Otto Dibelius (1880–1967). Neue Forschungen zu einer protestantischen Jahrhundertfigur

Otto Dibelius (1880–1967). Neue Forschungen zu einer protestantischen Jahrhundertfigur

Organizer(s)
Lukas Bormann, Philipps Universität Marburg; Manfred Gailus, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin
Location
Marburg
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
05.10.2022 - 07.10.2022
By
Michael Heymel, Ev. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN)

Im Rahmen einer internationalen Konferenz präsentierten die Veranstalter Lukas Bormann und Manfred Gailus Beiträge von 16 Wissenschaftler:innen aus Ev. Theologie, Geschichtswissenschaft sowie Kultur- und Religionswissenschaft zu einer neuen Sicht von Otto Dibelius, einer herausragenden Persönlichkeit des deutschen Protestantismus. Mit der von der Fritz Thyssen Stiftung, der Ev. Kirche in Deutschland (EKD) und der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) geförderten Tagung sollte unterstrichen werden, dass die Bedeutung des Protestantismus in Deutschland grundsätzlich neu zu bestimmen ist.

Zuerst berichtete MARTIN STUPPERICH (Hannover) als Zeitzeuge über die Entstehung der Dibelius-Biographie seines Vaters Robert Stupperich. Dessen Würdigung des verehrten Lehrers wurde vom Verlag zunächst zurückgewiesen. Daraufhin übernahm der Sohn die schwierige Aufgabe der Überarbeitung. Zusammen mit seiner Frau, der promovierten Historikerin AMREI STUPPERICH, verfasste er einen erheblichen Teil des Textes. Er habe die neue Selbständigkeit der Kirche ab 1919 als Dibelius‘ Leitthema herausgestellt und dafür gekämpft, das Thema der Judenverfolgung zu erwähnen, da der Vorwurf des Antisemitismus für Robert Stupperich nicht im Blick gewesen sei. Auch 1989, als die Biographie erschien, habe man Dibelius nicht als Antisemit wahrgenommen.

ALBRECHT BEUTEL (Münster) zeichnete Dibelius‘ Werdegang bis zum Ersten Weltkrieg nach und beschrieb ihn als ehrgeizigen Kirchenreformer. In seinem Plädoyer für volkstümliche Predigt in Verbindung mit differenzierter Gemeindeorganisation habe er Impulse Calvins und der Kirche Schottlands aufgenommen. Dabei habe Dibelius sich als moderner Lutheraner verstanden. Preußentum sei für ihn Inbegriff des Deutschen gewesen. Den Ausbruch des Krieges 1914 habe er als „Gottesoffenbarung“ gedeutet. Antisemitismus sei bei ihm in der Kaiserzeit nicht festzustellen.

WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Marburg) kam zu dem Schluss, dass Dibelius‘ Kriegspredigten zwar seelsorgliche Anliegen hätten, aber von nationalistischer Phraseologie geprägt und realitätsfern seien. Als Ideal galt ihm der christliche Staat. Das Kaiserreich als Weltmacht hielt er für lebensnotwendig. Dibelius habe an eine christliche deutsche Sendung geglaubt, den Krieg als gerechten und heiligen Krieg verstanden, in dem Gott als Herr der Geschichte am Werk sei. Bei Kriegsende vertrat er die Dolchstoßlegende und prangerte den Versailler Vertrag als satanisches Konstrukt an.

Für BENEDIKT BRUNNER (Mainz) war Dibelius der am besten informierte Mann der preußischen Kirche, der bis 1933 in sieben Zeitschriften publizierte. Er habe sich für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen eingesetzt und die Menschen aufgerufen, sich um die evangelische Kirche im Widerstand gegen die Entchristlichung zu scharen. In einer stark beachteten Debatte mit Karl Barth habe er die empirische Kirche verteidigt, die Verantwortung für das Volk trage, während Barth Dibelius‘ triumphalistische Haltung kritisierte.

TODD H. WEIR (Groningen), dessen Vortrag MAURICE BACKSCHAT (Münster) miterarbeitet und übersetzt hatte, nahm Dibelius‘ Arbeit in der 1921 gegründeten Apologetischen Zentrale in den Blick. Dibelius habe Karl Barth für einen weltfernen Dogmatiker gehalten, der die Mission der Kirche kaum sehe. Vom rechten Rand konnte er sich schwer abgrenzen. Im Nationalismus sah er positive religiöse Energien, an der apologetischen Front gegen die Kirchen- und Religionspolitik des Nationalsozialismus stand er erst nach 1933. Nach 1945 habe er seine Apologetik im Kalten Krieg fortgesetzt.

LUKAS BORMANN (Marburg) analysierte Dibelius‘ wirkmächtigste Publikation ‚Das Jahrhundert der Kirche‘ (1926). Dessen Adressat sei das protestantische Milieu in Preußen gewesen. Die lutherische Reformation, so Dibelius‘ These, habe die Kirche als eigenständige Institution aufgehoben. In seiner Gegenwart sah Dibelius demgegenüber weltweit einen Bedeutungszuwachs der Kirchen. Die Trennung von Thron und Altar 1918 habe der Kirche neue Chancen zur Verbindung von Kirche und Volk eröffnet, die er in völkischer Terminologie entfaltete.

Nach BRANDON BLOCH (Wisconsin) vertrat Dibelius in der EKD eine traditionell antikommunistische Haltung, während die Bruderräte für eine neue Rolle der Kirche plädierten. Seine Obrigkeitsschrift wurde vom Kreis um Karl Barth abgelehnt, konservative Lutheraner sahen eine Analogie zwischen DDR und Drittem Reich. Durch seinen reaktionären Konservativismus habe Dibelius womöglich Gegenreaktionen gestärkt, die die Transformation der evangelischen Kirche hin zu einer für Demokratie und Gesellschaft aufgeschlossenen Kirche beförderten.

JOLANDA GRÄSSEL-FARNBAUER (Marburg) fokussierte die von Dibelius und Martin Niemöller herausgegebene Schrift ‚Wir rufen Deutschland zu Gott‘ (1937) und kritische Reaktionen zeitgenössischer Leserinnen. Die Verfasser meinten, Frauen hätten sich ihrer biblischen Bestimmung widersetzt, als sie Erwerbsarbeit übernahmen und nach Bildung strebten, denn zuerst seien sie Ehefrauen und Mütter. Agnes von Zahn-Harnack und andere widersprachen. Obwohl viele Frauen in der Bekennenden Kirche (BK) aktiv waren, habe man sich dort zur Frauenfrage ambivalent verhalten. Dibelius habe Frauen keine gottesdienstliche Verkündigung zugestanden und sich stets geweigert, Frauen zu ordinieren.

Nach MANFRED GAILUS (Berlin) begrüßte Dibelius den Machtantritt der Nationalsozialisten und erste Maßnahmen der NS-Judenpolitik. Dibelius‘ antisemitische Haltung sei in der Forschung inzwischen vielfach belegt. Probleme mit den Deutschen Christen habe er erst dann gehabt, als ihm die administrative Macht entzogen wurde. Er wünschte sich ein großes, starkes, autokratisch regiertes Deutschland, lehnte aber das DC-Kirchenregiment ab. Nach 1945 sei im Kontext des Kalten Krieges ein negatives Dibelius-Bild im Osten, ein positives Bild im Westen Deutschlands entstanden.

ANDREAS PANGRITZ (Osnabrück) bezeichnete Dibelius als Antisemit mit gutem Gewissen, der seine Haltung nach 1945 beschönigt habe. Im Rückblick auf die ‚Reichskristallnacht‘ sage er nicht, warum die Kirche damals schwieg, sondern nur, es sei in der BK zur Ehrenpflicht geworden, verfolgten Juden zu helfen. Eine Halbjüdin arbeitete seit 1934 als Sekretärin bei ihm. Schon 1928 gestand er, immer Antisemit gewesen zu sein. Zum Boykott jüdischer Geschäfte schrieb er 1933, Wirtschaftskapital und Presse seien in jüdischen Händen, das Judentum im Ausland mache Stimmung gegen Deutschland. Juden seien eine fremde Rasse, die Ostjuden von zweifelhafter sittlicher Qualität.

MICHAEL HEYMEL (Limburg) wies darauf hin, dass ein Autoritätskonflikt zwischen Dibelius und Niemöller erst ab 1945 ausgetragen wurde, als sie in Leitungsämtern aufeinandertrafen. Beide seien Preußen, überzeugte Monarchisten und heimatlose Nationalprotestanten gewesen, die Hitlers Machtübernahme begrüßten, dann aber in der kirchlichen Opposition zu den DC als zeitweilig Verbündete agierten. Die Treysaer Kirchenkonferenz sei von ihnen kontrovers bewertet worden. Niemöller sah in Dibelius den Verwalter eines kirchlichen Apparats, während sein Antipode ihn als Vertreter einer überholten Minderheitenposition betrachtet habe.

CLAUDIA LEPP (München) hob vier Aspekte von Dibelius‘ Wirken hervor. Im preußischen Bruderrat agierte er als Macher, der alte Strukturen festigte und eine Neuordnung im Sinn der dahlemitischen Bruderräte verhinderte. Dabei habe er auch DC- und NS-Pfarrer übernommen. Er nahm die Rolle des Zeitendeuters wahr, der das Volksleben gestalten wollte, und verglich die Bundesrepublik mit Weimar, die DDR mit dem NS-Staat. Als antikommunistischer Kirchenkämpfer habe er vergeblich gegen die Jugendweihe gekämpft. Schließlich kämpfte er für die deutsche Wiedervereinigung. Ab 1957 durfte er nicht mehr in die DDR einreisen, blieb aber formell bis 1966 Bischof für Ost und West.

Dibelius sei in den 1950er Jahren das Gesicht der evangelischen Kirche gewesen, so HANSJÖRG BUSS (Siegen). Diese habe in der DDR an Rückhalt verloren. Im DDR-Fernsehen sei Dibelius in Erinnerung an Potsdam 1933 als Kalter Krieger dargestellt worden. Das Regime habe ihn als weltanschaulichen Gegner betrachtet, Pressemedien karikierten ihn als „Nato-Bischof“ und Überbringer der H-Bombe. Mit teilweise antisemitischen Klischees habe die DDR-Polemik Dibelius‘ Rückhalt im Westen eher noch gestärkt. Günter Jacob, Generalsuperintendent der Neumark und Niederlausitz, sei zu seinem Gegenspieler geworden. Er hielt nicht an einer einheitlichen EKD fest und wandte sich nach 1960 gegen die auf Dibelius zugeschnittene Grundordnung von Berlin-Brandenburg.

SIEGFRIED HERMLE (Köln) gab einen Überblick über Dibelius‘ Amtszeit als EKD-Ratsvorsitzender. Der Rat sollte leiten und verwalten. Für die Wahl des Vorsitzenden kandidierten 1949 elf Personen, die deutliche Stimmenmehrheit fiel auf Dibelius und Lilje als Stellvertreter. Niemöller war nicht mehr konsensfähig. Für Dibelius habe der Schwerpunkt kirchlichen Lebens bei den Landeskirchen gelegen. Diese wollten keine zentrale Leitung, der Rat müsse nur manchmal öffentlich in ihrem Namen sprechen. In Dibelius‘ insgesamt acht Berichten nahm die Beziehung Kirche-Staat breiten Raum ein. Er sah die Kirche von Bonn geschützt, in der DDR dagegen der Propaganda ausgesetzt. Im Spiel politischer Kräfte dürfe sie sich nicht missbrauchen lassen. In Militärfragen positionierte er sich gegen die Bruderräte, ein Gegensatz, der in Debatten zur Friedensthematik bis heute nachwirke. Die konservative Mehrheit der Ratsmitglieder sei ihm gefolgt.

Der letzte Themenblock weitete den Blick auf Dibelius in internationalen Beziehungen. THEA SULMAVICO (Halle) charakterisierte Dibelius‘ Haltung in der Wiederbewaffnungsdebatte als ambivalent. Auf den Militärseelsorgevertrag (1957) habe die DDR-Presse mit Polemik reagiert. 1949 übte er zwar Kritik am modernen Krieg. Seine Kritik am säkularen Staat habe sich jedoch nur gegen die DDR, nicht gegen die Bundesrepublik gerichtet. Es sei für Dibelius eine Frage der nationalen Ehre gewesen, für die Verteidigung des Vaterlandes zu sorgen. Er beschwor die große Gefahr aus dem Osten. Niemöller und Heinemann warf er politische Propaganda vor und meinte, Lutheraner könnten besser als die Barthianer politische Fragen und Glaubensfragen auseinanderhalten. Den Anspruch des Unpolitischseins habe man Dibelius von beiden Seiten nicht immer abgenommen.

BERND KREBS (Berlin) referierte über Dibelius‘ Versuche, die protestantischen Kirchen in Skandinavien zur Unterstützung der deutschen unierten evangelischen Gemeinden im polnischen Staat zu mobilisieren. Die Gemeinden sollten Teil der altpreußischen Mutterkirche bleiben. Doch die polnische Regierung insistierte darauf, die Kirche als stärkste Organisation der deutschen Minderheit zu kontrollieren. Dibelius fand in den skandinavischen Kirchen nicht die erhoffte Unterstützung. Die evangelischen Gemeinden in Polen, die durch Abwanderung zwei Drittel ihrer Mitglieder (vor 1914: 1 Million) verloren hatten, erhielten finanzielle Unterstützung durch die Reichsregierung. Nach der Machtübernahme richteten die Nationalsozialisten die „deutschen Volksgruppen“ auf die Ziele der NS-Politik aus. Ab 1940 wurden die evangelischen Gemeinden aus dem öffentlichen Wirken verdrängt. Seit Sommer 1945 versuchte Dibelius, die jenseits der Oder-Neiße-Linie verbliebenen deutschen Protestanten zu sammeln.

HARTMUT LEHMANN (Kiel) fragte, ob man jetzt wirklich wisse, wer Dibelius war, und ob das Gehörte sich zu einem neuen Bild zusammenfüge. Erkennbar seien der pragmatische Kirchenfürst, der Mann der politischen Rechten und der Konservative, der die Chance einer Neuorientierung der evangelischen Kirche nach 1945 verpasst habe. Die Frage, was gewesen wäre, wenn er sich vor und nach dem Nationalsozialismus anders verhalten hätte, führte freilich über die historische Forschung hinaus. LEPP und HERMLE bemerkten, in diesem Fall wäre Dibelius nicht in jene kirchlichen Leitungsämter aufgestiegen, die er innehatte.

Positiv vermerkt wurden die Mischung mehrerer Forscher:innen-Generationen und die konstruktive Tagungsatmosphäre, wenn auch bei der Wertung der Biographie von Robert Stupperich und dem Thema Antisemitismus Spannungen spürbar wurden. In Bezug auf Ökumene und Entnazifizierung waren „Lücken“ zu beklagen. Neuigkeitswert hatten die Ausführungen über den kaiserzeitlichen Dibelius, sein Verhältnis zu Weimar, die noch offene Frage des Antisemitismus sowie Dibelius‘ Nachkriegsrolle zwischen Ost-Polemik und langsamem Abrücken von ihr. Alle Tagungsbeiträge werden publiziert.

Konferenzübersicht:

Lukas Bormann (Marburg), Manfred Gailus (Berlin): Begrüßung und Einführung

I. Zur Forschungsgeschichte

Martin Stupperich (Hannover): Die Entstehung der Dibelius-Biographie von Robert Stupperich (1989)

II. Mentale Prägungen in der Kaiserzeit

Albrecht Beutel (Münster): Der junge Dibelius als Kirchenreformer. Konturen eines kaiserlich-preußischen Gemeindeprogramms

Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg): Otto Dibelius im Ersten Weltkrieg

III. Das „Wächteramt“ der Kirche in der Weimarer Republik

Benedikt Brunner (Mainz): Immer im Dienst. Das öffentliche und publizistische Wirken von Otto Dibelius in der Weimarer Republik

Todd H. Weir (Groningen): Otto Dibelius und 'christliche Weltanschauung' im Kampf gegen Säkularismus und 'Gottlosen'-Bewegung

IV. Dibelius in öffentlichen Debatten

Lukas Bormann (Marburg): Der Visionär. Das Jahrhundert der Kirche (1926)

Brandon Bloch (Wisconsin): Otto Dibelius und seine Schrift „Obrigkeit?“ (1959)

Jolanda Gräßel-Farnbauer (Marburg): Otto Dibelius und seine Haltung zur „Frauenfrage“

V. Nationalsozialismus und „Kirchenkampf“

Manfred Gailus (Berlin): Dibelius im Jahr 1933 und im sogenannten „Kirchenkampf“

Andreas Pangritz (Osnabrück): Otto Dibelius. Sein Bild vom Judentum und sein Antisemitismus

Tetyana Pavlush (Cardiff): Otto Dibelius und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Michael Heymel (Limburg): Antipoden: Otto Dibelius und Martin Niemöller

VI. Nachkriegszeit

Claudia Lepp (München): Das Selbstverständnis und Agieren von Otto Dibelius als Bischof von Berlin (1945–1966)

Hansjörg Buss (Siegen): Die politischen und kirchlichen Gegner des Berliner Bischofs Otto Dibelius (1945–1966)

Siegfried Hermle (Köln): Otto Dibelius als Ratsvorsitzender der EKD (1949–1961) – vornehmlich im Spiegel seiner Rechenschaftsberichte vor der EKD-Synode

VII. Dibelius in internationalen Beziehungen

Thea Sulmavico (Halle): „Nato-Bischof“ oder Mahner für den Frieden? Otto Dibelius in den Debatten um Wiederbewaffnung und NATO-Beitritt.

Bernd Krebs (Berlin): Vom Ende der deutschen Hegemonie im Osten. Otto Dibelius und Polen

Katharina Kunter (Helsinki): Otto Dibelius und die ökumenische Bewegung

Hartmut Lehmann (Kiel): Impulsreferat als Konferenzbeobachter im Rückblick auf die Tagungsbeiträge

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