Strukturbildungen in langfristigen Konflikten des Spätmittelalters / Structural formations in the protracted conflicts of the Late Middle Ages (1250-1500)

Strukturbildungen in langfristigen Konflikten des Spätmittelalters / Structural formations in the protracted conflicts of the Late Middle Ages (1250-1500)

Organisatoren
Institut für Hilfswissenschaften und Archivkunde, Masaryk-Universität Brünn / Zentrum für Mittelalterstudien, Tschechische Akademie der Wissenschaften zu Prag
Ort
digital (Brno)
Land
Czech Republic
Vom - Bis
09.12.2021 - 10.12.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Oertel, Erfurt

Die Tagung zu Strukturbildungen in langfristigen Konflikten des Spätmittelalters war eine von mehreren in den letzten Monaten und Jahren durchgeführten Tagungen und Kolloquia des Projekts „From Performativity to Institutionalisation: Handling Conflict in the Late Middle Ages (Strategies, Agents, Communication)“ , dass in Kooperation zwischen dem Institut für Hilfswissenschaften und Archivkunde der Masaryk-Universität Brünn und dem Zentrum für Mittelalterstudien der Tschechischen Akademie der Wissenschaften zu Prag durchgeführt wird. Die beiden Projektleiter, KLARA HÜBNER (Brünn) und PAVEL SOUKUP (Prag), führten zusammen die Tagungsteilnehmerinnen in das Thema ein und machten klar, dass die zu untersuchenden langfristigen Konflikte genau zu definieren seien und vor allem drei zentrale Kriterien zu erfüllen hätten. Um sich als Untersuchungsgegenstand zu qualifizieren müsse ein Konflikt (1) auf einem ideellen Basiskonflikt beruhen, der nicht mit gängigen Mittel der Konfliktlösung behoben werden könne, er müsse (2) von unbestimmter Dauer, vor allem aber von einem Wechsel aus „heißen“ und „kalten“ Phasen der Verschärfung charakterisiert sein und er müsse (3) strukturelle Spuren auf mehreren Ebenen hinterlassen.

Nach der Einführung in die Tagung begann JEAN-MARIE MOEGLIN (Paris) die Reihe der Vorträge passenderweise mit der Vorstellung und Interpretation eines Konfliktes, der seine Langfristigkeit bereits im Namen führt und von vielen auch sicher spontan zuerst als eine der wichtigsten lang anhaltenden Auseinandersetzungen des Spätmittelalters genannt werden würde: der sogenannte Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England. Er charakterisierte ihn als einen Konflikt, der vor allem dadurch gekennzeichnet gewesen sei, dass immer wieder – und letztendlich erfolglos – nach Lösungsmöglichkeiten gesucht wurde. Bezeichnend dafür, dass auch nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen der Basiskonflikt noch nicht gelöst werden konnte, sei z.B. die Tatsache, dass die englischen Könige bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts den Titel des Königs von Frankreich weiter führten und damit deutlich machten, dass sie den Anspruch, der der Auseinandersetzung zugrunde lag, bis in diese Zeit hinein nicht aufgegeben hatten.

Die mit diesem Vortrag eröffnete „Sektion I: Konfliktsysteme“ wurde von CHRISTINA LUTTER (Wien) fortgesetzt. Sie zeigte, wie sich während des langen 15. Jahrhunderts Konflikte innerhalb der Habsburger Dynastie und innerhalb des Wiener Bürgertums (die z.T. auch auf das städtische Umland ausstrahlten) gegenseitig durchdrangen und stabilisierten. SITA STECKEL (Münster) erweiterte das Spektrum der vorgestellten Konflikte um die Streitigkeiten zwischen verschiedenen religiösen Orden um die beste Form der Christusnachfolge; ein Konflikt, der seine „heißen“ Phasen verlässlich immer dann erlebte, wenn sich eine neue religiöse Bewegung in Form eines oder mehrerer neuer Orden in die zunehmende Vielfalt der monastischen Lebensformen einzufügen versuchte.

Die „Sektion II: Recht im Konflikt“ begann mit den Vorträgen von CHRISTIAN JASER (Klagenfurt) und ALEXANDRA KAAR (Wien), die sich beide im Spannungsfeld zwischen Wirtschafts- und Kirchengeschichte bewegten. Während der erste der beiden Beiträge wirtschaftliche Sanktionen des Papsttum im Kampf gegen städtische Emanzipationsbestrebungen thematisierte, wurde im zweiten Vortrag das katholische Handelsverbot gegen die Hussiten diskutiert, dass parallel zu den „heißen“ und „kalten“ Phasen der Hussitenkriege mehr oder weniger intensiv eingeschärft und geahndet worden sei. MARTIN KINTZINGER (Münster) eröffnete den zweiten Tagungstag mit seinem Vortrag, der die Perspektiven der Gelehrten- und der Diplomatiegeschichte zusammenführte, indem er an einer Reihe von Quellen vorführte, dass diplomatische Auseinandersetzungen immer in einem gelehrten Diskurskontext geführt wurden. Ein solcher sei in langfristigen Auseinandersetzungen besonders wichtig gewesen, um die Eskalation von Konflikten möglichst zügig auf der Basis einer Konflikttheorie wieder einhegen zu können. Die Sektion wurde von CLAUDIA GARNIER (Vechta) geschlossen, die sich – komplementär zum Vortrag von Christian Jaser – mit den geistlichen Waffen beschäftigte, welche die Kölner Erzbischöfe in ihrem Dauerkonflikt mit der Stadt Köln einsetzten.

Zu Beginn der „Sektion III: Konfliktkommunikation und Ordnungssicherung“ wandte CHRISTINE REINLE (Giessen) das Forschungsparadigma der „Versicherheitlichung“ auf die Kommunikation rund um die Hussitenkriege an und zeigte vor allem auf der Grundlage von Quellen hussitischen Ursprungs mit welchen Mitteln und auf welche Art und Weise die katholische Seite im Konflikt von der hussitischen als Bedrohung dargestellt wurde. JULIA BURKHARDT (München) widmete sich dem Konflikt zwischen Kaiser Friedrich III. und dem ungarischen König Matthias Corvinus, die über Jahrzehnte um die Vorherrschaft in Mitteleuropa konkurrierten. Sie analysierte Legitimationsstrategien, Aushandlungsmechanismen und Deutungsmuster des Konflikts und argumentierte, dass er eine strukturbildende Wirkung für die Kommunikationsmechanismen der Region während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gehabt habe. Zum Abschluss beschäftigte sich UWE TRESP (München) mit einer Reihe von Verträgen und Maßnahmen Karls IV. und damit, wie langfristig gültige Verträge unter seinen Nachfolgern neue und von den ursprünglich vertragsschließenden Parteien nicht beabsichtigte konfliktive Wirkungen entfalten konnten. PETR ELBEL (Brünn) fasste die Diskussionen und Ergebnisse der Tagung zusammen.

Insgesamt bemerkenswert war die große thematische und geographische Breite der Vorträge, die jedoch immer die konzeptionellen Vorgaben der Tagung im Auge behielten und jeder für sich einen konstruktiven Beitrag dazu leisteten, den „langfristigen Konflikten“ einen weiteren Aspekt, eine zusätzliche Schattierung über das konkrete Fallbeispiel hinaus hinzuzufügen. In dieser Hinsicht waren sicherlich zwei der Tagung vorausgehende Treffen der Referent:innen hilfreich sowie möglicherweise auch – so ärgerlich sie auch gewesen sein mag – die zweimalige coronabedingte Verschiebung der Veranstaltung.

In der Tagungseinleitung wurden langfristige Konflikte als zweischneidig charakterisiert. Sie seien auf der einen Seite strukturbildend, indem sie zur Identitätsbildung von Gruppen beitrügen. Dieser Aspekt wurde während der Tagung durch mehrere Vorträge belegt. Der Druck von außen festigte z.B. den Zusammenhalt der Hussiten (Soukup, Kaar, Reinle), jenen von Mönchsorden (Steckel) oder Königreichen (Moeglin). Eine Gruppenkohärenz fördernde Wirkung wurde Konflikten bereits von Niklas Luhmann zugeschrieben.1 Dass Konflikte auf der anderen Seite auch ordnungsgefährdend hätten wirken können, wurde weniger deutlich – außer natürlich in dem Fall des klaren Unterliegens einer Konfliktpartei und der daraus folgenden Desintegration derselben. An den vorgestellten Beispielen war zu beobachten dass es offenbar – wie Petr Elbel feststellte – vor allem die Konflikte mit einem religiös motivierten Basiskonflikt waren, die besonders ordnungsstiftend wirkten. Klar wurde auch, dass „langfristig“ im jeweiligen Einzelfall sehr unterschiedliche Zeitspannen zwischen mehreren Jahrzehnten (Burkhardt, Kaar) bis zu einem halben Jahrtausend (Moegelin, Tresp) umfassen konnte.

Sehr diverse Beispiele für langfristige Konflikte im späten Mittelalter kamen im Laufe der Tagung zur Sprache. Neben dem Konflikt zwischen Hussiten und Katholiken (Soukup, Kaar, Reinle), wurden die machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Herrschern, Königreichen und Dynastien (Moeglin, Burkhardt, Tresp), Auseinandersetzungen innerhalb von Dynastien (Lutter), Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der kirchlichen Hierarchie und ihren städtischen Kontrahenten (Jaser, Garnier) und Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern verschiedener Orden bzw. zwischen Laien und Geistlichen (Steckel) thematisiert. Neben dieser Breite der Konfliktbeispiele kann die Vorstellung von verschiedenen Waffen, die eingesetzt wurden, um diese Konflikte zu führen, als weiterer Schwerpunkt der Tagung angesprochen werden. Natürlich sind hier zuerst die generellen Modi von gewaltsamer Konfliktführung und diplomatischer Verhandlung zu nennen. Mehrere Vorträge weiteten aber den Blick auf darüber hinaus gehende Möglichkeiten, den Gegner materiell, sozial oder ideell unter Druck zu setzen. Während z.B. Claudia Garnier in ihrem Vortrag am Beispiel Kölns der Frage nachging, wie scharf das Schwert der Exkommunikation bzw. des Interdikts eine Stadt im späten Mittelalter tatsächlich treffen konnte (oder eben auch nicht), stellte Christian Jaser die wirtschaftlichen Sanktionsmöglichkeiten vor, die dem Papsttum im Konflikt mit opponierenden Städten zur Verfügung standen und die – wie Claudia Garnier in der Diskussion bemerkte – sehr ähnliche Mechanismen beinhalteten wie die Reichsacht. Kaiser Sigismunds Embargopolitik gegenüber dem hussitischen Böhmen wurde von Alexandra Kaar thematisiert. Auch wenn eine Reihe von religiös motivierten Konflikten des Mittelalters durchaus militärisch geführt wurden (z.B. Kreuzzüge, Hussitenkriege), war dies zum Einen keineswegs zwingend der Fall, wie beim Beispiel der Konflikte zwischen verschiedenen religiösen Orden (Steckel). Zum Anderen wurden auch gewalttätige Konflikte regelmäßig publizistisch flankiert. Dem Schwert wurde also in vielen Fällen das Wort als Waffe beigegeben. Mit der Kommunikation und Legitimation von Konflikten beschäftigten sich in ihren Vorträgen schwerpunktmäßig Christine Reinle, Claudia Garnier und Sita Steckel.

Mit der Thematisierung langfristiger Konflikte in ihrem Projekt und ihrer Tagung folgten die Veranstalter dem zuletzt wieder häufiger geäußerten Bedürfnis der Betrachtung von Entwicklungen der longue durée.2 Während der Tagung und durch die konstruktive Mitarbeit der Referentinnen und Diskutanten wurde klar, dass sie mit der „Strukturbildung durch langfristige Konflikte“ ein tragfähiges Konzept vorgelegt haben, das einerseits neue Perspektiven auf historische Ereignisse und Entwicklungen auf sehr verschiedenen Feldern zulässt und das andererseits theoretisch anschlussfähig ist, sowohl an konflikttheoretische Ansätze als auch an Theorien und Methoden, die aus der Politikwissenschaft für die historische Anwendung adaptiert wurden (z.B. die „Versicherheitlichung“ im Vortrag von Christine Reinle). Sita Steckel wies in der Schlussdiskussion zurecht darauf hin, dass hier ein Ansatz vorliege, der nicht einfach ältere essentialisierende Meistererzählungen der longue durée ersetze, sondern einer, in dem die historische Vielstimmigkeit ihren Platz finden könne. Nichtsdestotrotz könnten anhand der Strukturbildungen durch langfristige Konflikte aber Verdichtungspunkte herausgearbeitet werden, an denen diese Stimmen zueinander in Beziehung treten könnten.

Konferenzübersicht:

Klara Hübner (Brünn) / Pavel Soukup (Prag): Einführung

Sektion I: Konfliktsysteme
Moderation: Pavlína Cermanová – Prag

Jean-Marie Moeglin (Paris): Der Hundertjährige Krieg als ewige Suche nach einem unmöglichen Frieden

Christina Lutter (Wien): Konflikt und Allianz. Muster von Zugehörigkeit im spätmittelalterlichen Wien

Sita Steckel (Münster): Diversi et adversi: The cultural productivity of conflict and competition among medieval religious “orders”

Sektion II: Recht im Konflikt
Moderation: Andreas Zajic (Wien)

Christian Jaser (Klagenfurt): Papst vs. Handelsstadt – Zur Anwendung und Wahrnehmung kirchlicher Wirtschaftssanktionen im späteren Mittelalter

Alexandra Kaar (Wien): Das antihussitische Handelsverbot als Beispiel für Strukturbildungen in der hussitischen Kontroverse

Martin Kintzinger (Münster): Der Diskurs der Intellektuellen und die Entstehung des Völkerrechts

Claudia Garnier (Vechta): Konfliktaustrag und spätmittelalterliche (Ex)Kommunikationsräume: das Beispiel der Kölner Erzbischöfe im 13. und 14. Jahrhundert

Sektion III: Konfliktkommunikation und Ordnungssicherung
Moderation: Robert Novotný (Prag)

Christine Reinle (Giessen): Bedrohungskommunikation im Umfeld der Hussitenkriege

Julia Burkhardt (München): Geliebte Feinde. Legitimationsstrategien, Aushandlungsmechanismen und Deutungsmuster des Konflikts zwischen Friedrich III. und Matthias Corvinus

Uwe Tresp (München): Der lange Schatten des Kaisers. Das konfliktreiche Nachleben von Maßnahmen Kaiser Karls IV. zu Friedenssicherung und Herrschaftsausbau

Petr Elbel (Brünn): Zusammenfassung und Schlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Niklas Luhmann, Konflikt und Recht, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1981, S. 92–112.
2 Vgl. z.B. Jo Guldi / David Armitage, The History Manifesto, Cambridge 2014; Sita Steckel, Historicizing the Religious Field. Adapting Theories of the Religious Field for the Study of Medieval and Early Modern Europe, in: Church History and Religious Culture 99 (2019), S. 331–370.


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