Vom 12. bis zum 13. Mai 2016 fand an der Universität Łódź der Workshop “Politicised Medicine” des „Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik der Medizin in Polen und Deutschland“1 statt. Auf Einladung von Florian Steger (Halle an der Saale) und Andrzej M. Kaniowski (Łódź) kamen Wissenschaftler(innen) aus Polen und Deutschland zusammen, um über Fragen politisierter Medizin in totalitären und demokratischen Staaten zu sprechen. Ausgangspunkt war der jüngst in die Diskussion eingebrachte Vorschlag, politisierte Medizin als eine Medizin zu verstehen, deren Akteur(inn)en das politische System selbst durch ihre Normen und ihr alltägliches Handeln mitprägten. Vor diesem Hintergrund wurde über die Implementierung politischer Ziele und Werte in der Medizin durch das medizinisch-pflegerische Personal selbst diskutiert.
In seinem einführenden Vortrag definierte PAWEŁ ŁUKÓW (Warschau) den Begriff der politisierten Medizin als die Nutzung der Medizin, um Macht zu erreichen. Dies könne aus moralischen, religiösen, wirtschaftlichen, unparteiischen oder egoistischen Motivationen heraus geschehen. Łuków stellte die Hypothese auf, dass Medizin schon immer dafür genutzt worden sei, Machtkonstellationen zu ändern oder aufrechtzuerhalten. Nur sei dies in totalitären Regimen im Lauf der letzten einhundert Jahre in größeren Ausmaßen als je zuvor geschehen. Demokratische Staaten seien eher in der Lage, die daraus resultierende Verantwortung in einem angemessenen rechtlichen Rahmen umzusetzen. Als Beispiele führte Łuków den Umgang mit der Tuskegee-Syphilis-Studie in den USA sowie die Idee einer „schleichenden Schizophrenie“ in der Sowjetunion an.
Die politisierte von instrumentalisierter Medizin zu unterscheiden war der Gegenstand des Vortrags von GIOVANNI RUBEIS (Halle an der Saale). Für beide Begriffe gäbe es keine klar umrissenen theoretischen Konzepte. Instrumentalisierung bedeute, etwas zweckzuentfremden, um ein nicht darin enthaltenes Ziel zu verwirklichen. Instrumentalisierte Medizin sei die missbräuchliche Verwendung von Medizin für nicht-medizinische Zielsetzungen. Politisierte Medizin wiederum betone Akteure, die innerhalb des Gesundheitssystems tätig seien. Der Missbrauch geschehe durch Fachkräfte, die eine Nutzung von Medizin für nicht-medizinische Zwecke beziehungsweise politische Prinzipien unterstützten. Demnach variiere politisierte Medizin je nach Kontext.
Am Beispiel des Films „Trzecia część nocy“ (“The Third Part of the Night“) von Andrzej Żuławski (1940–2016) diskutierte ANDRZEJ KANIOWSKI (Łódź) die Rolle des Arztes Rudolf Weigel (1883–1975). Weigel entwickelte im Zweiten Weltkrieg in Lwiw (Lemberg) einen Impfstoff gegen Fleckfieber (Typhus). Der Impfstoff wurde mit Hilfe von Läusen gewonnen. Um die Läuse zu ernähren, wurden Menschen eingesetzt. Diese „Ernährer“ erhielten Ausweispapiere und konnten vor dem NS-Terror gerettet werden. Kaniowski diskutierte die zwiespältige Wahrnehmung Weigels: Einerseits sei er von der internationalen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem geehrt worden. Andererseits wurde er der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten beschuldigt, da sein Fleckfieberimpstoff im Konzentrationslager Buchenwald an Häftlingen erprobt worden und den Nationalsozialisten zugutegekommen sei. Als Arzt hätte Weigel aber keine Entscheidung treffen können, wer den Impfstoff erhalten soll und wer nicht.
MAXIMILIAN SCHOCHOW (Halle an der Saale) ging in seinem Vortrag der Frage nach, welche Folgen die Zusammenarbeit von Fachärzt(inn)en für Dermatologie und Venerologie mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatten. Die vorgestellten Beispiele entstammten einem gemeinsam mit Florian Steger durchgeführten Forschungsprojekt zu geschlossenen Venerologischen Stationen in der DDR. Es konnte gezeigt werden, dass Ärzte als Inoffizielle Mitarbeiter(innen) (IM) nicht nur über ihre Kolleg(inn)en berichteten. Vielmehr gibt es auch Beispiele dafür, dass Ärzte wissentlich gegen ihre ärztliche Schweigepflicht verstießen und als IM Sach- und Stimmungsberichte an das MfS lieferten. Diese Informationen nutzte das MfS gezielt. In wenigstens einem Fall war ein Arzt an der Planung sogenannter Operativer Vorgänge gegen Patient(inn)en beteiligt.
Den zweiten Tag des Workshops eröffnete CAROLIN WIETHOFF (Halle an der Saale) mit einem Projektbericht. In dem von Florian Steger geleiteten Projekt werden die Folgen einer Anti-D-Immunprophylaxe mit verunreinigten Seren untersucht. 1978/79 waren in der DDR knapp 6.800 Frauen nach der Entbindung mit einem Präparat behandelt worden. Dieses Präparat stammte nachweislich von Spender(inne)n, die mit Hepatitis C (nonA-nonB-Hepatitis) infiziert waren. Wiethoff zeigte, dass die Frauen nicht aufgeklärt wurden. Teilweise wären sie ohne Begründung auf Isolierstationen untergebracht worden. Der verantwortliche Arzt wurde schließlich zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und verlor seine Approbation.
Anschließend diskutierte JAKUB ZAWIŁA-NIEDŹWIECKI (Warschau) zwei polnische Gesetze. 1989 wurden alle Todesurteile in Gefängnisstrafen von 25 Jahren umgewandelt. 2013 wurde das Gesetz zur Behandlung von psychisch kranken Menschen verabschiedet, die eine Gefahr für andere Personen darstellten. Mit dem Gesetz von 2013 reagierte man auf die bevorstehende Freilassung der ehemaligen Todeskandidat(inn)en. Im Gegensatz zur deutschen Sicherungsverwahrung würde die polnische Gesetzgebung eine medizinische und keine juristische Lösung des Problems bieten. Es stelle sich die Frage, inwiefern das Gesetz künftig auch auf andere Personenkreise wie Oppositionelle angewendet werde.
ANJA WERNER (Halle an der Saale) sprach über den Schutz von Patient(inn)en am Beispiel der Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR zwischen 1983 und 1990. Das gleichnamige Projekt, das von FLORIAN STEGER geleitet wurde, lieferte dazu die Grundlage. Im Fall von zwei klinischen Prüfungen des synthetischen Wachstumshormons Saizen konnten Elterninformationsbögen und unterschriebene Einwilligungserklärungen ausgewertet werden. Im Fall der klinischen Prüfungen der sogenannten „Abtreibungspille“ Mifepriston (RU-486) für die Weltgesundheitsbehörde (World Health Organization, WHO) wiederum wurden Unregelmäßigkeiten in der ethischen Bewertung der klinischen Prüfungen gefunden. Als Resultat konnte festgestellt werden, dass es zwar möglich war, gesetzliche Vorgaben in der DDR zu umgehen. Es konnten aber keine systematischen Normverstöße zum Schaden der Proband(inn)en festgestellt werden.
Abschließend diskutierte JOANNA MIKSA (Łódź) ein Buch des polnischen Journalisten Maciej Zaremba Bielawski (geb. 1951) zu Zwangssterilisationen in Schweden zwischen 1935 und 1976. Das Buch liegt bisher in schwedischer (1999) und polnischer (2011) Sprache vor. Nach Zaremba Bielawski sei bei vielen der zwangssterilisierten schwedischen Frauen zuvor eine psychische Krankheit diagnostiziert worden. Zaremba Bielawski stellt die These auf, dass in Ländern mit einer stark staatlich gelenkten Sozialpolitik die Sexualität von Frauen häufig durch Zwangssterilisationen reguliert worden sei. Auch in weitgehend protestantisch geprägten Ländern wären Zwangssterilisationen eher möglich gewesen als in katholischen Ländern wie Frankreich.
Während des Workshops “Politicised Medicine” wurde einerseits deutlich, dass die Rechte der Patient(inn)en – beispielsweise Schweigepflicht, körperliche Unversehrtheit – weder in den geschlossenen Venerologischen Stationen der DDR noch bei der Verwendung von HCV-kontaminierten Präparaten im Rahmen der Anti-D-Immunprophylaxe gewahrt wurden. Die Akteure verstießen nicht nur gegen geltendes Recht, sondern etablierten jenseits davon Vorgänge in deren Folge Patient(inn)en geschädigt wurden (Operative Vorgänge, Isolation). Andererseits wurde offensichtlich, dass beispielsweise die Arzneimittelstudien in der DDR oder die Zwangssterilisationen in Schweden entsprechend der gesetzlichen Rahmenbedingungen durchgeführt wurden. Die während des Workshops präsentierten Beispiele gilt es weiter zu erforschen und um internationale Vergleiche zu erweitern.
Konferenzübersicht:
Marek Gensler (Łódź): Begrüßung
Paweł Łuków (Warschau): Politicised Medicine – Political Bioethics
Giovanni Rubeis (Halle an der Saale): Instrumentalised Medicine – Politicised Medicine. An Attempt at Clarification
Andrzej Kaniowski (Łódź): Lebensrettende Läuse und Rudolf Weigels Institut für Fleckfieber und Virusforschung. Über Anständigkeit im Totalitarismus
Maximilian Schochow (Halle an der Saale): Closed Venerology Wards and the Ministry for State Security of the GDR
Carolin Wiethoff (Halle an der Saale): Medicine and Politics in the GDR: Causes and Consequences of Contaminated Anti-D-Immunoprophylaxis in 1978
Jakub Zawiła-Niedźwiecki (Warschau): ‘Beasts Law’ in Poland – A Case of Medical Solution to a Political Problem
Anja Werner (Halle an der Saale): Clinical Trials of Western Pharmaceutical Companies in the GDR: The Role and Realization of Patients’ Rights
Joanna Miksa (Łódź): Can a Democratic State Be Oppressive to the Patient? Reflexions on the Swedish Eugenics Policy in the 20th Century
Anmerkung:
1 Vgl. <http://blogs.urz.uni-halle.de/medizinethik/> (07.08.2016).