HT 2021: „Von unten“. Deutungskämpfe um die historiographischen Aufbrüche von den 1960er zu den 90er Jahren

HT 2021: „Von unten“. Deutungskämpfe um die historiographischen Aufbrüche von den 1960er zu den 90er Jahren

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Rüdiger Graf, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die geschickt im Schnittfeld von Geschichtstheorie, Historiographiegeschichte und Zeitgeschichte angesiedelte und gut besuchte Sektion widmete sich der Entstehung geschichtswissenschaftlicher Strömungen, die seit den 1960er-Jahren versuchten, eine Geschichte „von unten“ sowohl gegen die klassische Politik- als auch gegen eine strukturalistisch argumentierende Sozialgeschichte zu etablieren. In international vergleichender Perspektive konzentrierte sich BRIGITTA BERNET (Zürich) auf die italienische Microstoria, BENJAMIN ZACHARIAH (Trier) untersuchte die Entwicklung der Subaltern Studies in Indien und ETTA GROTRIAN (Bremen) präsentierte die Debatten um die Geschichtswerkstätten in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei fragten alle Vortragenden nach dem Verhältnis von Politizität und Wissenschaftlichkeit in mikrogeschichtlichen Ansätzen, denen sie als „Aufbrüche“ grundsätzlich positiv gegenüberstanden, die aber schon zeitgenössisch umstritten waren und es bis heute sind.

Brigitta Bernet eröffnete das Panel, indem sie einen augenscheinlichen Widerspruch diagnostizierte: Während der Cultural Turn von seinen Gegner:innen als Entpolitisierung der Geschichtswissenschaft kritisiert worden sei – vor allem im Gegensatz zu einer Sozialgeschichte mit politischem Anspruch – hätten die Begründer:innen der Mikrogeschichte in Italien diese als dezidiert politisches Projekt begriffen. Überzeugend zeigte sie, dass es die Unzufriedenheit mit der Politik der Kommunistischen Partei und den von ihr präferierten Geschichtsdeutungen war, welche im Kontext der Neuen Linken, des Operaismo und des Feminismus in neue historiographische Praktiken umgesetzt wurde. Wenn Mikrohistoriker:innen die vormals als rückständig betrachtete Volkskultur vor allem des italienischen Südens im Sinne einer alternativen Gegenkultur umdeuteten, sich mit dem Alltag von Fabrikarbeitern oder den Erfahrungswelten von Frauen beschäftigten, argumentierte Bernet plausibel, war das nicht nur als historiographische, sondern immer zugleich auch als politische Intervention gedacht. Insofern der Cultural Turn also zumindest in seinen Anfängen in Italien ein politisches Projekt war, schlug sie vor auch die politischen Implikationen des Cultural Turns insgesamt in wissensgeschichtlicher Perspektive neu zu reflektieren.

Aus Italien kam mit Antonio Gramscis Gefängnisnotizheften auch der entscheidende Impuls für die Entwicklung der Subaltern Studies in Indien, die großen Einfluss auf die Entstehung des Postkolonialismus hatten. Die Veränderung der Subaltern Studies nahm Benjamin Zachariah in seinem auf Englisch gehaltenen Vortrag in den Blick. Dabei zeigte er, wie Gramscis Figur des Subalternen im indischen Kontext als „autonomous peasant“ gedacht worden sei, dessen Kultur die Herrschaftsstrukturen des kolonialen Staates nicht erreicht hätten. Unter dem Einfluss des Sino-Soviet-split habe sich auch die marxistische Bewegung in Indien gespalten und die Frage einer Bauernrevolution an Bedeutung gewonnen. In der Folge hätten sich die Subaltern Studies aber von der Beschäftigung mit der tatsächlichen Landbevölkerung entfernt und stattdessen die Figur eines „generic peasant“ konstruiert, der als Antithese zur Modernität begriffen und als abstrakte Widerstandsressource gegen den Kolonialismus gedacht wurde.

Abschließend referierte Etta Grotrian über die Arbeit der Geschichtswerkstätten in der Bundesrepublik, die in den 1980er-Jahren die Lokal- und Alltagsgeschichte vor Ort erforschen wollten. Diese Geschichtsbewegung habe sich nicht nur thematisch und methodisch von der akademischen Geschichtswissenschaft abgrenzen, sondern auch personell von ihr unterscheiden wollen durch ein partizipativeres Modell der kollektiven Gedächtnisbildung. Grotrian zeigte, wie die Kritik der in den 1980er-Jahren schon klassisch gewordenen Sozialgeschichte an der Theorieferne und methodischen Unterreflexion der Alltagsgeschichte den Alltagshistoriker:innen als willkommene Vorlage diente. Denn sie beanspruchten, nicht nur Bereicherung der, sondern vielmehr eine fundamentale Alternative zur akademischen Geschichtswissenschaft zu sein. Die Politizität der Geschichte von unten habe nicht zuletzt darin bestanden, Vorgänger des eigenen alternativen Lebens zu finden und die Erinnerung an die politischen Bewegungen der Gegenwart durch die Gründung von Archiven zu bewahren.

Aufgrund der vorbildlichen Zeitdisziplin und der Tatsache, dass die Zoomsitzung im Unterschied zu den anderen Historikertagssektionen nicht zum eigentlich vorgegebenen Ende unterbrochen wurde, ergab sich ausreichend Zeit zur Diskussion, die Lutz Raphael moderierte, indem er ausgewählte Fragen aus dem Chat an die Vortragenden richtete. Diskutiert wurden sowohl die räumlichen Bezüge der Geschichte von unten – inwiefern unter ihrer Ägide traditionelle Vorstellungen von Heimat und Region eine Renaissance erlebten – als auch die genaue Konzeptionalisierung der sogenannten einfachen Leute oder des Volkes, die im Zentrum der Geschichte von unten stehen sollten. Während Brigitta Bernet hier am Beispiel von Philippe Ariès auf mögliche begriffliche Übergänge zwischen der politischen Rechten und Linken verwies, brachte Benjamin Zachariah das Problem auf den Punkt, das entstand, wenn die einfachen Leute, deren Stimmen man auf der politischen Linken eigentlich zu Gehör bringen wollte, nicht das sagten, was man gerne hören wollte. Darüber hinaus wurden weitere Vergleichsperspektiven eingefordert, etwa zum relativen Stellenwert des Feminismus in den verschiedenen nationalen Geschichtsbewegungen, zum deutsch-deutschen Vergleich oder zur Transformation der Mikrogeschichte in globalgeschichtlicher Perspektive.

Ambivalent blieb das überaus instruktive Panel bei der Beantwortung der zentralen Frage nach der Politizität der Geschichte von unten bzw. des Cultural Turns insgesamt. Hier scheint mir im eigentlichen Sinne kein Widerspruch zu bestehen zwischen der These einer Entpolitisierung durch stärker kultur- und alltagsgeschichtliche Perspektiven, die inzwischen weit über die Mikrogeschichte hinausgehen und zu einer Ausweitung dessen geführt haben, was historiographisch möglich ist, und dem Anspruch vieler Mikro-, Alltags- und Kulturhistoriker:innen, ihre Projekte seien politisch. Vielmehr liegen der Entpolitisierungsdiagnose und der Politizitätsbehauptung unterschiedliche Begriffe des Politischen zugrunde, die in der Sektion noch expliziter hätten reflektiert werden können. So hat sich in der jüngeren Zeitgeschichte das Verständnis dessen, was politisch ist, stark gewandelt und ausgeweitet. Für diese Veränderungen waren nicht zuletzt die sozialen Bewegungen verantwortlich, auf deren Aktivität auch die „historiographischen Aufbrüche“ seit den 1960er-Jahren zurückgingen, wenn sie etwa auch das Private als politisch ausriefen. In diesem Sinne ist Brigitta Bernets Plädoyer zuzustimmen, dass die Politizität der verschiedenen historiographischen Turns in Zukunft noch näher ausgeleuchtet werden kann und muss, wofür die Sektion sehr gute und willkommene Ansätze entwickelt hat.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Brigitta Bernet (Zürich), Benjamin Zachariah (Trier), Lutz Raphael (Trier)

Lutz Raphael (Trier): Einführung und Moderation

Brigitta Bernet (Basel): Mikrogeschichte. Die Politik einer historiographischen Perspektive

Benjamin Zachariah (Trier): Arguing with Gramsci in India: The Struggle Around Subalternity

Etta Grotrian (Bremen): Barfuß oder Lackschuh? – Die alltagsgeschichtliche Perspektive in den bundesdeutschen Geschichtswissenschaften und der „neuen Geschichtsbewegung“ der 1980er Jahre


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Deutsch
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