”Alles, was mich umgibt, ist würdig, ein großes respektables Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines Gebieters, sondern eines Volks.”1 Mit diesen Worten beschrieb Johann Wolfang von Goethe bei seiner Italienreise 1786 Venedig. Von der sagenhaften Stadtgründung 421 über Goethe bis zum modernen Massentourismus prägt das Mythische die Geschichte und Kultur der Lagunenstadt. Diesen Mythos Venedigs thematisierte der siebte Italientag der Universität Kassel mit fünf anregenden Vorträgen, in denen Wissenschaftler:innen die Thematik fach- und epochenübergreifend darstellten.
INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel) eröffnete die Veranstaltung mit einer kurzen Einführung in das Thema und einem Überblick über die bisherigen Fragestellungen des jährlich stattfindenden interdisziplinären Italientags der Universität Kassel. Gemeinsam mit Martina Sitt, Jan-Henrik Witthaus und Nikola Roßbach übernahm sie anschließend auch die Moderation. Als Nächste fokussierte die Historikerin IRMGARD FEES (München) den Aufstieg Venedigs zu einer der größten und mächtigsten Städte des Mittelalters. Dieser Erfolg sei ohne römische Vorläufer und wegen der Notwendigkeit einer Bebauung auf sumpfigem Grund keineswegs selbstverständlich gewesen. Fees führte ihn auf fünf Faktoren zurück: Erstens boten die Lagunen reiche Fischbestände und gute Voraussetzungen für die Gewinnung von Salz, einem wichtigen Konservierungsmittel und wertvollen Handelsgut in Oberitalien. Venedig konnte damit ein Monopol aufbauen und seine wirtschaftliche Grundlage sichern. Die geographische Lage zwischen dem Karolingerreich und Byzanz ermöglichte zweitens eine eigenständige Entwicklung und den Zugang zu Handelsräumen im Osten und Westen. So erhielt Venedig 1084 außer dem Handelsrecht im ganzen Römischen Reich auch das Stapelrecht, wodurch es nach Fees eine Schlüsselposition im Ost-West-Handel erlangte. Die Verfassung der Stadt und die Zusammensetzung des kaufmännisch tätigen Adels haben drittens sichergestellt, dass die politischen Entscheidungsträger über praktische Erfahrung verfügten, dass Macht eingeschränkt und aufgeteilt wurde und sich keine Dynastie herausbildete. Zumindest bis zur Serrata am Ende des 13. Jahrhunderts habe eine hohe soziale Mobilität die venezianischen Eliten geprägt. Als vierten Faktor hob Fees die nur nicht für den Dogen und die Prokuratoren von Sankt Markus geltende zeitliche Begrenzung aller Ämter hervor, deren Vererbung ausgeschlossen war, um die Ausbildung dynastischer Strukturen zu verhindern und den Amtscharakter zu gewährleisten. Die Bevölkerung Venedigs habe fünftens bereits im Hochmittelalter in allen sozialen Schichten über ausgeprägte Lese- und Schreibkenntnisse verfügt, die Fernhandel und Aufstieg der Stadt begünstigten. Abschließend resümierte Fees, dass kein einzelner dieser Faktoren allein, sondern nur deren Zusammenwirken den Erfolg der Serenissima ermöglichte.
Der Kunsthistoriker HANS AURENHAMMER (Frankfurt am Main) referierte über die vielschichtige Beziehung zwischen dem Architekten Andrea Palladio und der Stadt Venedig. Einführend wies er darauf hin, dass Venedig bereits im Mittelalter größtenteils bebaut gewesen sei und eine feste Bauordnung zu einem homogen wirkenden Erscheinungsbild führte. Viele der innovativen Vorschläge Andrea Palladios haben nach Aurenhammer nicht in diese konstante Bauweise gepasst, sodass Palladio trotz seiner guten Beziehung zu den einflussreichen Brüdern Daniele und Marcantoni Barbaro von wichtigen staatlichen Aufträgen ausgeschlossen blieb. So wurde 1554 Palladios Entwurf für den Neubau der Rialtobrücke als Drei-Bogen-Konstruktion mit verschiedenen antiken Elementen und Aufbauten abgelehnt. Auch der Vorschlag für einen kompletten Neubau des Dogenpalastes, den Palladio nach zwei Bränden und Renovierungsarbeiten in der Sala delle Quattro Porte 1577 erstellte, wurde zurückgewiesen. Die firmitas Venedigs sei dem Patriziat wichtiger gewesen. Während Palladio in Vicenza eindrucksvolle Stadtpaläste wie den Palazzo Thiene errichtete, konnte er für venezianische Adelige nur Landvillen wie die Villa Barbaro verwirklichen. Aurenhammer führte dies auf den geringen Bedarf an neuen Stadtpalästen ebenso zurück wie auf die strengen Bauverordnungen und den Wunsch der Eliten, das homogen wirkende Stadtbild und damit ihr Selbstverständnis als gleichwertige Mitglieder der Oberschicht nicht zu gefährden. Nur bei den Sakralbauten konnte sich Palladio Aurenhammer zufolge als wichtigster Architekt durchsetzen. So prägt die Votivkirche Il Redentore, deren Errichtung der Senat 1576 beschloss, nachdem ein großer Teil der venezianischen Bevölkerung der Pest zum Opfer gefallen war, die Silhouette der südlichen Peripherie bis heute. Auf diese Weise gelang es Palladio trotz seiner komplizierten Beziehung zur Serenissima, den Mythos punktuell zu durchbrechen und neue Akzente im Stadtbild setzen.
In Ergänzung seiner Vorredner:innen untersuchte der Literaturwissenschaftler ROBERT FAJEN (Halle-Wittenberg) genau jene Gesellschaftsgruppe, die als Geld- und Auftraggeber so entscheidend war – die Patrizi Veneti. Die Ausführungen von Fees aufgreifend, betrachtete er die Serenissima als Adelsrepublik, die spätestens seit der Serrata des Maggior Consiglio im Jahre 1297 von den Patriziern geprägt wurde. Der sich aus Kaufleuten und Militärs generierende Stadtadel hatte die Stadt ökonomisch wie politisch fest im Griff – und das hoch exklusiv, denn er setzte sich aus den (ausschließlich männlichen) Mitgliedern des Maggior Consiglio zusammen, die ihre Mitgliedschaft ab dem 25. Lebensjahr durch Herkunft ererbten. Nur die Zugehörigkeit zu dieser Elite, welche durch die Avogaria de Comun verwaltet und durch einen Eintrag in den Libri d’oro bestätigt wurde, ermöglichte den Zugang zu höheren Ämtern und zum Cursus honorum. Die Patrizier, die bürgerliche Werte wie Ehre, Weisheit und Redekunst vertraten, fungierten als Investoren und Unterstützer von Bau-, Wirtschafts- und Kulturprojekten (etwa der zahlreichen Theater- und Opernhäuser). Sie konstruierten ihren Mythos als Stand bis zur Krise und zum Untergang am Ende des 18. Jahrhunderts; sie sahen sich als Erben des römischen Patriziats und der sagenumwobenen Stadtgründung im Jahr 421 und betonten ihre Einheit als gleichwertige Nobiluomini, die sich ohne Rangunterschiede mit dem Staat und seinen politischen Organen identifizierten. Konstruktive Praktiken waren die Betonung der eigenen politischen und militärischen Vergangenheit sowie die Selbstbezeichnung als famiglie apostoliche. In der Diskussion konnte Fajen nochmals hervorheben, dass gerade diese Differenz zwischen Einheitsmythos und finanzieller, politischer sowie kultureller Realität Venedig zum permanenten Pulverfass machte. Letztlich zerrissen diese Spannungen den Adel, so dass mit der Selbstauflösung des Maggior Consiglio im Jahre 1797 eine neue Zeit anbrach.
Nach der Pause erweiterte REMBERT EUFE (München) dieses Bild um einen sprachwissenschaftlichen Blick auf den Mythos des Venezianischen. Nach grundsätzlichen Ausführungen zur Unterscheidung von Sprache und Dialekt ging er ausführlich auf das Venezianische (mehr als ein Dialekt, weniger als eine Sprache) ein, das vom 13. Jahrhundert schriftlich belegt und ein Jahrhundert später in breiter Verwendung gewesen sei. Nichtsdestotrotz setzte sich (auch durch den Einfluss des venezianischen Schriftstellers Pietro Bembo) schon ab dem späten 15. Jahrhundert eine Toskanisierung der Schriftsprache durch, wohingegen Dichtung und Sprachstolz in Venedig an das Mündliche gebunden waren. Als Beispiel nannte Eufe die politische Sprache des Patriziats. Bezugnehmend auf seine Dissertation2 setzte er im Folgenden einen Fokus auf die besondere Sprachsituation in der Verwaltung des venezianischen Kretas. Im systematischen Vergleich von Verwaltungsdokumenten aus den Jahren 1472 und 1567 konnte er aufzeigen, dass die eindeutige norditalienisch-venezianische und lateinische Prägung gegen 1567 deutlich nachgelassen hatte und sich zu diesem Zeitpunkt auch keine Hinweise mehr auf die Ausrufungspraxis finden, die 1472 noch dazu gedient hatte, die Mehrsprachigkeit (in latino et greco sermone) zu überbrücken.3 Damit sei die Sprache als ethnisches Kriterium hinter der Religionszugehörigkeit zurückgetreten. Im Gegensatz zur anfänglichen Bedeutung der Mehrsprachigkeit sei die Toskanisierung der Verwaltungssprache ein Anzeichen für die funktionierende Verwaltungspraxis auf Kreta.
Den gewaltigen Bogen in die heutige Zeit schloss der Vortrag von MARITA LIEBERMANN (Eichstätt-Ingolstadt/Venedig) über den Massentourismus in Venedig. Als Tourismusort par excellence hat der Mythos des Sehnsuchtsortes eine lange (literarische) Tradition. Dabei werde die Diskrepanz zwischen der Ökonomisierung und den Folgen des Tourismus für die Einwohner:innen der Lagunenstadt immer größer. Paradigmenwechsel fänden von beiden Seiten kaum statt. Liebermann plädierte für die Bedeutung einer inter- und transdisziplinären Tourismuswissenschaft, die den Massentourismus als hochkomplexes Kulturphänomen analysiere und so zu einer neuen Bewusstseinsbildung beitrage. Mit Referenz auf Culler4 betrachtete sie den die Gesellschaft umfassend prägenden touristischen Code als moralischen Imperativ darüber, was bedeutsam sei und was am Urlaubsort gesehen werden müsse. Der Effekt eines gesellschaftlichen Anspruchs auf Urlaub sei in Verbindung mit billigen Reisemöglichkeiten ein Overtourism. So enttäusche der Tourismus seine eigenen Versprechen von Freiheit und Authentizität, die wiederum im Spannungsfeld zwischen Markierungszwang und Verlust zu verorten seien. Daraus ergäben sich die negative Konnotation von Tourismus, ein Tourismus-Bashing wie auch der performative Widerspruch, dass sich Tourist:innen gegenseitig ablehnten. Die Chance der Kulturwissenschaften bestünde darin, mittels wissenschaftlicher Untersuchungen seitens der Geschichte, Kunst und Literatur den Massentourismus sowie die Rolle der Kulturschaffenden zu reflektieren. Ziel sei nicht ein Verzicht auf ökonomischen Tourismus oder dessen Verteufelung, sondern eine Neuausrichtung. Ob die Stadt Venedig die Flexibilität besitzt, auf den selbstgeschaffenen Mythos der global einmaligen Stadt, die zum Pflichtprogramm gehört, reagieren zu können, und welchen Beitrag die Wissenschaft hierzu liefern kann, blieb in der nachfolgenden Diskussion strittig. Nichtsdestotrotz schloss Liebermann mit den Worten: „Ich bin radikal optimistisch!“
Insgesamt erreichte der sehr gelungene siebte Italientag der Universität Kassel, nicht zuletzt durch sein digitales Format, eine große internationale Strahlkraft. Daraus ergaben sich spannende Einblicke und angeregte Diskussionen. Vom Frühmittelalter bis in die heutige Zeit untersuchte er den Mythos oder vielmehr die Mythen, welche die Stadt Venedig ad urbe condita begleiteten. Die Vorträge gaben einen breiten Einblick in die aktuelle Forschung zur Geschichte, Sprache und Architektur Venedigs und zeigten, unterbrochen von intensiven Diskussionen, den Erfindungsreichtum in der Lagunenstadt, deren Einwohner:innen trotz zahlreicher Widrigkeiten den Aufstieg zur mittelalterlichen Metropole, zur Handelsmacht und zur Stadt der Künstler und Denker schafften, ehe sich schließlich eines der bedeutendsten Tourismusziele der Welt herausentwickelte. Der selbstgeschaffene Mythos stellt die Stadt heute vor neue Probleme, zu deren nachhaltiger Lösung innovative Forschungsperspektiven sowie eine interdisziplinär und kultursemiotisch ausgerichtete Tourismuswissenschaft beitragen können.
Konferenzübersicht:
Ingrid Baumgärtner (Kassel): Begrüßung und Einführung, Moderation
Irmgard Fees (München): Venedig – der Aufstieg der Stadt zu einer mittelalterlichen Metropole
Martina Sitt (Kassel): Moderation
Hans Aurenhammer (Frankfurt am Main): Andrea Palladio und Venedig: Momente einer schwierigen Beziehung
Jan-Henrik Witthaus (Kassel): Moderation
Robert Fajen (Halle-Wittenberg): Die aristokratische Stadt: Venedig und das Patriziat
Jan-Henrik Witthaus (Kassel): Moderation
Rembert Eufe (München): Non s’a degniato mai à scriver una letera in termene de sie ani – Venedig und das Venezianische im Mittelmeerraum
Nikola Roßbach (Kassel): Moderation
Marita Liebermann (Eichstätt-Ingolstadt/Venedig): Venedig und der Massentourismus – kultursemiotische Perspektiven auf einen polarisierenden Diskurs
Anmerkungen:
1 Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, 3. Aufl. Frankfurt am Main 2013 (1. Aufl. 2009), S. 73.
2 Rembert Eufe, „Sta lengua ha un privilegio tanto grando“. Status und Gebrauch des Venezianischen in der Republik Venedig, Frankfurt am Main 2006.
3 Ders., In latino et greco sermone. Verwaltung und Sprachen im venezianischen Kreta (1204 –1669), in: Oberste, Jörg / Ehrich, Susanne (Hrsg.): Italien als Vorbild? Ökonomische und kulturelle Verflechtungen europäischer Metropolen am Vorabend der ‚ersten Globalisierung‘ (1300-1600), Regensburg 2019, S. 61-85.
4 Jonathan Culler, Semiotics of tourism, in: American Journal of Semiotics 1 (1981), S. 127-140.