HT 2021: Kinder in prekären Verhältnissen. Deutungskämpfe um Zugehörigkeit und Identität nach 1945

HT 2021: Kinder in prekären Verhältnissen. Deutungskämpfe um Zugehörigkeit und Identität nach 1945

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Lena Jur, FB06 - Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg

Das 20. Jahrhundert wurde im Jahre 1909 von der schwedischen Reformerin Ellen Key zum „Jahrhundert des Kindes“ ausgerufen. Sie war überzeugt, dass es in diesem Jahrhundert radikale Veränderungen bezüglich der Art und Weise, wie Kinder wahrgenommen und behandelt werden, geben würde und dass das Wohlergehen von Kindern und deren Rechte sowohl politische als auch soziale Priorität erhalten würden. Die Bedeutung, die Kindern gesellschaftlich beigemessen wird, gehört zu den wichtigsten Themen der Kindheitsgeschichte, wobei die Betrachtung von Kindheit(en) eine aufschlussreiche Grundlage bieten kann, um historische Gesellschaften und deren inhärente Strukturen und Logiken besser zu verstehen.

Doch auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg sind Deutungskämpfe um die Zugehörigkeit von Kindern in Spannungsfeldern zu beobachten, die von Konflikten im familiären Umfeld bis hin zu Fragen der nationalen Zugehörigkeit reichen. Während Kindheit auf den ersten Blick vielleicht mit einer idealisierten Vorstellung von Unschuld und Freude verbunden sein mag, wird schon bei genauerem Hinsehen deutlich, dass eine (geschichts-)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themenfeldern der Kindheit noch einige genauere Herangehensweisen benötigt. Denn Kinder in sogenannten „prekären Verhältnissen“ waren in einem besonderen Ausmaß von diesen Deutungskämpfen betroffen.

Dieser Aspekt wurde in der von BETTINA HITZER (Dresden) und BENEDIKT STUCHTEY (Marburg) organisierten Sektion zur Kindheit in prekären Verhältnissen nach 1945 auf dem diesjährigen Historikertag aus unterschiedlichen regionalen Perspektiven beleuchtet. Fragen nach nationalen, politischen und ökonomischen Interessen und dem Wissen über kindliche Entwicklung und Identitätsbildung bildeten den Leitfaden, der sich durch die Beiträge zum Verlauf und Ausgang von Auseinandersetzungen um prekäre Kindheiten und deren Wandel in der Zeit zwischen 1945 und 1990 zog.

Der sektionseinleitende Vortrag von FRIEDERIKE KIND-KOVÁCS (Dresden) spannte einen weiten zeitlichen Bogen und untersuchte Kindertransporte, die im Rahmen der internationalen europäischen Kriege stattfanden. Hierbei ging Kind-Kovács der Frage nach, inwiefern die Erfahrungen der Kinder im Rahmen dieser Transporte als eine Form nicht-physischer Gewalt verstanden werden können, auch wenn diese Evakuierungsmaßnahmen häufig aus einer „humanitären“ Motivation heraus erfolgten und die Kinder vor Leiden wie Krieg, Hunger, Naturkatastrophen und Konflikten bewahren sollten. Dennoch hatten diese Evakuierungen unvorhergesehene Folgen, die in manchen Fällen zur Abspaltung und Desintegration der Kinder von ihren Familien, sozialen Umfeldern, Kulturen, Muttersprachen und Beziehungen führten. Da die meisten Kinder die Emigrationsentscheidung nicht selbstständig fällten, seien Evakuierungen laut Kind-Kovács auch ein Beispiel für die begrenzte agency von Kindern in Krisenzeiten, die zu einer erhöhten Vulnerabilität führe.

Im Anschluss näherte sich SILKE HACKENESCH (Köln) den Fragen nach Verantwortung und Zugehörigkeit von Kindern in unsicheren Verhältnissen am Beispiel afrodeutscher Kinder, von denen ein Teil zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den frühen 1960er-Jahren in die USA adoptiert wurden – häufig von afroamerikanischen Familien. Diese Adoptionen bildeten eine der ersten Kohorten transnationaler Adoptionen aufgrund der Hautfarbe, weshalb sich nach Hackeneschs zentraler These in der Debatte um ebendiese Adoptionen etliche Diskurse, die in diesem Zeitraum verhandelt wurden, bündeln würden. Hackenesch sprach hier der engen Verzahnung von racial identity und national belonging – sowohl in Deutschland als auch den USA – eine zentrale Rolle zu. In diesen Diskursen um die sogenannten brown babies wurden immer wieder ihre nationale Zugehörigkeit sowie ihre racial identity in Frage gestellt. Gleichzeitig boten die öffentlich geführten Debatten, Hackenesch zufolge, eine Möglichkeit für Afroamerikaner:innen, sich als verantwortungsvolle Staatsbürger:innen mit Interesse an internationalen Geschehnissen zu inszenieren, womit zentrale Aspekte einer „responsible citizenship“ zur Zeit des Kalten Krieges angesprochen wurden.

Auch der folgende Beitrag nahm weiter gefasste Entwicklungen in den Blick, die anhand von Adoptionsprozessen analysiert werden können. FRANK HENSCHEL (Kiel) nahm seine Untersuchungen zur Kindsadoption in der sozialistischen Tschechoslowakei als Spiegel, um Vorstellungen von Kindheit, Familie und Nation herauszuarbeiten. Die Positionierung des Forschungsgegenstandes Adoption im Kontext einer sozialistischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert biete laut Henschel vielversprechende Forschungsperspektiven, da die kommunistischen Regierungen dieser Staaten die Institution der Familie rhetorisch wie praktisch gegenüber dem Kollektiv und dem Staat abwerteten, was dazu führte, dass die Unterbringung in Heimen als bevorzugte Form der Fürsorge für „Kinder ohne Eltern“ wahrgenommen wurde. Dieses Ideal musste jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg rasch an die Alltagsrealitäten angepasst werden, weswegen Adoptionen durchaus stattfanden. Gerade zu Beginn der 1960er-Jahre entstand eine breite Kontroverse um den Verbleib von Kindern in Heimeinrichtungen, die vor allem von Psycholog:innen vorangetrieben wurde. In diesen Diskursen spiegelten sich zentrale Problematisierungen von Kindheit, Familie, Mutterschaft, Erziehung, Fürsorge und sozialen Beziehungen.

BARBARA STELZL-MARX (Graz) widmete sich in ihrem Beitrag ebenfalls – wie schon im zweiten Vortrag der Sektion – der Frage nach Besatzungskindern. In diesem Falle lag der Fokus jedoch auf Österreich. Der Vortrag thematisierte die Suche erwachsener Besatzungskinder nach dem oft unbekannten Vater und untersuchte anhand mehrerer Biografien zentrale Lebensthemen sowjetischer Besatzungskinder in Niederösterreich. Die Kinder sowjetischer Besatzungssoldaten und österreichischer Mütter wuchsen nahezu ausnahmslos ohne ihre leiblichen Väter auf, was laut Stelzl-Marx zu einer doppelten Stigmatisierung führte: So hatten diese Kinder nicht nur die „falschen“ Väter, die vor kurzem noch Feinde gewesen waren, sie wurden zusätzlich in den meisten Fällen außerehelich geboren. Dennoch entwickelten einige der untersuchten Kinder trotz – oder möglicherweise auch gerade wegen – ihrer erschwerten Lebensbedingungen eine besondere Widerstandsfähigkeit. Zusätzlich habe sich in den vergangenen Jahren einiges an den Rahmenbedingungen geändert, was zu einer gewissen Enttabuisierung und somit auch einer offeneren Auseinandersetzung mit dieser Thematik führte. Dieser neu entstandene Austausch ermöglichte nicht nur gegenseitige Unterstützungsmöglichkeiten bei der Suche nach den eigenen Wurzeln, sondern bot zugleich die Chance für Betroffene, ein neues Selbstverständnis als „Besatzungskind“ zu entwickeln.

Der letzte Vortrag der Sektion, gehalten von THOMAS LINDENBERGER (Dresden), kehrte inhaltlich zu Adoptionsprozessen und den damit verbundenen Deutungskämpfen zurück. Lindenberger stellte die Ergebnisse einer in den Jahren 2017/2018 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam durchgeführten Vorstudie über „Dimensionen und wissenschaftliche Nachprüfbarkeit politischer Motivation in DDR-Adoptionsverfahren, 1966-1990“ vor. Alltagssprachlich würden diese Fälle mitunter als „Zwangsadoption“ bezeichnet, wohingegen Lindeberger für die Verwendung des Begriffs „politisch motivierte Adoption“ plädierte. Eine zentrale Schwierigkeit, mit der sich die Studie konfrontiert sah, war die Erkenntnis, dass die Jugendhilfe im SED-Staat in erster Linie – ähnlich wie in Westdeutschland und in anderen demokratischen Wohlfahrtstaaten –mit dem Argument des Kindeswohls in Familien intervenierte. So waren die meisten Fälle, in denen interveniert wurde, nicht für sich genommen systemspezifisch. Entscheidend für die DDR sei jedoch die Tatsache, dass die Adoption eines Kindes auch ohne Gerichtsbeschluss erfolgen konnte, was im Extremfall dazu führte, dass keine rechtliche Handhabe zur Verfügung stand, um Willkür und Missbrauch entgegenzuwirken. Allein das Wissen um diesen Zustand könne laut Lindenberger dazu geführt haben, dass die erzwungene Adoption als Repressionsinstrument eingesetzt wurde – auch wenn in der Vorstudie zunächst nur vereinzelte Fälle nachgewiesen werden konnten.

ANDREAS GESTRICH (Trier) verwies in seinem abschließenden Kommentar auf das Paradox, dass Ellen Key, als sie das Jahrhundert des Kindes ausrief, noch nichts von den Leiden der Kinder während der beiden Weltkriege und den damit verbundenen Umbrüchen geahnt habe. Gestrich arbeitete die „Dislokation“, die Herausnahme von Kindern aus prekär (wahrgenommenen) Situationen, als ein verbindendes Element aller Vorträge heraus. Ein weiteres durchgehendes Thema sei die Verwissenschaftlichung des Sozialen, die sich beispielsweise in der Popularität von Bowlbys Theorien zur kindlichen Bindung über die unterschiedlichen Grenzen und Systeme hinweg widerspiegele. Für besonders wichtig hielt der Kommentator jedoch die Entwicklungen auf der rechtlichen Ebene, wobei er insbesondere auf die internationale Kodifizierung von Kinderrechten wie in der UN-Erklärung der Rechte des Kindes von 1959 verwies. Diese Kodifizierungen hätten zu einer Einklagbarkeit dieser Rechte geführt, womit auch ein Wandel der sozialen Stellung von Kindern auf rechtlicher Ebene einherging.

In der anschließenden Diskussion wurden insbesondere die Fragen um den Kindeswohlbegriff und dessen rechtliche Rahmenbedingungen aufgenommen und in einen erweiterten Kontext eingebettet. So wurde zur Debatte gestellt, ob mit diesen rechtlichen Kodifizierungen tatsächlich die Rechte der Kinder gestärkt wurden oder ob hier vielmehr eine Stärkung der Elternrechte stattgefunden habe. Gerade die Parallelität zwischen der zu beobachtenden Verrechtlichung nach dem Zweiten Weltkrieg und dem dazu im starken Kontrast stehenden alltäglichen Erleben von Kindern wurde hervorgehoben. Zusätzlich wurde auf den Einfluss von wissenschaftlichem Wissen auf diese Kodifizierungsprozesse sowohl im Vorfeld als auch in der Aushandlung und Umsetzung verwiesen. Die Unterschiede zwischen Ost und West erschienen hier als nicht so groß wie ursprünglich angenommen.

Zusammenfassend hat die Sektion das große Potential der Kindheitsgeschichte und ihrer mannigfaltigen Untersuchungsgegenstände für unterschiedliche Teilbereiche der Geschichtswissenschaft von der Politik- und Demokratiegeschichte über die Wissensgeschichte bis hin zur Sozialgeschichte deutlich gemacht. So wurden Adoptionen in der Abschlussdiskussion als eine Art Prisma gekennzeichnet, das in viele Richtungen ausstrahlt und mit Hilfe dessen man sich unterschiedlichsten Fragen von Religiosität über „race“ bis hin zu Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit und Herkunft nähern könne.

Es soll an dieser Stelle jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass sich die „Kindheitsgeschichte“, die hier und auch in den meisten Publikationen zu diesem Thema geschrieben wird, weitestgehend auf Kinder und Kindheiten in Europa und/oder Nordamerika beschränkt. Die Vorstellung von einer geschützten und auf das Lernen fokussierten Kindheit entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika und prägt bis heute das Konzept von Kindheit im modernen westlichen Denken, das im Umkehrschluss auch die Geschichtswissenschaft geprägt hat.1

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Bettina Hitzer (Dresden) / Benedikt Stuchtey (Marburg)

Friederike Kind-Kovács (Dresden): Displaced Childhoods: Children’s Transports in the Face of Europe’s International Wars

Silke Hackenesch (Köln): National Belonging und Racial Responsibility: Transnationale Adoptionen von Deutschland in die USA nach 1945

Frank Henschel (Kiel): Adoption in der sozialistischen Tschechoslowakei als Spiegel der Vorstellungen von Kindheit, Familie und Nation

Barbara Stelzl-Marx (Graz): Eine Frage der Identität. Besatzungskinder in Österreich und ihre Suche nach dem unbekannten Vater

Thomas Lindenberger (Dresden): „Zwangsadoptionen“ und „gestohlene Kinder“: Ostdeutsche Deutungskämpfe um den Kindesentzug im SED-Staat

Andreas Gestrich (Trier): Kommentar

Anmerkung:
1 Martina Winkler, Kindheit als Konzept aus historischer Perspektive, in: Handbuch Philosophie der Kindheit, Stuttgart 2019, S. 9-17, hier: S. 14.


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