sie übernahmen Krankenfürsorge, Totengebete und Leichendienst oder unterhielten Häuser für Arme und Kranke.
Eine weitere Einrichtung der städtischen Armenfürsorge waren die Alberghi dei Poveri, die LOTTE KOSTHORST (Mainz) vorstellte. Wie in Europa in der Frühen Neuzeit häufig anzutreffen, nahm man auch in Venedig eine Unterteilung in würdige und unwürdige Arme vor. Für die würdigen Armen (Witwen, Waisen, Alte, Versehrte, Pilger oder Bettelmönche) gab es um 1500 rund 40 kleinere Spitäler oder Hospize, die meist 12 bis 15 Plätze umfassten. Dazu kamen noch 300 bis 400 Armenwohnungen, für die eine symbolische oder sogar keine Miete zu zahlen war.
HANNA PAULA GOYER (Münster) widmete sich der venezianischen Medizinal- und Seuchenpolicey. In der Frühen Neuzeit wurde Krankheit zunehmend ein Politikum und als öffentliche Aufgabe begriffen. Besonders die Seuchen beschleunigten die Herausbildung einer Medizinal- und Seuchenpolicey in Venedig. Deren Aufgabe bestand in der Überwachung des medizinischen Personals, der Lazarette und der Prostitution. Weiter kontrollierte sie die Märkte, Schlachthäuser und die Gastronomie. Anonyme Anzeigen an den Magistrato alla Sanità waren über steinerne Briefkästen möglich, von denen es in jedem Sestiere mindestens einen gab.
Eine andere venezianische Einrichtung beleuchtete JULIAN VOGEL (Zürich). Das Gefängnis Venedigs war lange Zeit im Erdgeschoss des Dogenpalasts untergebracht. 1602 wurde – lediglich durch einen Kanal getrennt und durch die legendäre Seufzerbrücke miteinander verbunden – ein Neubau, der Prigioni nuove, in Betrieb genommen. Neben der Inhaftierung im Gefängnis gab es seit dem 16. Jahrhundert auch die Galeerenstrafe. Hier wurden die Delinquenten zusammen mit den Geisteskranken auf der Fusta zu Ruderern ausgebildet. Todesurteile wurden auf der Piazza San Marco vollstreckt. Die letzte Hinrichtung in Venedig erfolgte 1804.
Die abschließende Sektion widmete sich den Armen und Kranken. Die rechtlichen Regelungen des venezianischen Senats zur Armenfürsorge standen im Zentrum des Beitrags von FRANZISCA SCHREINER (Essen). Armut in der Frühen Neuzeit war größtenteils ein strukturelles Problem, da die Wirtschaft bis zur Industrialisierung die Bevölkerung nicht ausreichend mit Arbeit versorgen konnte. Die Finanzierung der Fürsorgemaßnahmen erfolgte über eine Armensteuer sowie in Kirchen aufgestellte Armenkästen. Die Stadt vergab außerdem Bettellizenzen an ‚eigene‘ Arme. Stadtfremde Bettler wurden hingegen der Stadt verwiesen; galt doch – so noch in Teilen Europas bis in die 1970er-Jahre – das Heimatprinzip.
Auch die Gruppe der Armen fand ihren Eingang in zeitgenössische Darstellungen, wie STEFANIE MEISGEIER (Berlin) näher ausführte. Anders als Reiche wurden Arme meist abseits vom Bildzentrum positioniert. Zu erkennen sind sie in den Abbildungen meist durch dunkle, einfache Kleidung und entsprechenden Gesichtsausdruck. Die Bedürftigkeit wurde in der Regel durch Darstellung karitativer Motive charakterisiert. Selten hingegen ist die Darstellung ‚der Armen‘ als aggressive, bedrohende Masse.
Eine Möglichkeit zur Geldbeschaffung bei akuter Not, die SEBASTIAN KALLA (Freiburg) vorstellte, waren Pfandleihen und Monte di Pietà. In Venedig lag das Geschäft des Geldverleihs lange in den Händen der nicht durch das kanonische Recht gebundenen Juden. Sie vergaben Kredite gegen Pfand und zu einem Zinssatz von 12 bis 50 Prozent. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde in Perugia die erste Monte di Pietà durch Wanderprediger der Franziskaner gegründet. Da sich der Betrieb über die anfangs zinslosen Kredite wirtschaftlich nicht halten ließ, wurden auch hier – und damit von christlicher Seite – Zinsen erhoben. In Venedig gab es 1519 einen ersten Versuch, solche Monte di Pietà zu gründen.
Die Vorträge und die Führungen griffen thematisch immer wieder ineinander und konnten so ein umfassendes Bild zum Thema vermitteln. Die Besichtigungen von Orten, die oft abseits der üblichen Touristenpfade lagen, hinterließen bei den Teilnehmern bleibenden Eindruck.
Konferenzübersicht:
Sektion 1: Vulnerable Gruppen
Katrin Schulze-Naumburg (München), Fremde in Venedig
Nina Scheuss (Wuppertal), Arme Frauen
Lisa Klocke (Mainz), Arme Kinder
Sektion 2: Krankheiten und Seuchen
Manuel Förg (München), Geisteskrankheiten
Maria Aresin (Frankfurt am Main), Pest in der bildenden Kunst
Friederike Pfister (Heidelberg), Pest
Andrea Petruescu (Wien), Lepra
Anne Phieler (Stuttgart), Syphilis
Sektion 3: Institutionen
Alexander Röstel (London), Scuole grandi e piccolo
Lotte Kosthorst (Mainz), Alberghi dei Poveri
Hanna Paula Goyer (Münster), Medizinal- und Seuchenpolizei
Julian Vogel (Zürich), Gefängnisse
Sektion 4: Arme und Kranke
Franzisca Schreiner (Essen), Armengesetze und Bettelverbote
Sebastian Kalla (Freiburg), Pfandleihen und Monti di Pietà
Stefanie Meisgeier (Berlin), Arme und Reiche in der venezianischen Malerei